"Kein gutes Licht auf den Zustand dieser Gesellschaft"
Zum Abschluss der 10-jährigen Studie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit beklagt ihr Leiter, Wilhelm Heitmeyer, eine ansteigende Zustimmung beim Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und der Abwertung von Obdachlosen und Langzeitarbeitslosen. Besonders Besserverdienende seien für die zunehmende Verachtung von Schwachen in der Gesellschaft mitverantwortlich.
Dieter Kassel: Über Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, natürlich auch über Antisemitismus, wurde auch in den Jahrzehnten davor schon geredet und geforscht. Der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, Wilhelm Heitmeyer, wollte es aber dann irgendwann genauer und umfassender haben. Und so startete er zusammen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor zehn Jahren die Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Im Jahr 2002 erschien dann bei Suhrkamp der erste Band mit Ergebnissen der Studie, "Deutsche Zustände – Folge eins", und heute wurde nun der letzte Band, Band zehn der "Deutschen Zustände" vorgestellt, denn damit ist nun diese Langzeitstudie abgeschlossen. Ob aber so eine Studie je wirklich abgeschlossen sein kann, und was diese zehn Jahre eigentlich gebracht haben, darüber wollen wir jetzt mit Wilhelm Heitmeyer reden. Er sitzt in unserem Hauptstadtstudio. Schönen guten Tag, Herr Heitmeyer!
Wilhelm Heitmeyer: Guten Tag!
Kassel: In welchen konkreten Punkten hat sich denn die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in den letzten zehn Jahren, also in diesem Untersuchungszeitraum, signifikant verändert?
Heitmeyer: Nun, es sind ganz uneinheitliche Verläufe zu diesem Syndrom mit seinen zehn Elementen – Sie haben die schon angesprochen, von Rassismus über Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, Abwertung von Behinderten, von Obdachlosen –, und diese Entwicklungen sind wie gesagt uneinheitlich über die Zeit hinweg. Wir haben beispielsweise positive Entwicklungen beim Antisemitismus und Abwertung von Behinderten. Wir haben eher relativ stabile Verläufe über die zehn Jahre bei der Islamfeindlichkeit und bei den etablierten Vorrechten, und – das ist jetzt allerdings nicht so erfreulich – wieder ansteigende Zustimmung etwa beim Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit, Abwertung von Obdachlosen und vor allem auch Abwertung von Langzeitarbeitslosen.
Kassel: Fassen wir doch so ein bisschen was auch in Zahlen. Also wenn Sie sagen, wir haben wieder einen Anstieg bei Ausländerfeindlichkeit, Rassismus – in welchen Kategorien bewegen wir uns da?
Heitmeyer: Ja, das ist immer etwas schwierig für einen Wissenschaftler, mit einzelnen Prozentwerten zu operieren. Wir sprechen eher dann von Mittelwertvergleichen. Aber wenn man den Rassismus sieht, dann liegen wir etwa bei 22 Prozent in der Bevölkerung, die behaupten, Aussiedler sollten besser gestellt werden, da sie deutscher Abstammung sind, oder etwa 13 Prozent, die Weißen sind zu Recht führend in der Welt. Und so kann man das dann über die Zeit auch verfolgen, und bei der Frage der Langzeitarbeitslosen liegen die Werte deutlich höher nach dem Motto: Die wollen nicht wirklich arbeiten, die sind nicht interessiert – unabhängig von den genaueren Umständen. Das sagt mehr als die Hälfte der befragten 2000 aus der repräsentativen Studie.
Kassel: Nun haben viele Menschen das Klischee im Kopf, dass diese Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – gerade so die Aspekte Ausländerfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit –, dass das bei Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau besonders ausgeprägt ist. Verschiedene Teile Ihrer Studie haben ja immer wieder gezeigt, dass die Rechnung so einfach nicht aufgeht.
Heitmeyer: Das ist richtig. Also man muss unterscheiden zwischen dem Ausmaß solcher menschenfeindlicher Einstellung gegenüber schwachen Gruppen und den Verläufen, und da konnten wir jetzt, oder mussten wir in den letzten zwei Jahren auch feststellen, dass auch die Besserverdienende für den Anstieg sehr mit verantwortlich sind, und das wirft natürlich kein gutes Licht auf den Zustand dieser Gesellschaft.
Kassel: Kann man eigentlich, wenn man diese zehn Jahre jetzt noch einmal in Augenschein nimmt, Zusammenhänge herstellen zwischen großen Ereignissen, also Dingen wie 9/11 natürlich, dann – um etwas ganz anderes zu nennen – 2006 die Fußball-WM, dieses große Sommermärchen, später dann die Wirtschaftskrisen, Zusammenhänge zwischen solche Ereignissen und konkreten Veränderungen in Ihren Umfrageergebnissen?
Heitmeyer: Ja, nun erscheinen diese Effekte immer zeitversetzt, sodass man das nicht genau lokalisieren kann, denn Einstellungsmuster sind eher träge Konstrukte sozusagen, aber man kann natürlich sehen, dass nach 9/11 ein anderer Diskurs in der Gesellschaft sich herausgebildet hat. Aus ethnischen Gruppen – also meinetwegen die türkische Gruppe – wurden dann plötzlich Muslime, also aus einer ethnischen Kategorie wurde eine religiöse Kategorie, und hinzu kam, dass dieses dann natürlich thematisiert wurde, aber die meisten Menschen die verschiedenen Spielarten des Islam gar nicht auseinanderhalten können. Das heißt, sie homogenisieren die Gläubigen, und das ist natürlich ein Problem, und das wird an solchen Dingen deutlich.
Nein, man kann auch sehen, wie zeitversetzt etwa die Einführung von Hartz IV die Ängste und damit auch wieder Abwehrreaktionen in einigen Sozialgruppen dann deutlich zugenommen hat. Und wir sehen natürlich auch, dass die verschiedenen Bedrohungsentwicklungen durchaus dann dazu führen, dass diejenigen, die sich bedroht fühlen in ihrer Existenz, oder wenn sie auch nur Angst haben, dass die deutlich höhere Werte, bezogen auf unsere Elemente der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit haben. Das heißt, wenn eine Gesellschaft in die Verunsicherung hineingeht, dann leiden darunter meist die Schwachen.
Kassel: Diese Verunsicherung, geht es da wirklich um Fakten oder geht es da um Gefühle? Denn man muss ja de facto sagen, im Vergleich zu anderen Ländern der Welt – auch wenn wir jetzt über die Wirtschafts-, Finanz-, und schließlich Schuldenkrise reden – ist ja die Bedrohung in Deutschland gar nicht so, so groß. Also es geht sicherlich zum Teil auch um eine durchaus nur gefühlte Bedrohung.
Heitmeyer: Ja, das ist natürlich richtig. Nur, wenn die Menschen sagen, sie hätten Angst, dann ist für sie diese Angst real, und es sei denn, man will damit instrumentalisieren, wie das gelegentlich ja auf der politischen Bühne passiert, aber sie ist real, und man muss auch sehen, dass wir es ja – das hat die OECD ja gerade erst mitgeteilt, dass wir eine massive soziale Spaltung in dieser Gesellschaft haben, die nirgends in diesen OECD-Ländern so schnell angestiegen ist, wie in Deutschland, und das setzt sich natürlich auch in der Wahrnehmung fest. Andererseits muss man, und da haben Sie völlig recht, muss man auch sagen, dass sich die Wahrnehmung etwa von Wirtschaftskrise durchaus – ich nenne das mal – aufgehellt hat, aufgrund auch der Vergleiche, die die Menschen dann anstellen, wie es den Spaniern geht, wie es den Griechen geht, und so entsteht dann auch so etwas wie ein positives Selbstbild.
Kassel: Wir reden heute Nachmittag im Deutschlandradio Kultur mit Wilhelm Heitmeyer, dem Leiter der Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die mit der Veröffentlichung des letzten Bandes der deutschen Zustände jetzt offiziell zu Ende gegangen ist, und nach zehn Jahren, zehn Bänden, müssen wir natürlich auch ein bisschen eine Bilanz jetzt ziehen. Ich habe auch erwähnt, was in publizistischer Hinsicht da passiert ist, aber haben Sie eigentlich, Herr Heitmeyer, jetzt nach zehn Jahren das Gefühl, sie haben wirklich etwas bewirkt mit dieser Studie und den Veröffentlichungen der Ergebnisse?
Heitmeyer: Ja, also man muss natürlich differenzieren: Zum einen ist es ja die weltweit größte und am längsten laufende Studie, sodass wir auch im wissenschaftlichen Bereich Kollegen aus dem Ausland überzeugen konnten, dass sie mit diesen Daten arbeiten, um Dinge voranzutreiben. Das Zweite ist, dass wir in zahlreiche Institutionen eingesickert sind, sozusagen, durch diese ständige Thematisierung solcher Umstände in Deutschland oder solcher deutschen Zustände, dass Jugendverbände, dass Kirchen und andere Institutionen, die sich für gesellschaftliche Integration interessieren, dass die unsere Ergebnisse aufnehmen und zur Grundlage ihrer Arbeit machen.
Und das bedeutet dann natürlich auch, dass beispielsweise die Ausweitung über den Rassismus hinaus in diese anderen Gruppen, dass das auch den Blick verändert hat für zahlreiche Institutionen, denn durch die Verengung in den 90er-Jahren noch auf Rassismus wurden Opfer erster und zweiter Klasse geschaffen, und das haben wir, glaube ich, gründlich durchgerüttelt.
Kassel: Verändert man sich eigentlich auch als Leiter der Studie menschlich nach zehn Jahren? Das hört sich sehr neutral an jetzt bei Ihnen, aber wir sind immer wieder als Publikum bei der Veröffentlichung einzelner Bände ja doch von dem einen oder anderen Ergebnis regelrecht schockiert gewesen. Verliert man ein bisschen den Glauben an die Menschheit, wenn man diese Zahlen analysiert?
Heitmeyer: Das will ich nicht sagen. Man muss schon konstatieren, dass es – und ich habe das ja schon erwähnt – dass sich nicht alles zum Negativen hin gewendet hat, und von daher glaube ich nicht, dass sich da so Veränderungen eingestellt haben. Es ist allerdings auch zu konstatieren, dass eine grundsätzliche Verbesserung der Lage dieser abgewerteten Gruppen nicht eingestellt hat, und das ist für eine Gesellschaft, die ja im Grund ein ganz anderes Selbstverständnis hat, nämlich sozial, human, liberal zu sein, ist das kein Scheck auf die Zukunft, dass es demnächst sich verändern wird. Für die Opfer ist es ohnehin gleichgültig. Sie können sich dagegen häufig ja sowieso nicht wehren.
Kassel: Sagt Wilhelm Heitmeyer, der Leiter der Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland. Der letzte Band der Reihe "Deutsche Zustände – Band 10" und damit neben der aktuellen Analyse natürlich auch noch so eine Art Abschlussbericht erscheint in der Edition Suhrkamp. Herr Heitmeyer, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Heitmeyer: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG)
Wilhelm Heitmeyer: Guten Tag!
Kassel: In welchen konkreten Punkten hat sich denn die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in den letzten zehn Jahren, also in diesem Untersuchungszeitraum, signifikant verändert?
Heitmeyer: Nun, es sind ganz uneinheitliche Verläufe zu diesem Syndrom mit seinen zehn Elementen – Sie haben die schon angesprochen, von Rassismus über Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, Abwertung von Behinderten, von Obdachlosen –, und diese Entwicklungen sind wie gesagt uneinheitlich über die Zeit hinweg. Wir haben beispielsweise positive Entwicklungen beim Antisemitismus und Abwertung von Behinderten. Wir haben eher relativ stabile Verläufe über die zehn Jahre bei der Islamfeindlichkeit und bei den etablierten Vorrechten, und – das ist jetzt allerdings nicht so erfreulich – wieder ansteigende Zustimmung etwa beim Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit, Abwertung von Obdachlosen und vor allem auch Abwertung von Langzeitarbeitslosen.
Kassel: Fassen wir doch so ein bisschen was auch in Zahlen. Also wenn Sie sagen, wir haben wieder einen Anstieg bei Ausländerfeindlichkeit, Rassismus – in welchen Kategorien bewegen wir uns da?
Heitmeyer: Ja, das ist immer etwas schwierig für einen Wissenschaftler, mit einzelnen Prozentwerten zu operieren. Wir sprechen eher dann von Mittelwertvergleichen. Aber wenn man den Rassismus sieht, dann liegen wir etwa bei 22 Prozent in der Bevölkerung, die behaupten, Aussiedler sollten besser gestellt werden, da sie deutscher Abstammung sind, oder etwa 13 Prozent, die Weißen sind zu Recht führend in der Welt. Und so kann man das dann über die Zeit auch verfolgen, und bei der Frage der Langzeitarbeitslosen liegen die Werte deutlich höher nach dem Motto: Die wollen nicht wirklich arbeiten, die sind nicht interessiert – unabhängig von den genaueren Umständen. Das sagt mehr als die Hälfte der befragten 2000 aus der repräsentativen Studie.
Kassel: Nun haben viele Menschen das Klischee im Kopf, dass diese Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – gerade so die Aspekte Ausländerfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit –, dass das bei Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau besonders ausgeprägt ist. Verschiedene Teile Ihrer Studie haben ja immer wieder gezeigt, dass die Rechnung so einfach nicht aufgeht.
Heitmeyer: Das ist richtig. Also man muss unterscheiden zwischen dem Ausmaß solcher menschenfeindlicher Einstellung gegenüber schwachen Gruppen und den Verläufen, und da konnten wir jetzt, oder mussten wir in den letzten zwei Jahren auch feststellen, dass auch die Besserverdienende für den Anstieg sehr mit verantwortlich sind, und das wirft natürlich kein gutes Licht auf den Zustand dieser Gesellschaft.
Kassel: Kann man eigentlich, wenn man diese zehn Jahre jetzt noch einmal in Augenschein nimmt, Zusammenhänge herstellen zwischen großen Ereignissen, also Dingen wie 9/11 natürlich, dann – um etwas ganz anderes zu nennen – 2006 die Fußball-WM, dieses große Sommermärchen, später dann die Wirtschaftskrisen, Zusammenhänge zwischen solche Ereignissen und konkreten Veränderungen in Ihren Umfrageergebnissen?
Heitmeyer: Ja, nun erscheinen diese Effekte immer zeitversetzt, sodass man das nicht genau lokalisieren kann, denn Einstellungsmuster sind eher träge Konstrukte sozusagen, aber man kann natürlich sehen, dass nach 9/11 ein anderer Diskurs in der Gesellschaft sich herausgebildet hat. Aus ethnischen Gruppen – also meinetwegen die türkische Gruppe – wurden dann plötzlich Muslime, also aus einer ethnischen Kategorie wurde eine religiöse Kategorie, und hinzu kam, dass dieses dann natürlich thematisiert wurde, aber die meisten Menschen die verschiedenen Spielarten des Islam gar nicht auseinanderhalten können. Das heißt, sie homogenisieren die Gläubigen, und das ist natürlich ein Problem, und das wird an solchen Dingen deutlich.
Nein, man kann auch sehen, wie zeitversetzt etwa die Einführung von Hartz IV die Ängste und damit auch wieder Abwehrreaktionen in einigen Sozialgruppen dann deutlich zugenommen hat. Und wir sehen natürlich auch, dass die verschiedenen Bedrohungsentwicklungen durchaus dann dazu führen, dass diejenigen, die sich bedroht fühlen in ihrer Existenz, oder wenn sie auch nur Angst haben, dass die deutlich höhere Werte, bezogen auf unsere Elemente der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit haben. Das heißt, wenn eine Gesellschaft in die Verunsicherung hineingeht, dann leiden darunter meist die Schwachen.
Kassel: Diese Verunsicherung, geht es da wirklich um Fakten oder geht es da um Gefühle? Denn man muss ja de facto sagen, im Vergleich zu anderen Ländern der Welt – auch wenn wir jetzt über die Wirtschafts-, Finanz-, und schließlich Schuldenkrise reden – ist ja die Bedrohung in Deutschland gar nicht so, so groß. Also es geht sicherlich zum Teil auch um eine durchaus nur gefühlte Bedrohung.
Heitmeyer: Ja, das ist natürlich richtig. Nur, wenn die Menschen sagen, sie hätten Angst, dann ist für sie diese Angst real, und es sei denn, man will damit instrumentalisieren, wie das gelegentlich ja auf der politischen Bühne passiert, aber sie ist real, und man muss auch sehen, dass wir es ja – das hat die OECD ja gerade erst mitgeteilt, dass wir eine massive soziale Spaltung in dieser Gesellschaft haben, die nirgends in diesen OECD-Ländern so schnell angestiegen ist, wie in Deutschland, und das setzt sich natürlich auch in der Wahrnehmung fest. Andererseits muss man, und da haben Sie völlig recht, muss man auch sagen, dass sich die Wahrnehmung etwa von Wirtschaftskrise durchaus – ich nenne das mal – aufgehellt hat, aufgrund auch der Vergleiche, die die Menschen dann anstellen, wie es den Spaniern geht, wie es den Griechen geht, und so entsteht dann auch so etwas wie ein positives Selbstbild.
Kassel: Wir reden heute Nachmittag im Deutschlandradio Kultur mit Wilhelm Heitmeyer, dem Leiter der Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die mit der Veröffentlichung des letzten Bandes der deutschen Zustände jetzt offiziell zu Ende gegangen ist, und nach zehn Jahren, zehn Bänden, müssen wir natürlich auch ein bisschen eine Bilanz jetzt ziehen. Ich habe auch erwähnt, was in publizistischer Hinsicht da passiert ist, aber haben Sie eigentlich, Herr Heitmeyer, jetzt nach zehn Jahren das Gefühl, sie haben wirklich etwas bewirkt mit dieser Studie und den Veröffentlichungen der Ergebnisse?
Heitmeyer: Ja, also man muss natürlich differenzieren: Zum einen ist es ja die weltweit größte und am längsten laufende Studie, sodass wir auch im wissenschaftlichen Bereich Kollegen aus dem Ausland überzeugen konnten, dass sie mit diesen Daten arbeiten, um Dinge voranzutreiben. Das Zweite ist, dass wir in zahlreiche Institutionen eingesickert sind, sozusagen, durch diese ständige Thematisierung solcher Umstände in Deutschland oder solcher deutschen Zustände, dass Jugendverbände, dass Kirchen und andere Institutionen, die sich für gesellschaftliche Integration interessieren, dass die unsere Ergebnisse aufnehmen und zur Grundlage ihrer Arbeit machen.
Und das bedeutet dann natürlich auch, dass beispielsweise die Ausweitung über den Rassismus hinaus in diese anderen Gruppen, dass das auch den Blick verändert hat für zahlreiche Institutionen, denn durch die Verengung in den 90er-Jahren noch auf Rassismus wurden Opfer erster und zweiter Klasse geschaffen, und das haben wir, glaube ich, gründlich durchgerüttelt.
Kassel: Verändert man sich eigentlich auch als Leiter der Studie menschlich nach zehn Jahren? Das hört sich sehr neutral an jetzt bei Ihnen, aber wir sind immer wieder als Publikum bei der Veröffentlichung einzelner Bände ja doch von dem einen oder anderen Ergebnis regelrecht schockiert gewesen. Verliert man ein bisschen den Glauben an die Menschheit, wenn man diese Zahlen analysiert?
Heitmeyer: Das will ich nicht sagen. Man muss schon konstatieren, dass es – und ich habe das ja schon erwähnt – dass sich nicht alles zum Negativen hin gewendet hat, und von daher glaube ich nicht, dass sich da so Veränderungen eingestellt haben. Es ist allerdings auch zu konstatieren, dass eine grundsätzliche Verbesserung der Lage dieser abgewerteten Gruppen nicht eingestellt hat, und das ist für eine Gesellschaft, die ja im Grund ein ganz anderes Selbstverständnis hat, nämlich sozial, human, liberal zu sein, ist das kein Scheck auf die Zukunft, dass es demnächst sich verändern wird. Für die Opfer ist es ohnehin gleichgültig. Sie können sich dagegen häufig ja sowieso nicht wehren.
Kassel: Sagt Wilhelm Heitmeyer, der Leiter der Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland. Der letzte Band der Reihe "Deutsche Zustände – Band 10" und damit neben der aktuellen Analyse natürlich auch noch so eine Art Abschlussbericht erscheint in der Edition Suhrkamp. Herr Heitmeyer, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Heitmeyer: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG)