Keine Experimente

Von Oliver Kranz |
Nach 16 Tagen ist das 45. Berliner Theatertreffen zu Ende gegangen, ohne wirklich für Überraschungen zu sorgen. Einzige Ausnahme: die achttägige Nonstop-Performance "Die Erscheinungen der Martha Rubin". Ansonsten war es ein Festival der großen Schauspieler.
"Die Alfred-Kerr-Stiftung verleiht den Alfred-Kerr-Darstellerpreis 2008 an Niklas Kohrt für seine Darstellung des Bruno Michelke in Michael Thalheimers Inszenierung 'Die Ratten' von Gerhart Hauptmann des Deutschen Theaters Berlin."

Szene aus "Die Ratten":
Bruno: "Det se nu noch mal kommt, glob ick nich. Aber det war keen leichtet Stück Arbeit, Jette."
Frau John: "Was hast de jetan, Bruno?"
Bruno: "Du bist ne olle verdrehte Person, Jette."

Bruno ist der Bruder von Frau John, der Hauptfigur des Stücks. Er soll ein Mädchen einschüchtern und begeht einen Mord. Niklas Kohrt spielt ihn mit großer Ruhe. Lediglich in den Augen hat er ein irres Funkeln. Und so hat er den Juror des Preises, Gerd Wameling, überzeugt.

Wameling: "Wenn einer, wie der 28-jährige Niklas Kohrt, eine Rolle so mit innerer Freiheit und überlegener Ruhe, die für diese Gestaltung notwendig ist, so ergreifend darstellen, und besser gesagt spielen kann, dann ragt er heraus, ist beeindruckend und bemerkenswert."

Bemerkenswert ist auch, das Kohrt diese Leistung in einem nicht gerade leicht zu bespielenden Bühnenbild erbringt. In Michael Thalheimers Inszenierung blickt man auf zwei große Holzflächen, zwischen denen ein wagerechter Spalt gähnt. Dort treten die Schauspieler auf. Da die Decke so tief hängt, können sie nur gebückt gehen - ein Umstand, der die Enge der Verhältnisse, in denen das Stück spielt, sofort spürbar macht.

Und noch eine Auszeichnung wurde zum Abschluss des Theatertreffens vergeben. Der Regisseur Stefan Kimmig und die Bühnenbildnerin Katja Haß erhielten für ihre Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Hamburger Thalia-Theater den "3sat-Preis für zukunftsweisende Leistungen im deutschen Schauspiel". Die beiden verfeindeten Königinnen bewohnen darin ein sehr heutiges Glas- und Betongebäude. Christopher Schmidt beschrieb es in seiner Laudatio:

"Sinnfällig wird die Umkehrung von Täter- und Opferrolle durch das Bühnenbild, das den Staatsapparat zu einer bungalowartigen Machtzentrale verdichtet - einer Chiffre der Klaustrophobie, in der alle buchstäblich auf derselben Stufe stehen."

Elisabeth bewohnt in der Inszenierung ein Zimmer, das einer Gefängniszelle gleicht, Maria ist an einen Sessel gefesselt, der an einen elektrischen Stuhl erinnert. Stefan Kimmig zeigt das Aufeinandertreffen der beiden im Räderwerk kalter Machtpolitik und zielt dabei auch auf heutige Debatten. Maria wird als Terroristin gebrandmarkt, doch der Staat, der sie liquidieren möchte, wirft dafür bereitwillig rechtsstaatliche Prinzipien über Bord. Eine gelungene Inszenierung, die auch durch die beiden Hauptdarstellerinnen überzeugt: Susanne Wolff als Maria und Paula Dombrowski als Elisabeth.

Das Theatertreffen war ohnehin eines der großen Schauspieler. Man sah Ulrich Matthes als Onkel Wanja, Hildegard Schmahl als Prospero und Joachim Meyerhoff als Hamlet. Neue Trends hingegen entdeckte man nicht. Fast alle eingeladenen Inszenierungen stammten von bekannten Regisseuren. Einige - wie Jürgen Gosch oder Christoph Marthaler - sind längst Theatertreffen-Dauergäste. Warum so wenig Neues? Festivalleiterin Iris Laufenberg erklärt:

"Es ist so, dass die Kritiker, die die Jury bilden, ja auch gar nicht danach aussuchen, dass sie sagen: Wir schaffen jetzt einen Trend. Jede Inszenierung wird für sich diskutiert."

Die Jury verschanzt sich hinter dem Argument, dass es beim Theatertreffen keine Quotenregelungen geben darf - weder für junge Regisseure noch für alte, weder für Staatstheater noch für die freie Szene. Die einzige wirklich außergewöhnliche Inszenierung, die in diesem Jahr zu sehen war, war die achttägige Nonstop-Performance "Die Erscheinungen der Martha Rubin", die die Dänin Signa Sörensen im vorigen Jahr am Schauspiel Köln herausbrachte.

"Die Agentur "Vereinigte Grenzpatrouillien" des Nordstaates heißt Sie herzlich willkommen am Checkpoint Rubytown. Zu Ihrer Sicherheit schenken Sie bitte den folgenden Informationen ihre Aufmerksamkeit."

Wer nach Rubytown einreisen möchte, muss sich einen Lehrfilm ansehen. Die Stadt besteht aus gut 20 windschiefen Holzhütten, die in einer ehemaligen Fabrikhalle aufgestellt wurden. Die Schauspieler improvisieren im Rahmen eines Rollenkonzepts. Man muss sie ansprechen, wenn man das Rätsel der Stadt ergründen will. Dann wird man ins Spiel hineingesogen. Reflektieren kann man hinterher, sagt Signa Sörensen.

"Ich möchte ja gern, dass die Zuschauer darüber denken, ob die manipulierbar sind und wie weit die manipulierbar sind."

Das Konzept sorgte für heiße Debatten - gerade weil es die Grenzen zwischen Spiel und Realität verwischen lässt.

Aber das Theatertreffen bestand nicht nur aus dem Programm der ausgewählten Produktionen. Neue Stücke wurden beim Stückemarkt vorgestellt. Neue Autoren im Dramatiker-Workshop. Auch dort wurden Preise vergeben. Die 27-jährige Anna Habermehl zum Beispiel erhielt einen Werkauftrag für ein neues Stück, das in der nächsten Spielzeit am Bayerischen Staatsschauspiel uraufgeführt werden soll. Ihre Festivalbilanz fiel natürlich positiv aus.

"Der Workshop war toll ... , aber insgesamt ist es für mich in der Hauptsache die Möglichkeit, dieses ganze Theater anzugucken und das finde ich toll ..."

Das Theatertreffen ist nicht nur eine Leistungsschau der deutschsprachigen Bühnen, sondern auch ein Arbeitstreffen - ein Begegnungsort für Theaterleute und ihr Publikum. Es bleibt unverzichtbar - auch wenn die Programmauswahl nicht so wagemutig war, wie sie sich viele gewünscht hätten.
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