Keimzelle der Sozialdemokratie

Von Wolfgang Stenke |
Konfrontiert mit Ausbeutung und Armut, lösten sich die Arbeiterbildungsvereine nach der 1848er-Revolution vom liberalen Parteiwesen und schufen eigene politische Vertretungen. Die erste dieser Art war der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), der am 23. Mai 1863 in Leipzig entstand.
"Mann der Arbeit, aufgewacht
und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will!"
(Saarknappenchor, "Bet' und arbeit!")

Der revolutionäre Dichter Georg Herwegh schrieb dieses Lied aus Anlass der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. 14 Delegierte von Bildungsvereinen aus Leipzig, Hamburg, Frankfurt, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld und Solingen waren am 23. Mai 1863 im Leipziger Lokal "Pantheon" zusammengekommen, um eine Partei der deutschen Proletarier ins Leben zu rufen. Sie wurde eine der Keimzellen, aus denen sich später die SPD entwickelte. Die Delegierten repräsentierten gerade einmal 400 Mitglieder. Star der Veranstaltung war zweifellos der Jurist und Journalist Ferdinand Lassalle. Ihn hatten die Leipziger vor der Gründungsversammlung um einen programmatischen Text gebeten. In dem "offenen Antwortschreiben", das Lassalle nach Leipzig schickte, gab er der neuen Organisation die Richtung vor:

"Der Arbeiterstand muss sich als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen."

Lassalle hatte sich nach dem Scheitern der 1848er Demokratiebewegung enttäuscht von den bürgerlich-liberalen Parteien abgewandt. Von ihnen war die Besserung der Lage des "Arbeiterstandes" nicht zu erwarten. Eine Einschätzung, die die Leipziger Versammlung – vor allem Handwerker, die zuvor in liberal geprägten Bildungsvereinen tätig waren – teilte. Einer der Delegierten, der gelernte Schuster Julius Vahlteich, berichtete von dem Enthusiasmus, mit dem Lassalle zu Beginn begrüßt wurde:

"Wir, die wenigen mit klarem Wollen vorwärtsstrebenden Arbeiter, waren uns bisher mit Recht unserer Schwäche bewußt gewesen, jetzt aber fühlten wir, dass uns jemand zu Hilfe kam und das hob unseren Mut."

Auf dem Programm des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) stand nicht nur die parlamentarische Vertretung der Arbeiter. Nach Lassalles Vorstellungen sollten die auf Privateigentum beruhenden kapitalistischen Unternehmen durch genossenschaftliche Assoziationen der Arbeiter ersetzt werden. Deren Finanzierung erhoffte Lassalle, der in Kontakt zu Bismarck stand, vom preußischen Staat. Marx und Engels kritisierten seine Vorstellungen. Die Ablösung des Proletariats von den Liberalen, die weiterhin in der Opposition waren, hielten sie für verfrüht. Auch im ADAV war Lassalle nicht unumstritten. – Julius Vahlteich, der Sekretär des Verbandes wurde:

"Die anwesenden Delegaten waren die Offiziere einer Armee, die ebenso klein wie unorganisiert und zum Schlagen unfertig war. Dazu ein Feldherr, (...) der (...) durch sein herausforderndes, eine starke Eitelkeit verratendes Auftreten gerade die besten Leute abstieß. (...) Dazu Mangel an jeder Vertretung in der Presse und Mangel an Geld (...). Gegenüber all diesen Mängeln eine Aufgabe, die in nichts weniger bestand, als eine Welt aus ihren Angeln zu heben."

"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,
Brüder zum Lichte empor!
Hell aus dem dunklen Vergang'nen
Leuchtet die Zukunft empor!"
(Saarknappenchor, "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit")

Bei Lassalles Tod im Jahre 1864 – er starb an einer im Duell erlittenen Schussverletzung – hatte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein 4600 Mitglieder. Fast die Hälfte lebte in den preußischen Westprovinzen: wenig Industrie-, sondern vorwiegend Heimarbeiter aus dem Schneidwaren- und Kleineisengewerbe, dazu Zigarrenarbeiter und Buchdrucker. Im Gegensatz zu den "Lassalleanern" des ADAV setzte die 1869 in Eisenach von August Bebel und Wilhelm Liebknecht ins Leben gerufene Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) verstärkt auf den gewerkschaftlichen Kampf. Im 1871 begründeten Deutschen Kaiserreich verschärfte sich die staatliche Unterdrückung beider Parteien. So schlossen sich "Lassalleaner" und "Eisenacher" 1875 in Gotha zur "Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" zusammen. Sie gab sich das "Gothaer Programm". Darin heißt es:

"Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse bilden."

Der Vereinigungsparteitag in Gotha ist die eigentliche Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie.