Kein Arzt der Welt kann heilen
Die Humanmedizin, wie sie heute gewöhnlich betrieben wird, ist keine <em>humane Medizin</em>, sagt Christian Hess, und liegt damit voll im Trend der Zeit, wo der Ruf nach einer ganzheitlichen Behandlung immer lauter wird. Trotzdem: Der Medizinalltag sieht immer noch immer anders aus. Strikt wird da zwischen einer "Medizin für den Körper", für die Internisten, Chirurgen und Urologen zuständig sind, und einer "Medizin für die Seele", die dann Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten beschäftigt, unterschieden.
Doch das muss nicht sein, wie Christian Hess in seinem Buch "Menschenmedizin" eindrucksvoll belegt. Wobei "Menschenmedizin" meint nichts anderes, als diese Trennung aufzugeben und den Menschen als Einheit wahrzunehmen, also seine körperlichen Leiden in Abhängigkeit von den psychischen zu betrachten und umgekehrt.
Christian Hess ist selbst Chefarzt eines Krankenhauses im schweizerischen Affoltern. Dort wird diese "Menschenmedizin" seit etwa fünfzehn Jahren erfolgreich praktiziert. Wie genau, kann man in diesem Buch anhand zahlreicher Krankengeschichten erfahren: Herr D. ist 42 Jahre alt und von Beruf Krankenpfleger. Er wird mit schweren Bauchkrämpfe und Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert, doch trotz der akuten Symptome bleibt die Untersuchung ohne Befund. Rein körperlich betrachtet ist Herr D. also gesund. Woher aber die Beschwerden?
Zur Visite bringt der Chefarzt eine Psychologin mit, die mit dem anfangs skeptischen Patienten längere Gespräche führt und so schnell die Ursache für Bauchkrämpfe und Atemnot findet. Es zeigt sich: Herr D. leidet an depressiver Verstimmung. Kurz zuvor ist sein krebskranker Vater, den er lange selbst gepflegt hat, gestorben. Zudem hat er einen Freund bei einem Autounfall verloren. Seinen Kummer erstickt er in Alkohol.
Um den Patienten aus der Krise zu helfen, läuft nun ein langjähriges Behandlungsprogramm an, an dem die Klinik intensiv beteiligt ist. Und das ist neu und überaus ungewöhnlich: Täglich kehrt Herr D. ins Krankenhaus zurück, um hier eine Psychotherapie zu machen. Er besucht Gestalttherapeuten und lernt seine seelischen Zustände "nach außen zu malen". Das Konzept geht auf: Zwei Jahre später hat Herr D. seine Krise bewältigt.
Christian Hess und seine Mitarbeiter haben ein Leitbild, eine Art "Philosophie des Hauses", für ihre gemeinsame Arbeit entwickelt, in die viele theoretische Überlegungen eingeflossen sind. Man hat sich zum Beispiel Gedanken darüber gemacht: Was ist Gesundsein? Was ist Kranksein? Was heißt eigentlich "Heilen"? Gesundsein und Kranksein, so der Autor, sind körperlich-psychische Zustände des Menschen, die dieser Mensch am Ende nur selbst beurteilen kann.
Gesundsein, darunter versteht ein 87-jähriger Patient etwas ganz anderes als ein 27-jähriger. Diesem Umstand sollte die Medizin Rechnung tragen und nicht in autoritärer Manier entscheiden wollen, was für Patienten gut und richtig ist. Nach Meinung von Christian Hess wird in den meisten Krankenhäusern zu viel operiert, besonders bei Patienten im hohen Alter. Da werden unnötig Risiken eingegangen und die Tatsache, dass der menschliche Körper naturgemäß altert, wir alle irgendwann sterben müssen, total verdrängt.
Die "Philosophie des Hauses", als kurzer Text formuliert, hängt in Affoltern in jedem Krankenzimmer aus. Ein Patient kann also nachlesen, was er vom Personal erwarten darf, aber auch, was man von ihm, dem Patienten, erwartet. Hier wird ihm klar gemacht: Kein Arzt dieser Welt kann ihn heilen. Heilung ist nur in Verbindung zur Selbstheilung möglich, nur in Verbindung mit der unverwechselbaren Natur jedes einzelnen Menschen. Ärzte, Pfleger und Psychotherapeuten können nur die Voraussetzungen schaffen, dass Heilung möglich wird und im günstigsten Falle auch eintritt.
Was ist mit den Kosten? Ist das "Modell Affoltern" nicht besonders teuer? Auf keinen Fall teurer als die übliche "Geräte-Medizin", schreibt Christian Hess, wo Menschen gern "zu Tode operiert" und Medikamente, die keiner braucht, in rauen Mengen verteilt werden. Ganz im Gegenteil: Die Kosten im Spital sind um einiges gesunken, seit Christian Hess vor fast zwanzig Jahren den Chefarztposten übernommen hat.
Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen. Einem Mediziner wie Christian Hess begegnet man nicht jeden Tag. Er kennt sich in der Geschichte der Philosophie genauso gut aus wie in der Geschichte der Psychologie. Und er verfolgt trotzt aller beruflicher Erfolge ein großes Ziel: Er will ein - noch - besserer Arzt werden. Und das macht Mut zu lesen. Denn wenn man ein System ändern will, so kann dies nur von innen heraus passieren. Christian Hess beweist mit seinem Buch, das es geht!
Rezensiert von Susanne Mack
Christian Hess, Annina Hess-Cabalzar: Menschenmedizin. Für eine kluge Heilkunst
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 263 Seiten, 9 Euro
Christian Hess ist selbst Chefarzt eines Krankenhauses im schweizerischen Affoltern. Dort wird diese "Menschenmedizin" seit etwa fünfzehn Jahren erfolgreich praktiziert. Wie genau, kann man in diesem Buch anhand zahlreicher Krankengeschichten erfahren: Herr D. ist 42 Jahre alt und von Beruf Krankenpfleger. Er wird mit schweren Bauchkrämpfe und Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert, doch trotz der akuten Symptome bleibt die Untersuchung ohne Befund. Rein körperlich betrachtet ist Herr D. also gesund. Woher aber die Beschwerden?
Zur Visite bringt der Chefarzt eine Psychologin mit, die mit dem anfangs skeptischen Patienten längere Gespräche führt und so schnell die Ursache für Bauchkrämpfe und Atemnot findet. Es zeigt sich: Herr D. leidet an depressiver Verstimmung. Kurz zuvor ist sein krebskranker Vater, den er lange selbst gepflegt hat, gestorben. Zudem hat er einen Freund bei einem Autounfall verloren. Seinen Kummer erstickt er in Alkohol.
Um den Patienten aus der Krise zu helfen, läuft nun ein langjähriges Behandlungsprogramm an, an dem die Klinik intensiv beteiligt ist. Und das ist neu und überaus ungewöhnlich: Täglich kehrt Herr D. ins Krankenhaus zurück, um hier eine Psychotherapie zu machen. Er besucht Gestalttherapeuten und lernt seine seelischen Zustände "nach außen zu malen". Das Konzept geht auf: Zwei Jahre später hat Herr D. seine Krise bewältigt.
Christian Hess und seine Mitarbeiter haben ein Leitbild, eine Art "Philosophie des Hauses", für ihre gemeinsame Arbeit entwickelt, in die viele theoretische Überlegungen eingeflossen sind. Man hat sich zum Beispiel Gedanken darüber gemacht: Was ist Gesundsein? Was ist Kranksein? Was heißt eigentlich "Heilen"? Gesundsein und Kranksein, so der Autor, sind körperlich-psychische Zustände des Menschen, die dieser Mensch am Ende nur selbst beurteilen kann.
Gesundsein, darunter versteht ein 87-jähriger Patient etwas ganz anderes als ein 27-jähriger. Diesem Umstand sollte die Medizin Rechnung tragen und nicht in autoritärer Manier entscheiden wollen, was für Patienten gut und richtig ist. Nach Meinung von Christian Hess wird in den meisten Krankenhäusern zu viel operiert, besonders bei Patienten im hohen Alter. Da werden unnötig Risiken eingegangen und die Tatsache, dass der menschliche Körper naturgemäß altert, wir alle irgendwann sterben müssen, total verdrängt.
Die "Philosophie des Hauses", als kurzer Text formuliert, hängt in Affoltern in jedem Krankenzimmer aus. Ein Patient kann also nachlesen, was er vom Personal erwarten darf, aber auch, was man von ihm, dem Patienten, erwartet. Hier wird ihm klar gemacht: Kein Arzt dieser Welt kann ihn heilen. Heilung ist nur in Verbindung zur Selbstheilung möglich, nur in Verbindung mit der unverwechselbaren Natur jedes einzelnen Menschen. Ärzte, Pfleger und Psychotherapeuten können nur die Voraussetzungen schaffen, dass Heilung möglich wird und im günstigsten Falle auch eintritt.
Was ist mit den Kosten? Ist das "Modell Affoltern" nicht besonders teuer? Auf keinen Fall teurer als die übliche "Geräte-Medizin", schreibt Christian Hess, wo Menschen gern "zu Tode operiert" und Medikamente, die keiner braucht, in rauen Mengen verteilt werden. Ganz im Gegenteil: Die Kosten im Spital sind um einiges gesunken, seit Christian Hess vor fast zwanzig Jahren den Chefarztposten übernommen hat.
Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen. Einem Mediziner wie Christian Hess begegnet man nicht jeden Tag. Er kennt sich in der Geschichte der Philosophie genauso gut aus wie in der Geschichte der Psychologie. Und er verfolgt trotzt aller beruflicher Erfolge ein großes Ziel: Er will ein - noch - besserer Arzt werden. Und das macht Mut zu lesen. Denn wenn man ein System ändern will, so kann dies nur von innen heraus passieren. Christian Hess beweist mit seinem Buch, das es geht!
Rezensiert von Susanne Mack
Christian Hess, Annina Hess-Cabalzar: Menschenmedizin. Für eine kluge Heilkunst
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 263 Seiten, 9 Euro