Kaum etwas blieb
Jüdische Partisanen haben gemeinsam mit der Roten Armee die Stadt Wilna befreit. Kaum etwas ist geblieben vom "Jerusalem des Ostens". Nur einige Handschriften, Bücher, Skulpturen und Leuchter konnten gerettet werden. Abraham Sutzkever zeichnet in "Wilner Diptychon" die Geschichte nach.
Anfang 1942 gebar Abraham Sutzkevers Frau Freydke im Hospital des Gettos von Wilna einen Sohn. Doch die Deutschen, die Litauen im Jahr zuvor besetzt hatten, hatten für Juden ein Gebärverbot erlassen und das Neugeborene wurde mit einer Spritze getötet.
Vier Jahre später berichtete Sutzkever über seine Erlebnisse als Zeuge des sowjetischen Anklägers vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Nach seinem mit Bangen erwarteten Auftritt schrieb er in sein Tagebuch:
"Auf meinen Lippen glühen noch die Wörter, die ich herausgeschrien habe ... Mir ist noch schwer, meine Gefühle abzuwägen. Welches von ihnen ist stärker, das Gefühl der Trauer oder das Gefühl der Rache? Mir scheint, stärker als beide ist das aufleuchtende, mächtige Gefühl, dass unser Volk lebt, seine Henker überlebt hat, und keine finstere Macht ist imstande, uns zu vernichten."
Abraham Sutzkever, der heute in Jerusalem lebt, wurde 1913 im litauischen Smorgon geboren. Als er zwölf Jahre alt ist, stirbt die hochbegabte ältere Schwester an einer verschleppten Meningitis. Sutzkever beschließt, an ihrer Stelle sein Leben der Poesie zu weihen.
Wilna, das heutige Vilnius, wurde das "Jerusalem des Nordens" genannt. Seit dem 17. Jahrhundert war es ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Hier gab es die größten jüdischen Bibliotheken Europas.
1925 wurde das "Jiddische Wissenschaftliche Institut", das YIVO, gegründet, wo die Wissenschaft vom Judentum erstmals in der Sprache des Judentums betrieben wurde. Das YIVO hatte bald Verbindungen in ganz Europa, zu seinen korrespondierenden Mitgliedern gehörten unter anderen Sigmund Freud, Albert Einstein und Marc Chagall. Hier studierte auch Abraham Sutzkever.
Am 22. Juni 1941 erfolgte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, zu der damals auch Litauen gehörte. Sutzkever notierte:
"Als ich am 22. Juni frühmorgens mein Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen."
Mit diesen Worten beginnt sein Bericht über das Getto von Wilna, der jetzt – 63 Jahre nach seinem Entstehen - erstmals vollständig auf Deutsch publiziert wird, von Hubert Witt vorzüglich aus dem Jiddischen übersetzt.
Im Wilnaer Getto wurden 80.000 Menschen zusammengepfercht, von denen nur etwas mehr als 2000 überlebten. Abraham Sutzkever gelang es, sich zu verstecken. Er schrieb um sein Leben:
"An einem der Tage des Abschlachtens saß ich in einer dunklen Kammer und schrieb. Als hätte der Engel der Dichtung mir anvertraut: ‚Du hast es in der Hand. Wird dein Gesang mich begeistern, werde ich dich beschützen mit flammendem Schwert ...’"
Zugleich arbeitete der Dichter für die Partisanen und half, Waffen ins Getto zu schmuggeln.
Als die Experten der SS und des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg in Wilna einfielen, diente das YIVO als Hauptquartier für die Plünderer. Spezialisten wählten 20.000 Inkunabeln für den Abtransport nach Deutschland aus.
80.000 Bücher, die weniger interessant erschienen, wurden an eine Papiermühle verkauft. Thorarollen wurden zu Stiefelfutter verarbeitet, marmorne Grabsteine dienten als Straßenpflaster. Einer der Zwangsarbeiter, die für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg arbeiten mussten, war Sutzkever.
Unter größter Gefahr gelang es ihm, nicht weniger als 5.000 seltene und wertvolle Bücher zu retten. In den von ihm angelegten Verstecken verbarg er auch Handschriften von Scholem Alejchem, Brief von Maxim Gorki und Romain Rolland, Bilder von Marc Chagall und sogar Skulpturen. Heute befindet sich all dies in New York, wo das YIVO nach 1940 neu gegründet wurde.
Im September 1943 gelang es Abraham und Freydke Sutzkever, aus dem Getto in die umliegenden Wälder zu fliehen. Ilja Ehrenburg veranlasste, dass die beiden nach Moskau ausgeflogen wurden. Dort begann Sutzkever mit der Niederschrift seines Berichts, der ein einzigartiges Zeugnis des Holocaust in Litauen ist, geschrieben von einem großen Poeten:
"Als man die 400 Juden aus Wajwari herbrachte – Männer, Frauen und Kinder -, fand sich unter ihnen eine schwangere Frau, die nun gebären musste. Die Frau hat man zusammen mit allen anderen erschossen. Als ihre Körper noch warm waren, trug man die Toten zum Scheiterhaufen, um sie zu verbrennen. Alle waren sie nackt.
Auf der Brust der schwangeren Frau rieselte ein Schnürchen Blut. Ihre Augen waren offen. Es sah aus, als ob sie lebte. Als die Frau von Feuerzungen umfangen wurde, schwamm aus der Gebärmutter das Kind heraus. Eine weiße Flamme umarmte das Kind und vereinte sich mit den Feuerzungen."
Der Bericht sollte Teil eines Schwarzbuches über die Ermordung der sowjetischen Juden sein. Doch die Publikation dieses Schwarzbuches, das Ehrenburg zusammen mit Wassili Grossman herausgeben wollte, scheiterte schließlich an der sowjetischen Zensur. Sutzkever veröffentlichte seinen Bericht separat, unter anderem in Paris und Moskau.
Nur in Deutschland, dem Land der Mörder, erschien er nicht. Umso verdienstvoller ist es, dass der Ammann Verlag dieses Versäumnis nun endlich wett gemacht hat. Ein zweiter Band enthält eine bescheidene Auswahl aus Sutzkevers umfangreichem lyrischen Schaffen. Die beiden Schmerzensbücher sind vielfach aufeinander bezogen. Gemeinsam zeugen sie von einem der größten Dichter des 20. Jahrhunderts und seinem unglaublichen Schicksal.
Als das Nobelkomitee 1978 einen jiddischen Autor mit dem Nobelpreis für Literatur auszeichnen wollte, war Sutzkever lange Zeit Favorit. Am Ende entschied man sich für den populären Erzähler Isaac Bashevis Singer.
Aber wenn es heute noch eine jiddische Literatur gibt, so ist das vor allem das Verdienst von Abraham Sutzkever. In über 30 Sprachen ist sein Werk übersetzt worden. Nun endlich haben auch die deutschen Leser die Gelegenheit, es zu entdecken.
Abraham Sutzkever: Wilner Diptychon (Wilner Getto 1941-1944 / Gesänge vom Meer des Todes)
Prosa und Gedichte, Ammann Verlag, Zürich 2009
Vier Jahre später berichtete Sutzkever über seine Erlebnisse als Zeuge des sowjetischen Anklägers vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Nach seinem mit Bangen erwarteten Auftritt schrieb er in sein Tagebuch:
"Auf meinen Lippen glühen noch die Wörter, die ich herausgeschrien habe ... Mir ist noch schwer, meine Gefühle abzuwägen. Welches von ihnen ist stärker, das Gefühl der Trauer oder das Gefühl der Rache? Mir scheint, stärker als beide ist das aufleuchtende, mächtige Gefühl, dass unser Volk lebt, seine Henker überlebt hat, und keine finstere Macht ist imstande, uns zu vernichten."
Abraham Sutzkever, der heute in Jerusalem lebt, wurde 1913 im litauischen Smorgon geboren. Als er zwölf Jahre alt ist, stirbt die hochbegabte ältere Schwester an einer verschleppten Meningitis. Sutzkever beschließt, an ihrer Stelle sein Leben der Poesie zu weihen.
Wilna, das heutige Vilnius, wurde das "Jerusalem des Nordens" genannt. Seit dem 17. Jahrhundert war es ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Hier gab es die größten jüdischen Bibliotheken Europas.
1925 wurde das "Jiddische Wissenschaftliche Institut", das YIVO, gegründet, wo die Wissenschaft vom Judentum erstmals in der Sprache des Judentums betrieben wurde. Das YIVO hatte bald Verbindungen in ganz Europa, zu seinen korrespondierenden Mitgliedern gehörten unter anderen Sigmund Freud, Albert Einstein und Marc Chagall. Hier studierte auch Abraham Sutzkever.
Am 22. Juni 1941 erfolgte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, zu der damals auch Litauen gehörte. Sutzkever notierte:
"Als ich am 22. Juni frühmorgens mein Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen."
Mit diesen Worten beginnt sein Bericht über das Getto von Wilna, der jetzt – 63 Jahre nach seinem Entstehen - erstmals vollständig auf Deutsch publiziert wird, von Hubert Witt vorzüglich aus dem Jiddischen übersetzt.
Im Wilnaer Getto wurden 80.000 Menschen zusammengepfercht, von denen nur etwas mehr als 2000 überlebten. Abraham Sutzkever gelang es, sich zu verstecken. Er schrieb um sein Leben:
"An einem der Tage des Abschlachtens saß ich in einer dunklen Kammer und schrieb. Als hätte der Engel der Dichtung mir anvertraut: ‚Du hast es in der Hand. Wird dein Gesang mich begeistern, werde ich dich beschützen mit flammendem Schwert ...’"
Zugleich arbeitete der Dichter für die Partisanen und half, Waffen ins Getto zu schmuggeln.
Als die Experten der SS und des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg in Wilna einfielen, diente das YIVO als Hauptquartier für die Plünderer. Spezialisten wählten 20.000 Inkunabeln für den Abtransport nach Deutschland aus.
80.000 Bücher, die weniger interessant erschienen, wurden an eine Papiermühle verkauft. Thorarollen wurden zu Stiefelfutter verarbeitet, marmorne Grabsteine dienten als Straßenpflaster. Einer der Zwangsarbeiter, die für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg arbeiten mussten, war Sutzkever.
Unter größter Gefahr gelang es ihm, nicht weniger als 5.000 seltene und wertvolle Bücher zu retten. In den von ihm angelegten Verstecken verbarg er auch Handschriften von Scholem Alejchem, Brief von Maxim Gorki und Romain Rolland, Bilder von Marc Chagall und sogar Skulpturen. Heute befindet sich all dies in New York, wo das YIVO nach 1940 neu gegründet wurde.
Im September 1943 gelang es Abraham und Freydke Sutzkever, aus dem Getto in die umliegenden Wälder zu fliehen. Ilja Ehrenburg veranlasste, dass die beiden nach Moskau ausgeflogen wurden. Dort begann Sutzkever mit der Niederschrift seines Berichts, der ein einzigartiges Zeugnis des Holocaust in Litauen ist, geschrieben von einem großen Poeten:
"Als man die 400 Juden aus Wajwari herbrachte – Männer, Frauen und Kinder -, fand sich unter ihnen eine schwangere Frau, die nun gebären musste. Die Frau hat man zusammen mit allen anderen erschossen. Als ihre Körper noch warm waren, trug man die Toten zum Scheiterhaufen, um sie zu verbrennen. Alle waren sie nackt.
Auf der Brust der schwangeren Frau rieselte ein Schnürchen Blut. Ihre Augen waren offen. Es sah aus, als ob sie lebte. Als die Frau von Feuerzungen umfangen wurde, schwamm aus der Gebärmutter das Kind heraus. Eine weiße Flamme umarmte das Kind und vereinte sich mit den Feuerzungen."
Der Bericht sollte Teil eines Schwarzbuches über die Ermordung der sowjetischen Juden sein. Doch die Publikation dieses Schwarzbuches, das Ehrenburg zusammen mit Wassili Grossman herausgeben wollte, scheiterte schließlich an der sowjetischen Zensur. Sutzkever veröffentlichte seinen Bericht separat, unter anderem in Paris und Moskau.
Nur in Deutschland, dem Land der Mörder, erschien er nicht. Umso verdienstvoller ist es, dass der Ammann Verlag dieses Versäumnis nun endlich wett gemacht hat. Ein zweiter Band enthält eine bescheidene Auswahl aus Sutzkevers umfangreichem lyrischen Schaffen. Die beiden Schmerzensbücher sind vielfach aufeinander bezogen. Gemeinsam zeugen sie von einem der größten Dichter des 20. Jahrhunderts und seinem unglaublichen Schicksal.
Als das Nobelkomitee 1978 einen jiddischen Autor mit dem Nobelpreis für Literatur auszeichnen wollte, war Sutzkever lange Zeit Favorit. Am Ende entschied man sich für den populären Erzähler Isaac Bashevis Singer.
Aber wenn es heute noch eine jiddische Literatur gibt, so ist das vor allem das Verdienst von Abraham Sutzkever. In über 30 Sprachen ist sein Werk übersetzt worden. Nun endlich haben auch die deutschen Leser die Gelegenheit, es zu entdecken.
Abraham Sutzkever: Wilner Diptychon (Wilner Getto 1941-1944 / Gesänge vom Meer des Todes)
Prosa und Gedichte, Ammann Verlag, Zürich 2009