Kein blinder Gehorsam

Die Bürgerpflicht, die Straße bei Rot zu queren

04:28 Minuten
Hochspannungsmast mit roter Ampel
Bei Grün gehen, bei Rot stehen - das gilt nicht immer, meint der Kulturwissenschaftler Roberto Simanowski. © pictrue alliance / blickwinkel / McPhoto / BilderBox
Ein Einwurf von Roberto Simanowski · 05.10.2020
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Jede Gesellschaft braucht Regeln. Aber braucht sie auch den situativ erwogenen Regelbruch? Mit Blick auf die chinesische Überwachungsgesellschaft sieht Roberto Simanowski das mündige Individuum in der Pflicht, die Straße auch mal bei Rot zu überqueren.
In der südchinesischen Hightech-Metropole Shenzhen gibt es an Fußgängerampeln Bildschirme, auf denen die Gesichter und Namen derer erscheinen, die bei Rot die Straße überqueren: Dieser elektronische Pranger ist symptomatisch für Chinas Aufschwung. Alles geht hier schneller! Selbst das Bestrafen. Kameras und eine entsprechende Gesichtsdatenbank ermöglichen die Überweisung der Strafzahlung, noch ehe das Delikt abgeschlossen ist.
Wie anders wenige Kilometer südlich! In Hongkong, wo ich einige Jahre lebte. Die Kreuzung vor meiner Wohnung am Fuß der Sing Woo Road lag hinter einer Kurve, und trotzdem gingen die Menschen bei Rot über die Straße. Und zwar nicht nur die Einheimischen oder Expats wie ich, auch die Gastarbeiter mit ungesichertem Aufenthaltsstatus.
Die vormalige britische Kolonie ist Teil von China und zugleich nicht. Die Losung lautet: ein Land, zwei Systeme. Nachdem der Volkskongress in Peking nun das "Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Honkong" verabschiedet hat, sieht es eher so aus, dass auch in Hongkong bald Shenzhener Verhältnisse herrschen werden.

Gesetz, Gehorsam und Willensfreiheit

Gewiss, es wäre absurd zu sagen: Die Hongkonger gehen für das Recht auf die Straße, diese auch in Zukunft bei Rot betreten zu können. Aber so ganz falsch wäre es nicht. Denn die Symbolik der Ampel reicht viel weiter als bis zum Bordstein. Es geht um das komplexe Verhältnis von Gesetz, Gehorsam, Sinn und Willensfreiheit.
In Berlin gehen oft selbst Rentner bei Rot über die Straße, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Und nur davon ist die Rede, wenn die Missachtung der Ampel hier nicht gerügt wird: von einer einsehbaren Straße ohne Auto im Anmarsch. In Berlin widersetzt man sich selbst dann dem Stoppsignal, wenn Kinder dabei sind. Man lässt sich nicht mehr erpressen mit dem Vorwurf des schlechten Vorbilds. Man erwartet, dass die Eltern sich der Erziehungsaufgabe stellen und ihren Kindern erklären, warum man manchmal Regeln missachten darf – und warum das für sie vorerst nicht gilt.

Angemessenheit statt blindem Gehorsam

Klar, nicht alle sehen das so. Die Gesellschaft ist geteilt in Vertreter der Befolgungskultur und der Prüfungskultur: Erstere zeigen blinden Gehorsam gegenüber einer Regel, letztere prüfen situationsbezogen ihre Angemessenheit. Die einen reden von Gesetz und Ordnung, die anderen von "Bruder Eichmann" – als würde, wer blind einer Farbe gehorcht, auch blind einer Vorschrift zur Massenvernichtung von Menschen folgen.
Und doch – irgendwie fühle ich mich wohler unter Menschen, die den Mut und Stolz haben, Nein zu sagen zu einer unsinnigen Vorschrift. Solche Menschen sind mehr bei der Sache. Sie sind menschlich in ihrer Aufsässigkeit. Denn im blinden Gehorsam paart sich Denkfaulheit mit Angst. Angst, die einem Angst machen kann.

Folgsam durch mangelnde Aufmerksamkeit

Diese Angst wird in China nun mit neuester Technik geschürt. Aber: Die neue Technik produziert auch in Deutschland neuen Gehorsam: Selbst mitten in Berlin, am hippen Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg, wo ich letzten Sommer einen jungen Mann spätabends vor einer roten Fußgängerampel stehen sah. Diese Ampel gibt es wegen des Spielplatzes auf der anderen Seite. Aber selbst am Tag ist der Verkehr hier so sparsam, dass man ohne Lebensgefahr bei Rot auf allen Vieren die Straße überqueren könnte.
Offenbar hatte jemand vergessen, die Ampel auszuschalten. Und so stand nun da ein junger Mann mit Hipster-Bart um Mitternacht und wartete auf Grün. Er war völlig von seinem Smartphone okkupiert. Fast hätte er dann die Grünphase verpasst. Sein Gehorsam war weniger die Folge von Angst als von mangelnder Aufmerksamkeit. Er hatte gar keine Zeit, dem Gesetz zu widersprechen!
Macht das die Sache besser, wenn die neuen Medien uns nicht wie in China durch Überwachung disziplinieren, sondern durch Ablenkung? Keineswegs. Auch das verdirbt den Charakter der Gesellschaft. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich sollten Menschen, die kaum ihre Umgebung wahrnehmen, nicht bei Rot die Straße betreten. Aber wollen Sie wirklich in einem Land leben, dessen Bürger an leeren Straßen vor roten Ampeln stehen, mit gesenktem Haupt, den Blick aufs Handy?

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).

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