"Kein Raum und kein Recht"

Von Kirsten Serup-Bilfeldt |
Ernst Flatow war vom Judentum zum Protestantismus konvertiert, hatte Theologie studiert und war in den Pfarrdienst eingetreten. Als die Nazis ihn wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgten, erhielt der Kölner kaum Hilfe von seiner Kirche.
Ein Mann mit Ecken und Kanten: knorrig, eigenwillig, unerschrocken und mit einem erheblichen Schuss typisch britischer Exzentrik ausgestattet. Ein aufrechter Kirchenmann, der gern querschießt und sich mühelos mit allen Autoritäten des Landes ‒ etwa mit Sir Winston Churchill ‒ anlegt. Ein Mann, dessen Rhetorik in den Debattierklubs der Universität Oxford geschliffen wurde und der kompromisslos das sagt, was er für richtig hält.

Für richtig hält es George Bell, der anglikanische Bischof von Chichester, deutschen Flüchtlingen und Emigranten in Großbritannien Zuflucht zu bieten. Er macht sich zum Fürsprecher für alle, die seine Hilfe brauchen. Zu seinen Schützlingen gehören auch der deutsch-jüdische Jurist Gerhard Leibholz und seine Frau Sabine, Zwillingsschwester des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer.

Mit einem britischen Visum, das Bischof Bell ihm durch persönliche Intervention besorgt hat, mit einem solchen Papier von unschätzbarem Wert in der Tasche, sitzt im Winter 1939 ein Mann mit seiner Verlobten in einem Zug, der zum Grenzübergang Aachen fährt.

Der Reisende heißt Ernst Flatow, ist ehemaliger evangelischer Pfarrer aus Köln, 46 Jahre alt und hat in seiner Heimat nichts mehr zu hoffen. Als sogenannter "Judenchrist" ist er aus dem Pfarrdienst entlassen worden und mit einem "Ruhegehalt" von 197 Reichsmark praktisch brotlos. Von seiner ersten Frau ist er geschieden, er besitzt weder Arbeit noch ein Zuhause.

Pfarrer Ernst Flatow und seine junge Verlobte Irene Breslauer sind auf dem Weg nach Großbritannien. Sie reisen ihrer Rettung, aber auch einem ungewissen Schicksal entgegen. Doch für das, was dann auf dem kleinen Grenzbahnhof geschieht, gibt es wohl keine schlüssige Erklärung: Als der Zug hält, greift Ernst Flatow nach seinem Koffer und stürzt aus dem Waggon. Irene Breslauer bleibt fassungslos zurück. Sie hört nur noch die Worte "Ich geh nicht mit…"

Pfarrer Siegfried Kuttner: "Ich geh nicht mit. Kann man nicht nachvollziehen. Ich weiß es von Bonhoeffer, das war ähnlich, der war ja auch in Amerika, in New York bei Freunden, die wollten ihn halten, er wäre Professor geworden und alles Mögliche, aber er hat gesagt: Ich muss zurück zu meiner Kirche."

Siegfried Kuttner ist heute "Nachfolger" Ernst Flatows als Pfarrer in der Friedenskirchen-Gemeinde in Köln-Ehrenfeld. Intensiv hat er sich mit Lebenslauf und Schicksal seines jahrzehntelang vergessenen Kollegen befasst. Warum Flatow sich zu der kopflosen, überstürzten Flucht aus dem Zug entschlossen hat, hat auch er nicht ergründen können. Sicher ist nur, dass Irene Breslauer wohlbehalten ins sichere Asyl nach London reist, ihr Verlobter dagegen in Deutschland bleibt. Und dass er diesen Entschluss mit dem Leben bezahlen wird.

Siegfried Kuttner: "Sie ist ausgewandert, und Flatow ist stehenden Fußes wieder zurückgekehrt… Irene Breslauer hat überlebt in London, und als das erste Buch über Flatow herauskam von Hans Prolingheuer ,Ausgetan aus dem Land der Lebendigen’, hat sie sich gemeldet und hat gesagt: Ich weiß, was mit ihm passiert ist. Er ist verhungert in Warschau."

Ernst Flatows Schicksal hat Geschichte geschrieben ‒ einen kleinen Ausschnitt der unrühmlichen Geschichte der evangelischen Kirche im Dritten Reich. Er war der erste protestantische Pfarrer, der aufgrund seiner "nichtarischen Abstammung" aus dem kirchlichen Dienst entlassen wurde. Und er war einer von zwei Pfarrern jüdischer Herkunft, die die Schoah nicht überlebten.

Kirkegaard hat ihn begeistert
Ernst Flatow, 1887 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Fabrikanten in Berlin geboren, studierte zunächst ein bisschen Jura, ein bisschen Kunstgeschichte.

Siegfried Kuttner: "Dann kam der Erste Weltkrieg, da hat er teilgenommen und auch das Eiserne Kreuz bekommen, ist danach ins ,Rauhe Haus’ gegangen in Hamburg im diakonischen Bereich, hat da gearbeitet und hat dann mit 40 Jahren noch mal angefangen, Theologie zu studieren. 1913 hat er sich taufen lassen… Er kam aus der Philosophie, hat auch Philosophie studiert, und Kirkegaard hat ihn begeistert. Kirkegaard war ja fast schon radikaler Christ… das hat ihn sehr beeinflusst… Er hat dann das erste Examen gemacht und kam danach nach Köln."

Als Hilfsprediger betreut Flatow von 1926 bis 1927 eine Gemeinde dort, wo Köln am kölschesten ist, im Arbeiterviertel Ehrenfeld. Nachdem er 1928 sein zweites Examen bestanden hat, bekommt er eine Anstellung als Seelsorger der linksrheinischen Krankenhäuser. Das ist damals noch ein Novum: Ernst Flatow wird der erste Krankenhausseelsorger in Köln.

Fünf Jahre später wehen die Hakenkreuzfahnen über der Domstadt. Und intuitiv soll der protestantische Pfarrer Ernst Flatow seine Furcht vor den neuen Machthabern formuliert haben: "Jetzt sind wir Juden dran…"

Am 7. April 1933 verabschiedet die Reichsregierung das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Dort heißt es in Paragraph 3:

"Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen…"

Siegfried Kuttner: "Flatow hat es sofort getroffen. Er war ja Staatsbeamter, er war angestellt bei der Stadt Köln, also nicht bei der Kirche und wie Adenauer war er sofort raus. Mit dem Arierparagraphen im April wurde er von der Stadt Köln schon entlassen… Leichter Widerstand kam bei der Einführung des Arierparagraphen im Kirchengesetz ‒ das war Martin Niemöller, der Pfarrernotbund in Berlin. Dem haben sich viele angeschlossen, und die haben gesagt: Wenn einer getauft wurde und evangelischer Pfarrer geworden ist, dann ist er Christ! Das interessierte die Nazis aber überhaupt nicht."

Im Sommer 1933 wird der Krankenhausseelsorger Ernst Flatow durch den Kölner Stadtbeigeordneten Dr. Karl Coerper, einen Sohn des ersten Ehrenfelder Gemeindepfarrers Fritz Coerper, aus seinem Dienst entlassen. Die bloße Entlassung des Pfarrers reichte Coerper allerdings noch nicht; mit zäher Verbissenheit setzt er noch durch, dass Flatow auch seine kleine Dienstwohnung aufgeben muss.

Ernst Flatow, der nun ums nackte Überleben kämpft, stellt an das Konsistorium der Rheinprovinz den Antrag, ihn zu pensionieren, damit er wenigstens seine Pension bekommen kann. Nach einigem Tauziehen schickt das Konsistorium seinen Bescheid an den evangelischen Oberkirchenrat in Berlin. Bewilligt wird Flatow ein "Ruhegehalt" von 197 Reichsmark.

In dem Schriftstück heißt es: "Nach § 1 des Kirchengesetzes betreffend die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten vom 6. September 1933 kann der Hilfsgeistliche Flatow als Geistlicher nicht mehr berufen werden, weil er nichtarischer Abstammung ist... Flatow hat in seinem Äußeren und in seinem Wesen so in die Augen springende Merkmale an sich, die von dem Volk als der jüdischen Rasse eigen angesehen werden, dass eine Beschäftigung in einer Gemeinde unmöglich ist."

Versagen und Verrat der evangelischen Kirche
Die evangelische Kirche in Hitlers Deutschland ist in ihrer großen Mehrheit obrigkeitshörig, antisemitisch und feige. Kreuz und Hakenkreuz miteinander zu verbinden fällt ihr, trotz des gelegentlichen Widerstandes einzelner Mitglieder, nicht schwer. Und auch die "Bekennende Kirche", die Gegenbewegung zu den nationalsozialistisch geprägten "Deutschen Christen" "bekennt" sich weder zu den verfolgten Juden noch zu ihren eigenen Mitgliedern jüdischer Herkunft. Vielfach teilt sie den Antisemitismus der Nationalsozialisten, missbilligt lediglich die Formen der Verfolgung.

Und so ist der Lebenslauf Ernst Flatows vom Versagen, ja, vom Verrat der evangelischen Kirche gezeichnet, spiegelt seine Biografie die ganze Palette kirchlicher Verfehlungen und Versäumnisse wider:

"Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart eines Juden nichts geändert. Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht!"

… heißt es in einer Verlautbarung der Evangelischen Landeskirche von Hessen-Nassau aus dem Jahr 1941.

Nach seiner plötzlichen Flucht aus dem Zug begibt sich Ernst Flatow auf eine Odyssee quer durch Deutschland. Er reist hierhin und dorthin, findet hier und da Unterschlupf bei Freunden, die nicht immer Freunde bleiben.

Siegfried Kuttner: "Ein schwieriger Mann. Ist dann in Wuppertal untergetaucht bei der Familie eines Freundes. Und die Frau seines Freundes sagte: Das ist der komplizierteste Mensch, den ich je erlebt habe… Er war sehr anstrengend. Und das ging dann immer ein, zwei Monate… Zum Schluss wurde es dann auch gefährlich, weil die Gestapo dann auch gesucht hat."

Ernst Flatow, heimatlos geworden und aus allen Bindungen herausgefallen, immer auf dem Sprung, zieht weiter. Wo er sich bei Fortschreiten des Krieges versteckte, wohin er bei Bombenangriffen floh, wer ihm wenigstens vorübergehend Schutz und Zuflucht bot, ist unbekannt. Von seiner Kirche, das wird er gewusst haben, war nach Ausbruch des Krieges noch weniger zu erwarten als vorher.

Im November 1941 findet er Zuflucht in den Lobetaler Anstalten, eines Heimes der Diakonie bei Berlin. Dort spürt ihn im Frühjahr 1942 die Gestapo auf. Er wird ins Warschauer Ghetto deportiert.

Nach Auskunft des Schweizer Roten Kreuzes ist Pfarrer Flatow 1942 bei Bauarbeiten an den Ghettomauern vor Hunger zusammengebrochen und gestorben.
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