Keine Entschädigung, keine Entschuldigung
Die Bewilligungspraxis zur Ghettorente ist kein Ruhmesblatt der Justiz in Nordrhein-Westfalen: Viele Antragsteller starben, ohne jemals Geld erhalten zu haben. Ein wissenschaftlicher Gutachter kritisiert die Urteilspraxis und "fahrlässige Ignoranz" der Richter.
Vier Jahre lang hat Stephan Lehnstaedt an seinem Buch gearbeitet. Der Historiker am Deutschen Historischen Institut in Warschau hat seit 2007 als wissenschaftlicher Gutachter die Ghettorenten-Fälle begleitet. Nun liegt sein Werk vor mit dem langen Titel "Geschichte und Gesetzesauslegung – zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten".
Stephan Lehnstaedt: "Es ist eine juristische Materie. Juristen sind eh nicht dafür bekannt, dass sie eine angenehme, leicht nachvollziehbare Sprache haben, und man muss versuchen, das ein bisschen verständlich zu machen. Aber einfach wird es nie."
Einfach hatten es auch die hochbetagten Holocaust-Überlebenden nicht gehabt. Die schwer begreifliche juristische Terminologie und bürokratische Hürden waren nur einige Stolpersteine für sie, die nach 70 Jahren vor Gerichten ihre Ghettoarbeit nachweisen mussten. Stephan Lehnstaedt fand zudem heraus, dass auch die Behandlung ihrer Klagen vor deutschen Gerichten ganz unterschiedlich verlief. Die schlechtesten Chancen hatten die Überlebenden in Nordrhein-Westfalen. Über 90 Prozent der Anträge haben die dortigen Sozialrichter abgelehnt. Und sich stets geweigert, die Überlebenden persönlich anzuhören:
"Ich habe mehrere hundert Urteile gelesen, diese waren bis vor einiger Zeit im Internet online verfügbar, inzwischen sind sie von der Seite dort auch gelöscht worden, leider. Und in diesen ganzen Urteilen ist mir kein einziges untergekommen, wo man Kläger tatsächlich angehört hätte, ganz im Gegenteil sind mir viele Urteile untergekommen, wo der Rechtsanwalt des Klägers gesagt hat: Bitte, wir können den doch hören – und wo ganz explizit gesagt wurde: Nein, wir wollen das nicht. In einem ganz besonders bemerkenswerten Fall ist tatsächlich ein Kläger auf eigene Kosten aus Israel angereist, er saß also vor dem Sitzungssaal. Der Rechtsanwalt hat gemeint: Mein Mandant sitzt doch draußen, bitten wir ihn doch herein – und es wurde gesagt: Nein, es ist nicht nötig, wir hören ihn nicht an. Das ist eine beinahe fahrlässige Ignoranz, es ist, glaube ich, auch menschlich nicht nachvollziehbar."
Dass die Selbstkritik nicht die Stärke der nordrhein-westfälischen Richter ist, bewies die Tagung "Ghettoarbeit und Rentenanspruch", veranstaltet vom Landessozialgericht im vergangenen Dezember in Essen. Die Präsidentin des Landessozialgerichts, Ricarda Brands, schob die ganze Misere auf das schlechte Gesetz:
"Die mit den Streitsachen befassten Richterinnen und Richter haben es sich bei ihrer Arbeit durchweg nicht leicht gemacht. Sie haben bei jeder einzelnen Entscheidung mit sich und vor allem mit dem Gesetz gerungen. Dieses Gesetz bereitete nämlich oft Schwierigkeiten, zu Ergebnissen zu gelangen, die dem eigenen Rechtsgefühl entsprachen."
Es wurde immer korrekt nach Gesetz gearbeitet, betonten auch andere Tagungsredner. Aber was tun, wenn man jahrelang nicht wusste, ob fünf Kartoffeln als Lohn anzurechnen sind? Man könnte fast Mitleid bekommen mit den Richtern, denen das strenge Ghettorentengesetz derartig die Hände gebunden hat.
Man könnte es, wüsste man nicht, dass in anderen Bundesländern die Holocaust-Überlebenden anders behandelt wurden. Zum Beispiel in Bayern am Münchner Sozialgericht. Der dortige Richter Andreas Knipping hat zwar nur etwa 60 Fälle aus Bayern, Tschechien , der Slowakei und Österreich bearbeitet. Doch hat er jeden Überlebenden persönlich angeschrieben, sie immer zu Verhandlungen eingeladen und damit oft entscheidende Fragen geklärt.
Hängt also eine menschliche und würdige Behandlung der Anliegen von Holocaust-Überlebenden von der persönlichen Einstellung der Richter ab? Und scheitern dann die Ansprüche an einem Nicht-Wissen-Wollen der Beamten?
Auch der Großteil der Deutschen wisse nicht viel über die Nazi-Vergangenheit oder möchte gerne endlich den Mantel des Vergessens darüber legen, sagt der Münchner Richter Andreas Knipping:
"Ich glaube, die bewusste Minderheit, die sich extrem damit beschäftigt, zu der ich ja auch gehöre, ist halt nicht repräsentativ für sehr viele andere Leute, die davon wohl keine Ahnung haben, die nun sagen können: Hitler hat die Juden umgebracht. Aber wann, wo, wie, was war da? Ich mache viel Unterricht auch mit Studenten, auch mit künftigen Mitarbeiter der Rentenversicherung, und stelle auch fest, dass da so gut wie nichts bekannt ist. Das sind nicht welche, die nationalsozialistisch gestimmt sind oder speziell was gegen die Juden hätten. Makaber gesagt, denen ist ein Verfolgungsschicksal eines Juden ungefähr so weit weg wie ein Schicksal des einen oder anderen Indianerstammes im 19 Jahrhundert in Amerika."
Die Essener Richter sind da heute zwar mehr im Bilde. Doch bei der Tagung wollten sie plötzlich beweisen, dass die Ghettorente eine reine Wiedergutmachungsgeschichte sei. Was hat denn ein Verfahren , bei dem es um den gesetzlichen Anspruch auf Rente nach getaner Arbeit handelt, mit Entschädigung aus gutem Willen zu tun? Kristin Platt vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Universität Bochum weiß die Antwort: ein Alibi für eigene Fehlurteile.
"Der Wiedergutmachungsaspekt, der hineingenommen wurde, erklärt die Kehrtwende, die 2009 eingeleitet wurde. Dass man gesagt hat, wir senken die Kriterien und wir tun jetzt so, als sei das eine Entschädigungsfrage, aber eigentlich haben wir von Anfang an trotzdem Recht gehabt, denn das, was wir machen, ist nur ein 'Okay, wir geben nach', aber nicht 'Wir haben falsch gehandelt'."
Der Historiker Constantin Goschler passte nur zu gut für solche Erklärungen. Denn die Geschichte der Wiedergutmachung ist Goschlers Fachgebiet. In plakativen Bildern erklärte er in Essen, dass die deutsche Wiedergutmachung hauptsächlich auf Drängen der Juden aus dem Ausland entstanden sei. Und betonte, dass die israelischen Shoa-Überlebenden selbst nicht einmal wüssten, wofür genau sie Geld aus Deutschland bekämen.
Seine Aussagen stimmten mehr als nachdenklich, bedienen sie doch viel zu bekannte Klischees von Juden, die nur auf Geld aus sind. Die Berliner Anwältin Simona Reppenhagen, selbst Tochter einer Holocaust-Überlebenden. kocht vor Wut. Das ist ein Wissenschaftler, "der einfach die Richter bestätigt und der ein falsches Bild auf Antragsteller wirft. Dass ausgerechnet das LSG, das durch so viele dokumentierte Urteile einen Entschädigungsunwillen gezeigt hat, sich so einen Historiker holt, das ist doch bezeichnend."
Simone Reppenhagen vertritt viele israelische Holocaust-Überlebende vor Gericht in Sachen Ghettorente. Sie weiß genau, wie sie in Nordrhein-Westfalen behandelt wurden:
"Mein Traum war, eine Entschuldigung zu bekommen an die, die im Laufe von so vielen langen Verfahren verstorben sind, ohne eine Leistung bekommen zu haben, oft in Armut verstorben. Dass auch Richter dazu stehen können und sagen 'Okay, nobody is perfect, auch Richter machen Fehler.'"
Der Historiker Stephan Lehnstaedt hätte zu diesen Fehlern einiges sagen können. Doch durfte er seine Gedanken bei der Tagung nicht vortragen. Er wurde zu der Veranstaltung zuerst als Redner eingeladen – und ist dann doch wieder ausgeladen worden. Lehnstaedt ahnt, warum:
"Die Umsetzung von ZRBG gerade in Nordrhein-Westfalen – das ist kein Ruhmesblatt für die dortige Justiz, das habe ich in meinem Buch auch geschrieben und nichts anderes hätte ich auf dem Symposium erzählt. Und ich vermute einfach, dass man das dort nicht hören will."
Stephan Lehnstaedt: "Es ist eine juristische Materie. Juristen sind eh nicht dafür bekannt, dass sie eine angenehme, leicht nachvollziehbare Sprache haben, und man muss versuchen, das ein bisschen verständlich zu machen. Aber einfach wird es nie."
Einfach hatten es auch die hochbetagten Holocaust-Überlebenden nicht gehabt. Die schwer begreifliche juristische Terminologie und bürokratische Hürden waren nur einige Stolpersteine für sie, die nach 70 Jahren vor Gerichten ihre Ghettoarbeit nachweisen mussten. Stephan Lehnstaedt fand zudem heraus, dass auch die Behandlung ihrer Klagen vor deutschen Gerichten ganz unterschiedlich verlief. Die schlechtesten Chancen hatten die Überlebenden in Nordrhein-Westfalen. Über 90 Prozent der Anträge haben die dortigen Sozialrichter abgelehnt. Und sich stets geweigert, die Überlebenden persönlich anzuhören:
"Ich habe mehrere hundert Urteile gelesen, diese waren bis vor einiger Zeit im Internet online verfügbar, inzwischen sind sie von der Seite dort auch gelöscht worden, leider. Und in diesen ganzen Urteilen ist mir kein einziges untergekommen, wo man Kläger tatsächlich angehört hätte, ganz im Gegenteil sind mir viele Urteile untergekommen, wo der Rechtsanwalt des Klägers gesagt hat: Bitte, wir können den doch hören – und wo ganz explizit gesagt wurde: Nein, wir wollen das nicht. In einem ganz besonders bemerkenswerten Fall ist tatsächlich ein Kläger auf eigene Kosten aus Israel angereist, er saß also vor dem Sitzungssaal. Der Rechtsanwalt hat gemeint: Mein Mandant sitzt doch draußen, bitten wir ihn doch herein – und es wurde gesagt: Nein, es ist nicht nötig, wir hören ihn nicht an. Das ist eine beinahe fahrlässige Ignoranz, es ist, glaube ich, auch menschlich nicht nachvollziehbar."
Dass die Selbstkritik nicht die Stärke der nordrhein-westfälischen Richter ist, bewies die Tagung "Ghettoarbeit und Rentenanspruch", veranstaltet vom Landessozialgericht im vergangenen Dezember in Essen. Die Präsidentin des Landessozialgerichts, Ricarda Brands, schob die ganze Misere auf das schlechte Gesetz:
"Die mit den Streitsachen befassten Richterinnen und Richter haben es sich bei ihrer Arbeit durchweg nicht leicht gemacht. Sie haben bei jeder einzelnen Entscheidung mit sich und vor allem mit dem Gesetz gerungen. Dieses Gesetz bereitete nämlich oft Schwierigkeiten, zu Ergebnissen zu gelangen, die dem eigenen Rechtsgefühl entsprachen."
Es wurde immer korrekt nach Gesetz gearbeitet, betonten auch andere Tagungsredner. Aber was tun, wenn man jahrelang nicht wusste, ob fünf Kartoffeln als Lohn anzurechnen sind? Man könnte fast Mitleid bekommen mit den Richtern, denen das strenge Ghettorentengesetz derartig die Hände gebunden hat.
Man könnte es, wüsste man nicht, dass in anderen Bundesländern die Holocaust-Überlebenden anders behandelt wurden. Zum Beispiel in Bayern am Münchner Sozialgericht. Der dortige Richter Andreas Knipping hat zwar nur etwa 60 Fälle aus Bayern, Tschechien , der Slowakei und Österreich bearbeitet. Doch hat er jeden Überlebenden persönlich angeschrieben, sie immer zu Verhandlungen eingeladen und damit oft entscheidende Fragen geklärt.
Hängt also eine menschliche und würdige Behandlung der Anliegen von Holocaust-Überlebenden von der persönlichen Einstellung der Richter ab? Und scheitern dann die Ansprüche an einem Nicht-Wissen-Wollen der Beamten?
Auch der Großteil der Deutschen wisse nicht viel über die Nazi-Vergangenheit oder möchte gerne endlich den Mantel des Vergessens darüber legen, sagt der Münchner Richter Andreas Knipping:
"Ich glaube, die bewusste Minderheit, die sich extrem damit beschäftigt, zu der ich ja auch gehöre, ist halt nicht repräsentativ für sehr viele andere Leute, die davon wohl keine Ahnung haben, die nun sagen können: Hitler hat die Juden umgebracht. Aber wann, wo, wie, was war da? Ich mache viel Unterricht auch mit Studenten, auch mit künftigen Mitarbeiter der Rentenversicherung, und stelle auch fest, dass da so gut wie nichts bekannt ist. Das sind nicht welche, die nationalsozialistisch gestimmt sind oder speziell was gegen die Juden hätten. Makaber gesagt, denen ist ein Verfolgungsschicksal eines Juden ungefähr so weit weg wie ein Schicksal des einen oder anderen Indianerstammes im 19 Jahrhundert in Amerika."
Die Essener Richter sind da heute zwar mehr im Bilde. Doch bei der Tagung wollten sie plötzlich beweisen, dass die Ghettorente eine reine Wiedergutmachungsgeschichte sei. Was hat denn ein Verfahren , bei dem es um den gesetzlichen Anspruch auf Rente nach getaner Arbeit handelt, mit Entschädigung aus gutem Willen zu tun? Kristin Platt vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Universität Bochum weiß die Antwort: ein Alibi für eigene Fehlurteile.
"Der Wiedergutmachungsaspekt, der hineingenommen wurde, erklärt die Kehrtwende, die 2009 eingeleitet wurde. Dass man gesagt hat, wir senken die Kriterien und wir tun jetzt so, als sei das eine Entschädigungsfrage, aber eigentlich haben wir von Anfang an trotzdem Recht gehabt, denn das, was wir machen, ist nur ein 'Okay, wir geben nach', aber nicht 'Wir haben falsch gehandelt'."
Der Historiker Constantin Goschler passte nur zu gut für solche Erklärungen. Denn die Geschichte der Wiedergutmachung ist Goschlers Fachgebiet. In plakativen Bildern erklärte er in Essen, dass die deutsche Wiedergutmachung hauptsächlich auf Drängen der Juden aus dem Ausland entstanden sei. Und betonte, dass die israelischen Shoa-Überlebenden selbst nicht einmal wüssten, wofür genau sie Geld aus Deutschland bekämen.
Seine Aussagen stimmten mehr als nachdenklich, bedienen sie doch viel zu bekannte Klischees von Juden, die nur auf Geld aus sind. Die Berliner Anwältin Simona Reppenhagen, selbst Tochter einer Holocaust-Überlebenden. kocht vor Wut. Das ist ein Wissenschaftler, "der einfach die Richter bestätigt und der ein falsches Bild auf Antragsteller wirft. Dass ausgerechnet das LSG, das durch so viele dokumentierte Urteile einen Entschädigungsunwillen gezeigt hat, sich so einen Historiker holt, das ist doch bezeichnend."
Simone Reppenhagen vertritt viele israelische Holocaust-Überlebende vor Gericht in Sachen Ghettorente. Sie weiß genau, wie sie in Nordrhein-Westfalen behandelt wurden:
"Mein Traum war, eine Entschuldigung zu bekommen an die, die im Laufe von so vielen langen Verfahren verstorben sind, ohne eine Leistung bekommen zu haben, oft in Armut verstorben. Dass auch Richter dazu stehen können und sagen 'Okay, nobody is perfect, auch Richter machen Fehler.'"
Der Historiker Stephan Lehnstaedt hätte zu diesen Fehlern einiges sagen können. Doch durfte er seine Gedanken bei der Tagung nicht vortragen. Er wurde zu der Veranstaltung zuerst als Redner eingeladen – und ist dann doch wieder ausgeladen worden. Lehnstaedt ahnt, warum:
"Die Umsetzung von ZRBG gerade in Nordrhein-Westfalen – das ist kein Ruhmesblatt für die dortige Justiz, das habe ich in meinem Buch auch geschrieben und nichts anderes hätte ich auf dem Symposium erzählt. Und ich vermute einfach, dass man das dort nicht hören will."