Die Nachschreiber
Der Kehlmann-Effekt oder: Wenn Schriftsteller erzählend in die Rolle verblichener Kollegen und Geistesgrößen schlüpfen.
Tote zum Sprechen zu bringen, das war schon immer ein Privileg der Literatur. Besonders reizvoll scheint es neuerdings, verblichene Geistesgrößen zum Leben zu erwecken, sie wie Zeitgenossen durch einen Roman spazieren zu lassen. Dabei interessiert neben dem, was war, auch das, was hätte sein können, die Karten werden neu gemischt.
Kafka als liebender Mann
So gibt Sibylle Lewitscharoff in "Blumenberg" dem gleichnamigen Philosophen als Haustier einen Löwen an die Seite. Karl-Heinz Ott ("Wintzenried") lässt den Aufklärer Rousseau unter Onaniezwang leiden, Michael Kumpfmüller vergegenwärtigt Kafkas letzte Liebe ("Die Herrlichkeit des Lebens").
Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" verschränkt den Lebenslauf des Mathematikers Carl Friedrich Gauß mit demjenigen Alexander von Humboldts, der zum Zwecke der Naturerforschung Südamerika bereist. Der eine berechnet am Schreibpult zuhause die Welt, der andere kämpft sich, jede Steinlaus, jedes Erdloch vermessend, durch den Dschungel. Bürgerliches Bildungsgut kommt also wieder sehr gut an - besonders wenn es ironisch verarbeitet wird.
Was treibt die Gegenwartsautoren an, Schicksal im Leben der Großen zu spielen? Haben sie genug vom Kreisen um den eigenen Nabel, von Familienepen, oder ist es die Sehnsucht nach Größe? Biografische Lücken füllen sie mit Fiktion, nehmen sich Freiheiten, die Historikern verwehrt sind, schreiben Liebeserklärungen, auch Denkmäler werden gestürzt.
Heraus kommen Möglichkeiten: ein anderes Leben, ein anderes Schreiben. Ganz neu ist dieses Verfahren nicht. Man kann sich auf große Vorbilder berufen, auf Georg Büchners "Lenz" als Paradefall eines romantisch nachempfundenen Dichterlebens, auf Thomas Manns satirischen Goethe-Roman "Lotte in Weimar" oder die tragischen Künstlererzählungen Stefan Zweigs und Lion Feuchtwangers in den Kleidern des historischen Romans.
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