Massieren statt aufschlitzen
Aufschneiden und ausnehmen: Für Stör-Weibchen endet die Kaviar-Gewinnung normalerweise tödlich. Doch jetzt haben Forscher aus Bremerhaven eine neue Methode entwickelt, um an die Delikatesse zu gelangen - bei der die Fische am Leben bleiben.
Dagmar Petzold nestelt an der hellblauen Haube auf ihrem Kopf herum. Immer wieder rutschen ein paar Haare darunter hervor. Irgendwann sind sie alle versteckt. Die blauen Einmalhandschuhe sitzen, die Gummischuhe und den weißen Kittel hat die Aquakultur-Ingenieurin schon in der Umkleide angezogen.
"Jetzt kommt der erste Fisch."
Ein Kollege von Dagmar Petzold bringt ein Störweibchen in den klinisch-weißen, gefliesten Raum. Er packt den sibirischen Stör auf den Tisch – ein Mettallgestell, in das stabile Plane eingespannt ist, damit das Tier nicht auf den Boden rutscht. Der Fisch ist einen guten Meter lang, grau und hat eine lange, platte Schnauze. Er windet und wehrt sich, aber schließlich liegt er auf dem Rücken. Zwei weitere Mitarbeiterinnen helfen, das 10-Kilogramm-Tier auf die Plane zu drücken. Es muss schnell gehen. Der Fisch soll nur ein paar Minuten außerhalb des Wassers verbringen.
"Ich streiche jetzt mit meinen Händen über den Bauch des Tieres und hol somit die Eier raus."
Mit einer Pinzette wird der Eileiter geöffnet
Hannah Urbschat arbeitet bei "Vivace Caviar" als Tierpflegerin. Mit ihren Daumen massiert sie den weichen, gewölbten Bauch des Störweibchens. Gleichmäßig und zügig und immer von vorne in Richtung Schwanzflosse, bis der Fisch aus einer Drüse etwas Wasser und dann die ersten schwarzen Kaviar-Eier herausquetscht.
"Und damit es schnell geht, wird ein bisschen nachgeholfen."
Die Kolleginnen sind ein eingespieltes Team. Dagmar Petzold hält eine Edelstahlschüssel an den Rand der Plane. Hannah Urbschat massiert mit einer Hand den Bauch des Stör-Weibchens, in der anderen Hand hält sie eine Pinzette. Nachdem sie mit einer Fingerspitze vorgefühlt hat, führt sie das Instrument in den Eileiter des Fisches ein; eine kleine, glitschige Öffnung an der Körperunterseite.
"Die Pinzette dient mir nur als Hilfe, damit ich den Eileiter etwas öffnen kann und die Prozedur für das Tier schneller vorüber ist."
Als die Tierpflegerin wieder beide Hände beziehungsweise Daumen frei hat und das Tier damit abstreift – so heißt es im Fachjargon – flutschen weitere millimeterkleine Stör-Eier in die silberne Auffangschüssel.
"Wie viel da genau bei rauskommt, das kann man immer erst sehen, wenn es tatsächlich im Messbecher ist. Aber man kann schon sagen, das ist ein gutes Tier. Da kommt viel raus. Das kann man an der Dicke des Bauches ungefähr erahnen."
Anschließend kommt das Stör-Weibchen zurück ins Wasser
Das Stör-Weibchen, das Hannah Urbschat gerade behandelt, ist mindestens fünf Jahre alt. So lange dauert es, bis es das erste Mal laicht. Bis vor ein paar Minuten schwamm das Tier in einem Vorbereitungsbecken – einem whirlpool-großen Trog. Als das Weibchen erste Eier verlor, war klar: Es ist bereit zum Abstreifen. Nach der Prozedur heute und einem zweiten Abstreifen, um letzte Reste herauszuquetschen, darf sich das Tier erholen. In einem Nachsorge-Becken; gemeinsam mit anderen Stör-Weibchen und mit nahrhaftem Futter. Denn vier Wochen vor der Kaviar-Produktion wird gefastet, damit der Rogen später nicht nach Fischfutter schmeckt.
Das Störweibchen ist erlöst und wird zurück ins Wasser getragen. Dagmar Petzold gießt die abgestreifte Kaviar-Masse in einen großen Messbecher aus Plastik.
"Dieses große Stör-Weibchen hat 1200 ml Eier. Und ich dokumentiere auch die Größe der Eier. Es gibt verschiedene Größen, und die spielen eine Rolle im Verkauf."
Ein paar Meter neben dem Laptop von Dagmar Petzold schaut ein Mitarbeiter aus dem Nebenraum durch eine Durchreiche. Meeno Matthis wartet schon auf die erste Lieferung. Der Biotechnologe arbeitet in der Kaviar-Küche, dem Unternehmensbereich, wo der abgestreifte Kaviar gereinigt, stabilisiert und verpackt wird.
"Kontakt mit Wasser würde ein Verkleben zur Folge haben."
Deshalb spült und siebt Matthis den Kaviar mit Kochsalzlösung, um ihn von Bindegewebe, kleinen Zysten und Körperflüssigkeit zu befreien. Danach folgt die sogenannte Aushärtung - der Behandlungsschritt, den die Bremerhavener Wissenschaftlerin Angela Köhler entwickelt hat.
In einem flachen Becken bewegt ein maschinell angetriebener Arm ein DinA4-großes Sieb mit den frisch abgestreiften Eiern durch eine klare Flüssigkeit. Sie ist das Geheimnis von "Vivace Caviar". Ihre Rezeptur gaukelt den Eiern vor, befruchtet zu werden. Weil sie bestimmte Enzyme aktiviert, wird die äußere Haut des Eis fest.
"In den Behandlungsbecken, in denen sich die Eier nun befinden, findet die Aushärtung statt."
Erst danach ist der Kaviar stabil genug, um verpackt zu werden. 2,50 Euro kostet jedes Gramm - in etwa so viel wie herkömmlich gewonnener Kaviar. Aber: Das Stör-Weibchen, dem vor ein paar Minuten mehr als ein Kilogramm Kaviar abgestreift wurde, schwimmt nebenan weiter lebendig im Wasser.