Kein akustischer Pauschaltourismus
Die kunstvollen Bandwurmsätze von Marcel Proust sind nicht nur Lese-, sondern auch Hörgenuss. Das zeigt das von Peter Matic gelesene Hörbuch, das als siebter Teil die Proust-Edition "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" abschließt.
Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" umfasst gedruckt etwa 4000 Seiten. Nicht viel, könnte ein Harry Potter-Leser nun meinen – auch wenn sich Proust zugegebenermaßen etwas schwieriger liest als Joanne K. Rowling. Dass Prousts kunstvolle Bandwurmsätze aber auch gut ins Ohr gehen – diesen Beweis tritt die im Hörverlag erschienene Komplettlesung von Peter Matic an. Mit dem siebten und abschließenden Teil "Die wiedergefundene Zeit" liegt "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" nun auf insgesamt rund 140 CDs als Audiofassung vor. Kritiker Wolfgang Schneider hat noch einmal zugehört und genossen:
Im letzten Band bricht der Erste Weltkrieg über die Belle-Époque-Welt der "Recherche" herein. Marcels Kindheitslandschaft um Combray verwandelt sich zum Schlachtfeld, der berühmte Weißdornpfad wird zur Frontlinie. Mit der Pinselführung eines Impressionisten schildert Proust die Abende der Verdunkelung, bei denen man mitten in Paris das Gefühl hat, einen Mondscheinspaziergang auf dem Land zu machen.
Vor allem aber analysiert er mit gewohntem Scharfblick gesellschaftliche und individuelle Verhaltensmuster, den Tanz auf dem Vulkan. Die Kämpfe sind nicht weit entfernt, die Stadt wird von den Deutschen mit Geschützen und Zeppelinen angegriffen. Doch das luxuriöse Leben in den Salons geht weiter. Madame Verdurin, die in "Eine Liebe von Swann" ihren nicht besonders relevanten "kleinen Kreis" unterhielt, ist inzwischen zu einer Größe der feinen Gesellschaft avanciert. Der Tod von Millionen berühre uns kaum mehr als ein Luftzug, schreibt Proust, und niemand eignet sich zur Verdeutlichung besser als diese Frau, die unerhörten Aufwand mit ihren Frühstückshörnchen betreibt, auch am Tag, als die Zeitungen vom Untergang der torpedierten "Lusitania" mit 1200 Toten berichten:
Während sie nun das Hörnchen in den Milchkaffee tauchte und ihrer Zeitung kleine Stupse gab, damit sie sie aufgeschlagen halten konnte, ohne zum Umblättern die mit dem Eintauchen beschäftigte Hand zu benutzen, sagte sie: "Wie grauenhaft! Das ist ja fürchterlicher als die entsetzlichsten Tragödien." Aber der Tod aller dieser Ertrunkenen musste ihr wohl doch auf ein Milliardstel seiner Größe reduziert erscheinen, denn während sie mit vollem Munde diese trostlosen Überlegungen anstellte, war der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag und wahrscheinlich durch den Wohlgeschmack des Gebäcks hervorgerufen wurde, eher der eines sanften Behagens.
Peter Matic versteht es, proustisch sehnsuchtsschwer zu klingen, ohne je die Grenze zur Sentimentalität zu überschreiten. Oft kandiert er den Text mit einem leichten Märchenton. Um dann wieder der Komik ihr Recht zu geben, etwa auch bei den bizarren Reden des Baron de Charlus, dieser wuchtigen, King-Lear-haften Zentralfigur des Romans. Der hochkultivierte Gegenspieler der Verdurins ist aufgrund seiner Deutschfreundlichkeit jetzt nicht mehr gesellschaftsfähig. Einer seiner neuen Spitznamen lautet "Frau Boche". Schlimmer ist für ihn, dass alle kriegstauglichen jungen Männer einberufen sind. So wird Paris, wo es fast nur noch Frauen, Alte und Kinder gibt, zu einem verzweiflungsvollen Ort für den Homosexuellen:
"Kurz und gut, mein lieber Freund", fuhr Charlus fort, "das alles ist ganz furchtbar, und wir haben mehr zu beklagen als nur langweilige Artikel. Muss nicht eine Stadt, die über keine schönen Männer verfügt, den gleichen Eindruck erwecken wie eine Stadt, deren gesamter Bestand an Werken der Bildhauerkunst vernichtet ist? Was für ein Vergnügen kann ich darin finden, in einem Restaurant zu nachtmahlen, in dem ich von alten Clowns bedient werde, die schon Moos angesetzt haben, wofern es nicht sogar Frauen mit Häubchen auf dem Kopfe sind, die mich glauben machen, ich sei in die Imbissstube Duval geraten?"
Zunehmend verliert Charlus die Selbstkontrolle; sein Verfall schreitet zügig voran. Eines Tages findet ihn der Erzähler in einem Bordell für sehr spezielle Bedürfnisse: blutüberströmt, unter den Hieben einer Peitsche, mit Ketten an ein Eisenbett gefesselt wie Prometheus an seinen Felsen. Liebe ist bei Proust eine Art unheilbare Krankheit, eine "böse Verzauberung", und so sieht sie in ihrer letzten Ausprägung bei Charlus denn auch aus.
Für den Ich-Erzähler Marcel ereignet sich endlich der Durchbruch zum eigenen Schreiben. Er erlebt beglückende Ekstasen der unwillkürlichen Erinnerung. Die breit entfaltete Poetik der "Verlorenen Zeit" ist keine leichte Hörkost. Immerhin hat Proust keinen snobistischen Literaturbegriff. Er weiß: Literatur verwirklicht sich erst in der Lektüre. So sind wir alle eingeladen, in seiner psychologischen Erzählkunst eigene Erfahrungen wiederzuerkennen:
In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.
Der Ton von Peter Matic ist rund und harmonisch, manchmal fast singend. So hält er die längsten Satzbögen durch, ohne einzubrechen. Am Ende werden die vom Alter gezeichneten Figuren ein letztes Mal zu einem Ball bei den Guermantes versammelt. Mit dem Blick eines Insektenforschers studiert Marcel die Metamorphosen. Aus Emporkömmlingen sind Größen der Gesellschaft, aus Schwerenötern und Kompromittierten Tugendbolde geworden. Das ist Prousts spezifische Form der Relativitätstheorie: die Dimension der Zeit. Wir nehmen einen kleinen Platz im Raum ein, aber einen großen in der Zeit, schreibt er.
Das lässt sich auch über dieses prächtige Hörbuch sagen. 19 Stunden dauert allein dieser Band, etwa 170 verbringt man mit dem ganzen Zyklus. Das ist kein akustischer Pauschaltourismus – aber eine Zeitreise, die tiefen Eindruck hinterlässt.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit
Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens
Gesprochen von Peter Matic
Abschluss der Proust-Edition "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
Der Hörverlag, München 2010
15 CDs, 1137 Minuten, 99 Euro
Im letzten Band bricht der Erste Weltkrieg über die Belle-Époque-Welt der "Recherche" herein. Marcels Kindheitslandschaft um Combray verwandelt sich zum Schlachtfeld, der berühmte Weißdornpfad wird zur Frontlinie. Mit der Pinselführung eines Impressionisten schildert Proust die Abende der Verdunkelung, bei denen man mitten in Paris das Gefühl hat, einen Mondscheinspaziergang auf dem Land zu machen.
Vor allem aber analysiert er mit gewohntem Scharfblick gesellschaftliche und individuelle Verhaltensmuster, den Tanz auf dem Vulkan. Die Kämpfe sind nicht weit entfernt, die Stadt wird von den Deutschen mit Geschützen und Zeppelinen angegriffen. Doch das luxuriöse Leben in den Salons geht weiter. Madame Verdurin, die in "Eine Liebe von Swann" ihren nicht besonders relevanten "kleinen Kreis" unterhielt, ist inzwischen zu einer Größe der feinen Gesellschaft avanciert. Der Tod von Millionen berühre uns kaum mehr als ein Luftzug, schreibt Proust, und niemand eignet sich zur Verdeutlichung besser als diese Frau, die unerhörten Aufwand mit ihren Frühstückshörnchen betreibt, auch am Tag, als die Zeitungen vom Untergang der torpedierten "Lusitania" mit 1200 Toten berichten:
Während sie nun das Hörnchen in den Milchkaffee tauchte und ihrer Zeitung kleine Stupse gab, damit sie sie aufgeschlagen halten konnte, ohne zum Umblättern die mit dem Eintauchen beschäftigte Hand zu benutzen, sagte sie: "Wie grauenhaft! Das ist ja fürchterlicher als die entsetzlichsten Tragödien." Aber der Tod aller dieser Ertrunkenen musste ihr wohl doch auf ein Milliardstel seiner Größe reduziert erscheinen, denn während sie mit vollem Munde diese trostlosen Überlegungen anstellte, war der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag und wahrscheinlich durch den Wohlgeschmack des Gebäcks hervorgerufen wurde, eher der eines sanften Behagens.
Peter Matic versteht es, proustisch sehnsuchtsschwer zu klingen, ohne je die Grenze zur Sentimentalität zu überschreiten. Oft kandiert er den Text mit einem leichten Märchenton. Um dann wieder der Komik ihr Recht zu geben, etwa auch bei den bizarren Reden des Baron de Charlus, dieser wuchtigen, King-Lear-haften Zentralfigur des Romans. Der hochkultivierte Gegenspieler der Verdurins ist aufgrund seiner Deutschfreundlichkeit jetzt nicht mehr gesellschaftsfähig. Einer seiner neuen Spitznamen lautet "Frau Boche". Schlimmer ist für ihn, dass alle kriegstauglichen jungen Männer einberufen sind. So wird Paris, wo es fast nur noch Frauen, Alte und Kinder gibt, zu einem verzweiflungsvollen Ort für den Homosexuellen:
"Kurz und gut, mein lieber Freund", fuhr Charlus fort, "das alles ist ganz furchtbar, und wir haben mehr zu beklagen als nur langweilige Artikel. Muss nicht eine Stadt, die über keine schönen Männer verfügt, den gleichen Eindruck erwecken wie eine Stadt, deren gesamter Bestand an Werken der Bildhauerkunst vernichtet ist? Was für ein Vergnügen kann ich darin finden, in einem Restaurant zu nachtmahlen, in dem ich von alten Clowns bedient werde, die schon Moos angesetzt haben, wofern es nicht sogar Frauen mit Häubchen auf dem Kopfe sind, die mich glauben machen, ich sei in die Imbissstube Duval geraten?"
Zunehmend verliert Charlus die Selbstkontrolle; sein Verfall schreitet zügig voran. Eines Tages findet ihn der Erzähler in einem Bordell für sehr spezielle Bedürfnisse: blutüberströmt, unter den Hieben einer Peitsche, mit Ketten an ein Eisenbett gefesselt wie Prometheus an seinen Felsen. Liebe ist bei Proust eine Art unheilbare Krankheit, eine "böse Verzauberung", und so sieht sie in ihrer letzten Ausprägung bei Charlus denn auch aus.
Für den Ich-Erzähler Marcel ereignet sich endlich der Durchbruch zum eigenen Schreiben. Er erlebt beglückende Ekstasen der unwillkürlichen Erinnerung. Die breit entfaltete Poetik der "Verlorenen Zeit" ist keine leichte Hörkost. Immerhin hat Proust keinen snobistischen Literaturbegriff. Er weiß: Literatur verwirklicht sich erst in der Lektüre. So sind wir alle eingeladen, in seiner psychologischen Erzählkunst eigene Erfahrungen wiederzuerkennen:
In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.
Der Ton von Peter Matic ist rund und harmonisch, manchmal fast singend. So hält er die längsten Satzbögen durch, ohne einzubrechen. Am Ende werden die vom Alter gezeichneten Figuren ein letztes Mal zu einem Ball bei den Guermantes versammelt. Mit dem Blick eines Insektenforschers studiert Marcel die Metamorphosen. Aus Emporkömmlingen sind Größen der Gesellschaft, aus Schwerenötern und Kompromittierten Tugendbolde geworden. Das ist Prousts spezifische Form der Relativitätstheorie: die Dimension der Zeit. Wir nehmen einen kleinen Platz im Raum ein, aber einen großen in der Zeit, schreibt er.
Das lässt sich auch über dieses prächtige Hörbuch sagen. 19 Stunden dauert allein dieser Band, etwa 170 verbringt man mit dem ganzen Zyklus. Das ist kein akustischer Pauschaltourismus – aber eine Zeitreise, die tiefen Eindruck hinterlässt.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit
Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens
Gesprochen von Peter Matic
Abschluss der Proust-Edition "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
Der Hörverlag, München 2010
15 CDs, 1137 Minuten, 99 Euro