Kay Dick: "Sie – Szenen des Unbehagens"

Schreckensherrschaft der Anpassung

05:57 Minuten
Buchcover "Sie" von Kay Dick
© Hoffmann und Campe

Kay Dick

Übersetzt von Kathrin Razum

Sie – Szenen des UnbehagensHoffmann und Campe, Hamburg 2022

160 Seiten

16,00 Euro

Von Manuela Reichart |
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Ein autokratisches Regime bekämpft jede Art von Nonkonformismus. Kunst soll ausgerottet, Individualität abgeschafft werden. Kay Dicks literarische Dystopie ist eine Wiederentdeckung – und erschreckend aktuell.
Niemand weiß genau, wann sie kommen, wo sie ihr Zerstörungswerk als nächstes in Szene setzen. Die Erzählerin schließt ihr Haus nicht mehr ab, damit die Eindringlinge die Tür nicht zerstören. Wenn sie abends zurückkehrt, fehlen immer mehr Bücher im Regal, die sie mitgenommen haben.
Sie: Das sind die Schergen, die Handlanger eines Terrorregimes, das es darauf abgesehen hat, die Gesellschaft zu verändern, die Menschen ihrer Emotionen und ihrer intellektuellen Individualität zu berauben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Werk vollendet ist. Niemand kann sich sicher fühlen.

Kunst ist besonders verdächtig

Bibliotheken und Museen werden leergeräumt, Erinnerungsorte zerstört. Alleine leben ist suspekt, Gefühle zeigen ein Vergehen. Vor allem aber ist Kunst, dichten, malen, aber auch lesen, Blumen züchten oder Briefe schreiben erst nicht erwünscht, schließlich verboten.
Postämter werden geschlossen, Fernsehapparate gratis verteilt, über die man nur gleichgeschaltete Programme empfangen kann. Wer ein solches Gerät ablehnt, macht sich verdächtig. Für Abweichler gibt es Zentren, in denen sie behandelt und auf den gewünschten Weg gebracht werden.

Zeitbezüge drängen sich auf

Alle, die anders sind als alle anderen, werden aber nicht nur von Staatswegen bekämpft, sie sind auch bei den Nachbarn unbeliebt: „Wir verkörpern Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“
Die Angst ist diffus, die Schreckensherrschaft allgegenwärtig. Die Mehrheit beugt sich, die Minderheit muss abgeschafft, eingesperrt, getötet werden. Bei dieser atemraubenden Lektüre drängen sich Zeitbezüge ganz von allein auf: Russland mit seinen gleichgeschalteten Medien, die Umerziehungslager in China.

Bei Erscheinen ein Flop

Dieses Buch – kein Roman, wie die Genreeinordnung des Verlags lautet, sondern eine interessante offene Form von miteinander verknüpften Geschichten und Begegnungen einer namenlosen Erzählerin – wurde 1977 veröffentlicht. Kay Dick (1915 -2001) war eine umtriebige und bekannte Autorin und Journalistin, mit Mitte 20 war sie die jüngste Verlagsleiterin Englands. Sie schrieb Romane und Sachbücher, war erfolgreich – und wurde vergessen.
Als „Sie“ 1977 erschien, war das Buch ein Flop, traf nicht den Nerv der Zeit. Das ist heute anders, zumal die Autorin uns mit einer schmerzlichen Ambivalenz konfrontiert: Die Menschen sind nicht eindeutig gut und schlecht, Kollaborateure gibt es überall. Eine der furchtbarsten Episoden ist einem kunstbegeisterten Sammler gewidmet, der den eigenen Sohn opfert, um die Sammlung zu erhalten.

Eva Menasse warnt nicht nur vor Zensur

In ihrem Nachwort betont die Schriftstellerin Eva Menasse, man dürfe es sich nicht leicht machen mit der Lektüre. Es gehe heute nicht um Zensur, die von oben angeordnet wird, vielmehr gäbe es inzwischen vorauseilenden Gehorsam in Redaktionen und Verlagen, die sich dem vermeintlich Richtigen allzu brav unterordnen.
Sie zitiert George Orwell, der intellektuelle Feigheit den schlimmsten Feind nannte. „Und eben mit diesem schlimmsten Feind sind wir derzeit in den Schlachten der sogenannten Identitätspolitik konfrontiert. Sich radikalisierende Zensurbestrebungen kommen direkt aus unserer progressiven, ‚linken‘ Mitte. Wenn wir nur genügend böse Wörter verbieten, wird die Welt automatisch besser.“
Die Hoffnung inmitten des Grauens, von der Kay Dick erzählt, tragen die Menschen weiter, die (wie in „Fahrenheit 45“ von Ray Bradbury) Romane und Gedichte auswendig lernen. Die Literatur, die Kunst muss erhalten werden. Und der Glaube an die Liebe – gegen die Erfahrung von Unterdrückung, Gleichgültigkeit und Bosheit.

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