Kaum gespielte Russen-Oper auf phänomenalem Niveau

Von Stefan Keim |
Im Westen gelten die märchenhaften Opern des Russen Nikolaj Rimski-Korsakow als schwer vermittelbar. Doch das könnte sich schon bald ändern - auch dank einer grandiosen Inszenierung von Korsakows "Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch" in Amsterdam.
15 Opern hat Nikolaj Rimski-Korsakow geschrieben, außerhalb Russlands sind sie selten bis nie zu sehen. Sie behandeln zumeist Märchenstoffe, zitieren russische Volksmusik, als Mitgründer einer Komponistengruppe namens "mächtiges Häuflein" wollte er die nationale Musiktradition bewahren und fortschreiben. Vielleicht gelten die meisten seiner Stücke deshalb im Westen als nur schwer vermittelbar.

Die Niederländische Oper in Amsterdam ist nun angetreten, das Gegenteil zu beweisen. Sie zeigt das viereinhalb Stunden lange Werk "Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und des Mädchens Fevronja" mit einer weitgehend russischen Sängerbesetzung. Und hat außerdem den derzeit namhaftesten russischen Regisseur engagiert, Dimitrij Tscherniakov, der schon mehrfach in München und Berlin inszeniert hat.

Das Orchester zeichnet eine farbenreiche Idylle mit angedeuteten Abgründen. Nikolaj Rimski-Korsakow ist ein Meister der Instrumentierung und schafft gleich zu Beginn eine dichte Atmosphäre. Dirigent Marc Albrecht beginnt am Pult der Niederländischen Philharmoniker die Oper fein und vielschichtig. Auch später meidet er konsequent die sonst oft bei russischen Opern nahe liegende Schwülstigkeit. Geschmeidig passt er sich den Sängern an und lässt die Partitur leuchten.

Die Bühne zeigt Bäume und Gräser, die im Winde wehen, wie ein naturalistisches Gemälde. Fevronja, eine junge Frau, hat sich von der Welt zurück gezogen. In der Wildnis findet sie die Energie, um ihr Lebensziel zu verwirklichen. Sie will allen helfen, die in Not sind.

Die russische Sopranistin Svetlana Ignatovich singt die idealistische junge Frau mit warmem Glühen in der voluminösen Stimme. Fevronja hat sich eine Reinheit des Herzens bewahrt, wie man sie nur im Märchen findet. Sie trifft einen Prinzen, verliebt sich in ihn, folgt ihm in die Stadt, die beiden wollen heiraten. Doch Regisseur und Bühnenbildner Dimitrij Tscherniakov belässt Rimski-Korsakows Oper nicht in der überzeitlichen Sphäre des Fantastischen. Wenn die Handlung in die Stadt wechselt, zeigt der Russe Bilder unserer Gegenwart.

Erst geht es in die Vorstadt von Kitesch, einen Betonmoloch, in dem es sich die Bewohner auf niedrigem Niveau gemütlich gemacht haben. Sie werden angegriffen, von Tataren, wie es im Libretto heißt. Doch die einfallenden Horden sehen eher aus wie ein heutiges Lumpenproletariat. Die Hoffnungslosen erheben sich gegen die Kleinbürger, die komplett Verarmten metzeln diejenigen nieder, die noch etwas haben. Reiche gibt es in Tscherniakows Inszenierung nicht. Die innere Stadt Kitesch ist ein heruntergekommenes Lazarett. Der Putz bröckelt von den Wänden, die Bühne ist mit Feldbetten vollgestopft. Die Utopie einer Heimat für die Rechtschaffenen und Gläubigen versinkt im Alltag eines Flüchtlingslagers.

Dann stürmen die Tataren in die Stadt. Nach Legende und Libretto müsste Kitesch nun unsichtbar werden, weil die reine Jungfrau Fevronja Gott darum bittet. Und die Tataren müssten die Spiegelung der Stadt im Wasser sehen und darauf hin entsetzt fliehen. Doch an diesem Abend bleibt Kitesch sichtbar. Dennoch flüchten die Besatzer plötzlich von der Bühne. Sie haben das Grauen gesehen. Im Hintergrund werden die Leichen der Bewohner sichtbar, der zurück gebliebenen Frauen und Kinder. Sie haben sich getötet im Vertrauen auf ein besseres Leben nach dem Tode. Die Stadt Kitesch ist ein Mythos, sie existiert nur in den Köpfen der Gläubigen.

Dimitrij Tscherniakow zeigt voller Trauer die Religion als letzte Zuflucht der Menschen in Zeiten von Krieg und Armut. Im vierten Akt hat Rimski-Korsakow eine große Erlösungsszene komponiert. Fevronja kehrt zurück in den Wald, trifft dort ihren in der Schlacht gegen die Tataren gefallenen Prinzen wieder, spricht mit den Vögeln, schart ihre Lieben um sich. Sie findet das Paradies, und die Musik klingt wie eine russische Variante von Wagners "Parsifal". Auch hier setzt Regisseur Tscherniakow eine bittere Pointe. Am Ende verblassen die Bilder, Fevronja liegt sterbend unter einem Baum, die Erlösung war eine Fantasie kurz vor dem Tod. Die Regie bohrt in die Tiefenschichten des Märchens, zeigt Eskapismus und Weltflucht. Andererseits bilden die religiösen Träume die einzige Möglichkeit für die Menschen, glücklich zu sterben. Wenn sie schon im Leben keine Hoffnung finden.

"Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch" ist auch eine Choroper. Die melancholischen Melodien hat Chordirigent Martin Wright perfekt einstudiert. Wie überhaupt in Amsterdam auf phänomenalem Niveau gesungen wird. Neben der überragenden Svetlana Ignatovich überzeugt vor allem der britische Tenor John Daszak, einer der wenigen Nicht-Russen im Ensemble. Mit klarem, scharfem Ton und kaum Tremolo singt er Grishka, einen Überlebenskünstler, der das Massaker überlebt und den Tataren hilft. Doch an seinem Verrat zerbricht der kraftvolle Mann, sein Geist versinkt im Wahnsinn.

Das Publikum jubelte vom ersten Moment des Schlussapplauses an im Stehen. Die in allen Belangen grandiose Aufführung ist nach Amsterdam auch in Paris, Barcelona und an der Mailänder Scala zu sehen. Vielleicht trägt sie dazu bei, dass Nikolaj Rimski-Korsakow als bedeutender Opernkomponist auch außerhalb Russlands bekannter wird. Verdient hat er es.