Kein Wille zur Macht
Dass unsere Gesellschaften, die westlichen, dekadent geworden seien, hört man seit Jahren. Es sind nicht nur die islamistischen Propagandareden, sondern Abstiegs- und Endspiel-Theorien westlicher Historiker, die die Vorstellung von Dekadenz nahelegen.
Das Wort "Dekadenz" war immer schon ein problematischer Kampfbegriff europäischer Kulturkritik und wurde von faschistischer und kommunistischer Seite besonders propagiert. Könnte man ihn von seiner ideologisch-weltanschaulichen Begründung befreien und analytischer für eine Reihe neuerer Erscheinungen des sozialen Alltags in Europa, aber nicht zuletzt auch in Deutschland benutzen? Versuchen wir es.
Friedrich Nietzsche war es, der das Wort "Dekadenz" ursprünglich im Zusammenhang seines berühmt-berüchtigten Begriffs "Wille zur Macht" definierte: diesen nicht zu haben, sei ein Zeichen für Dekadenz und er bezog sich dabei vor allem auf das Christentum, den christlich-jüdischen Priester bzw. Intellektuellen im Unterschied zu vitalen jungen Völkern, der sogenannten blonden Bestie. Das war seine Skandal machende Erläuterung, die uns nicht weiterhilft.
Aber es gibt eine andere, die rein analytisch gewandt den heutigen Nerv des Problems trifft. Mit Nietzsches Worten: "Deutschland, Deutschland über Alles - ist vielleicht die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist. Warum überhaupt Deutschland – frage ich: wenn es nicht etwas will, vertritt, darstellt, was mehr Wert hat, als irgendeine andere bisherige Macht vertritt…" So Nietzsche. Während seine klassische Definition Macht als physische Aggression gegenüber anderen Staaten versteht, ist hier ausschließlich Macht im Geistigen, Ehrgeiz im Innovatorischen gemeint, die selbstverständlich auch immer agonal ist und sein will.
Und da sind wir am Problem: Ist es nicht so, dass der derzeitige und seit langem sich herausbildende Zustand der deutschen Mentalitäten – trotz aktueller Eminenz-Programme einiger Universitäten – weit entfernt ist von solchen Ambitionen? Ist nicht auch der Machtbegriff selbst in Misskredit geraten? Und zwar deshalb, weil es in Deutschland auf Grund der jahrhunderte langen Machtlosigkeit seiner Kleinstaaten – sieht man von Preußen ab – dazu gekommen war, Macht und Recht nicht zusammendenken zu können, weshalb man die römische und die angelsächsische Verbindung beider nie wirklich verstand und wenn man selbst Macht schließlich auszuüben begann, dazu neigte, sie vom Recht zu trennen – siehe Bruch der belgischen Neutralität 1914.
Als unbewusste Gegenhaltung – vor allem wegen der Rechtlosigkeit nationalsozialistischer Machtausübungen – ist heute etwas entstanden, was man umschreiben könnte mit der Charakterisierung: überhaupt nichts mehr zu wollen, was über den alltäglichen Horizont hinausgeht. Das heißt dann auch: Reduktion von Innenpolitik auf Sozialhilfe, von Außenpolitik auf Humanhilfe. Die Unsicherheit in der deutschen Afghanistanhaltung zeigt dies deutlich. Am Ende will man Reduktion von Politik überhaupt und stattdessen die schiere Präsenz des Privaten. Und wie sieht dieses Private, diese Privatisierung des Öffentlichen inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlichen Gesellschaften aus?
Die immer banaler und partiell obszöner werdenden Programme selbst des öffentlichen Fernsehens zeigen eine Gesellschaft des Weinerlichen sich miteinander Aussprechens, das Panorama einer neuen Unterschicht, die nichts außer Nahrungsaufnahme will und deren analphabetisches Bewusstsein und deren sich Gehenlassen zu einer allgemeinen Norm zu werden droht, weil es keine Eliten und Institutionen mehr gibt, die über ihre Funktion hinaus so etwas wie eine kulturelle Alternative setzen.
Wo aber es keinen Himmel mehr gibt, da droht überall die Hölle der Banalität! Es wäre also an der Zeit, den Willen zu etwas – eben den Willen zur Macht – zu entdämonisieren, zu bejahen, nämlich als Willen zum Politischen.
Der Literaturwissenschaftler und Essayist Karl Heinz Bohrer, geboren 1932 in Köln, zählt zu den international renommiertesten deutschen Geisteswissenschaftlern. Er promovierte 1962 an der Universität Heidelberg und habilitierte sich 1978 an der Universität Bielefeld. Von 1968 bis 1974 war Bohrer Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", anschließend viele Jahre deren Korrespondent in England. Von 1982 bis 1997 lehrte er Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld. Seit 1984 ist Bohrer, der vielfach ausgezeichnet wurde, Mitherausgeber der Zeitschrift "Merkur" und unterrichtet an der Universität Stanford/California. - Veröffentlichungen: "Die gefährdete Phantasie" (1970), "Die Ästhetik des Schreckens" (1978), "Ein bißchen Lust am Untergang" (1979), "Plötzlichkeit" (1981), "Der romantische Brief" (1987), "Nach der Natur" (1988), "Der Abschied" (1996), "Die Grenzen des Ästhetischen" (1998), "Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne" (2007).
Friedrich Nietzsche war es, der das Wort "Dekadenz" ursprünglich im Zusammenhang seines berühmt-berüchtigten Begriffs "Wille zur Macht" definierte: diesen nicht zu haben, sei ein Zeichen für Dekadenz und er bezog sich dabei vor allem auf das Christentum, den christlich-jüdischen Priester bzw. Intellektuellen im Unterschied zu vitalen jungen Völkern, der sogenannten blonden Bestie. Das war seine Skandal machende Erläuterung, die uns nicht weiterhilft.
Aber es gibt eine andere, die rein analytisch gewandt den heutigen Nerv des Problems trifft. Mit Nietzsches Worten: "Deutschland, Deutschland über Alles - ist vielleicht die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist. Warum überhaupt Deutschland – frage ich: wenn es nicht etwas will, vertritt, darstellt, was mehr Wert hat, als irgendeine andere bisherige Macht vertritt…" So Nietzsche. Während seine klassische Definition Macht als physische Aggression gegenüber anderen Staaten versteht, ist hier ausschließlich Macht im Geistigen, Ehrgeiz im Innovatorischen gemeint, die selbstverständlich auch immer agonal ist und sein will.
Und da sind wir am Problem: Ist es nicht so, dass der derzeitige und seit langem sich herausbildende Zustand der deutschen Mentalitäten – trotz aktueller Eminenz-Programme einiger Universitäten – weit entfernt ist von solchen Ambitionen? Ist nicht auch der Machtbegriff selbst in Misskredit geraten? Und zwar deshalb, weil es in Deutschland auf Grund der jahrhunderte langen Machtlosigkeit seiner Kleinstaaten – sieht man von Preußen ab – dazu gekommen war, Macht und Recht nicht zusammendenken zu können, weshalb man die römische und die angelsächsische Verbindung beider nie wirklich verstand und wenn man selbst Macht schließlich auszuüben begann, dazu neigte, sie vom Recht zu trennen – siehe Bruch der belgischen Neutralität 1914.
Als unbewusste Gegenhaltung – vor allem wegen der Rechtlosigkeit nationalsozialistischer Machtausübungen – ist heute etwas entstanden, was man umschreiben könnte mit der Charakterisierung: überhaupt nichts mehr zu wollen, was über den alltäglichen Horizont hinausgeht. Das heißt dann auch: Reduktion von Innenpolitik auf Sozialhilfe, von Außenpolitik auf Humanhilfe. Die Unsicherheit in der deutschen Afghanistanhaltung zeigt dies deutlich. Am Ende will man Reduktion von Politik überhaupt und stattdessen die schiere Präsenz des Privaten. Und wie sieht dieses Private, diese Privatisierung des Öffentlichen inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlichen Gesellschaften aus?
Die immer banaler und partiell obszöner werdenden Programme selbst des öffentlichen Fernsehens zeigen eine Gesellschaft des Weinerlichen sich miteinander Aussprechens, das Panorama einer neuen Unterschicht, die nichts außer Nahrungsaufnahme will und deren analphabetisches Bewusstsein und deren sich Gehenlassen zu einer allgemeinen Norm zu werden droht, weil es keine Eliten und Institutionen mehr gibt, die über ihre Funktion hinaus so etwas wie eine kulturelle Alternative setzen.
Wo aber es keinen Himmel mehr gibt, da droht überall die Hölle der Banalität! Es wäre also an der Zeit, den Willen zu etwas – eben den Willen zur Macht – zu entdämonisieren, zu bejahen, nämlich als Willen zum Politischen.
Der Literaturwissenschaftler und Essayist Karl Heinz Bohrer, geboren 1932 in Köln, zählt zu den international renommiertesten deutschen Geisteswissenschaftlern. Er promovierte 1962 an der Universität Heidelberg und habilitierte sich 1978 an der Universität Bielefeld. Von 1968 bis 1974 war Bohrer Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", anschließend viele Jahre deren Korrespondent in England. Von 1982 bis 1997 lehrte er Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld. Seit 1984 ist Bohrer, der vielfach ausgezeichnet wurde, Mitherausgeber der Zeitschrift "Merkur" und unterrichtet an der Universität Stanford/California. - Veröffentlichungen: "Die gefährdete Phantasie" (1970), "Die Ästhetik des Schreckens" (1978), "Ein bißchen Lust am Untergang" (1979), "Plötzlichkeit" (1981), "Der romantische Brief" (1987), "Nach der Natur" (1988), "Der Abschied" (1996), "Die Grenzen des Ästhetischen" (1998), "Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne" (2007).