Kein Abgrund, nirgends
Angst ist ganz tief im Menschen angelegt. Erst wenn eine Grundangst dazu führt, dass Menschen in sich selbst und ins Leben keinerlei Vertrauen mehr fassen, dann wird Angst zum großen Problem. Dem Gefühl der Angst und seinen Folgen hat Annette Pehnt ein "Lexikon" gewidmet.
Angst ist ein Gefühl, das zum Leben dazugehört wie auch der Schmerz, ein Warnsignal, das vernünftig und lebensrettend sein kann. Und doch ist es ein Gefühl, das der Mensch instinktiv zu vermeiden sucht. Die Angst vor der Angst gehört vielleicht zu den Urängsten, beschreibt jene "Grundbefindlichkeit" der Existenz, von der der Philosoph Martin Heidegger sprach, als er schrieb: "Wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-Sein selbst." Angst hat demnach keinen Gegenstand als das Leben selbst.
Bei Kierkegaard resultiert Angst aus dem Bewusstsein der Möglichkeit von Freiheit. Bei Freud und der Psychoanalyse wird sie eher als Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis begriffen, das sich in Hysterien oder Neurosen entlädt. Da wird die Angst pathologisch, aber auch heilbar, während sie den Philosophen der Existenz die Grenze zum Nichts, zur Auflösung beschreibt, die man aushalten muss wie einen Blick in den Abgrund.
Die Ängste, um die es im "Lexikon der Angst" von Annette Pehnt geht, gehören eindeutig in die psychologische Richtung. Es hieße deshalb auch besser "Lexikon der Ängste", weil es zwar von vielen verschiedenen konkreten Angstanlässen erzählt, die eine große, existentielle Grund-Angst aber nicht zu fassen vermag. Alphabetisch geordnet, in knapp 50 Stichworten, werden kleinere und größere aber doch insgesamt eher überschaubare Ängste durchdekliniert.
Da ist die ins Zwanghafte vergrößerte Angst vor dem Vermieter im Treppenhaus, die Angst vor dem Schweigen, das sich bei einer Autofahrt einstellen kann, die durchaus rationale Angst vor Unfallmöglichkeiten im Straßenverkehr, die Angst vor dem Verlust von Geld oder Arbeit oder Geliebten oder Familie, die Angst vor Gewöhnung und Alltäglichkeit in einer Liebesbeziehung und immer wieder und vor allem die Angst einer Mutter um ihr Kind. Exquisitere Ängste pflegt der Mann, der sich vor Schatten fürchtet und um sie herumgehen muss und der schließlich auch das Bett der Geliebten verlässt, die neben ihm einen Schatten wirft. Oder das siebenjährige Mädchen, das sich auf eine seinem Alter nicht entsprechende Weise mit dem Tod beschäftigt und vor ihm ängstigt.
Das Lexikalische dient weniger der Nachschlagbarkeit (weil die jeweiligen Schlagworte bzw. Titel irreführend sind), sondern ist ein pfiffiges Prinzip, kleinere Texte zu präsentieren, die ansonsten – weniger gut verkäuflich – Skizzen, literarische Miniaturen, Momentaufnahmen oder psychologische Protokolle heißen müssten. Annette Pehnt hat dem Buch ein Zitat der Bildhauerin Louise Bourgeois vorangestellt: "Meine Arbeiten sind eine Serie von Exorzismen". Tatsächlich handelt es sich durchweg um Ängste, die zu überwinden man den Protagonisten nur wünschen kann. Es sind Ängste, die beim Lesen wenig Angst auslösen, kleine Mittelschichtsängste eines Wohlstandslandes, in dem man – so der sich verdichtende Eindruck – eigentlich keinen Grund zur Angst haben müsste.
Da bleiben eben nur die Zwangsneurosen, die nicht nur jene Frau quälen, die immer wieder zurückkehren muss in die Wohnung, um zu sehen, ob sie auch wirklich den Herd ausgemacht hat, sondern ebenso die Mutter, deren Angst um den Sohn mit dessen Wachstum und wachsendem Bewegungsradius mitwächst, bis sie schließlich ihr ganzes Leben als "leises Rauschen" grundiert. Dieses leise Rauschen, ein "sachtes Ziehen, ein vertrauter Schmerz, der nicht mehr wehtut", hat der Verlag nicht ganz zufällig als Zitat auf die Buchrückseite gedruckt. Es betrifft gewissermaßen das literarische Symptom dieser Kurzprosa.
Wenn Annette Pehnt das Motto als Arbeitsauftrag verstanden hat, dann ist ihr der Exorzismus gründlich gelungen, und sie hat die Angst erfolgreich therapiert. Literarisch gesehen ist das aber bedauerlich. In dieser Prosa bleibt – dem Gegenstand zum Trotz – alles im Rahmen, alles im grünen Bereich und in gediegener Mittellage. Kein Abgrund, nirgends.
Besprochen von Jörg Magenau
Bei Kierkegaard resultiert Angst aus dem Bewusstsein der Möglichkeit von Freiheit. Bei Freud und der Psychoanalyse wird sie eher als Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis begriffen, das sich in Hysterien oder Neurosen entlädt. Da wird die Angst pathologisch, aber auch heilbar, während sie den Philosophen der Existenz die Grenze zum Nichts, zur Auflösung beschreibt, die man aushalten muss wie einen Blick in den Abgrund.
Die Ängste, um die es im "Lexikon der Angst" von Annette Pehnt geht, gehören eindeutig in die psychologische Richtung. Es hieße deshalb auch besser "Lexikon der Ängste", weil es zwar von vielen verschiedenen konkreten Angstanlässen erzählt, die eine große, existentielle Grund-Angst aber nicht zu fassen vermag. Alphabetisch geordnet, in knapp 50 Stichworten, werden kleinere und größere aber doch insgesamt eher überschaubare Ängste durchdekliniert.
Da ist die ins Zwanghafte vergrößerte Angst vor dem Vermieter im Treppenhaus, die Angst vor dem Schweigen, das sich bei einer Autofahrt einstellen kann, die durchaus rationale Angst vor Unfallmöglichkeiten im Straßenverkehr, die Angst vor dem Verlust von Geld oder Arbeit oder Geliebten oder Familie, die Angst vor Gewöhnung und Alltäglichkeit in einer Liebesbeziehung und immer wieder und vor allem die Angst einer Mutter um ihr Kind. Exquisitere Ängste pflegt der Mann, der sich vor Schatten fürchtet und um sie herumgehen muss und der schließlich auch das Bett der Geliebten verlässt, die neben ihm einen Schatten wirft. Oder das siebenjährige Mädchen, das sich auf eine seinem Alter nicht entsprechende Weise mit dem Tod beschäftigt und vor ihm ängstigt.
Das Lexikalische dient weniger der Nachschlagbarkeit (weil die jeweiligen Schlagworte bzw. Titel irreführend sind), sondern ist ein pfiffiges Prinzip, kleinere Texte zu präsentieren, die ansonsten – weniger gut verkäuflich – Skizzen, literarische Miniaturen, Momentaufnahmen oder psychologische Protokolle heißen müssten. Annette Pehnt hat dem Buch ein Zitat der Bildhauerin Louise Bourgeois vorangestellt: "Meine Arbeiten sind eine Serie von Exorzismen". Tatsächlich handelt es sich durchweg um Ängste, die zu überwinden man den Protagonisten nur wünschen kann. Es sind Ängste, die beim Lesen wenig Angst auslösen, kleine Mittelschichtsängste eines Wohlstandslandes, in dem man – so der sich verdichtende Eindruck – eigentlich keinen Grund zur Angst haben müsste.
Da bleiben eben nur die Zwangsneurosen, die nicht nur jene Frau quälen, die immer wieder zurückkehren muss in die Wohnung, um zu sehen, ob sie auch wirklich den Herd ausgemacht hat, sondern ebenso die Mutter, deren Angst um den Sohn mit dessen Wachstum und wachsendem Bewegungsradius mitwächst, bis sie schließlich ihr ganzes Leben als "leises Rauschen" grundiert. Dieses leise Rauschen, ein "sachtes Ziehen, ein vertrauter Schmerz, der nicht mehr wehtut", hat der Verlag nicht ganz zufällig als Zitat auf die Buchrückseite gedruckt. Es betrifft gewissermaßen das literarische Symptom dieser Kurzprosa.
Wenn Annette Pehnt das Motto als Arbeitsauftrag verstanden hat, dann ist ihr der Exorzismus gründlich gelungen, und sie hat die Angst erfolgreich therapiert. Literarisch gesehen ist das aber bedauerlich. In dieser Prosa bleibt – dem Gegenstand zum Trotz – alles im Rahmen, alles im grünen Bereich und in gediegener Mittellage. Kein Abgrund, nirgends.
Besprochen von Jörg Magenau
Annette Pehnt: Lexikon der Angst
Piper, München 2013
176 Seiten, 17,99 Euro
Piper, München 2013
176 Seiten, 17,99 Euro