"Keine flächendeckende Beobachtung von Problemfamilien"
Die Zahl der Kinder, die vor ihren Eltern geschützt werden müssen, ist in den letzten fünf Jahren um 43 Prozent gestiegen. Die Zahl der Anzeigen wegen Kindesmisshandlung steigt ebenso stetig. Ob das an einem sensibleren Umgang oder an einer Häufung von Gewalt liegt, weiß Gina Graichen, die bei Vergehen gegenüber Kindern ermittelt.
Liane von Billerbeck: Die Zahlen müssen uns alle alarmieren: Noch nie haben deutsche Jugendämter so viele Kinder in Obhut genommen wie im vorigen Jahr. Etwa 40.000 Kinder wurden aus ihren Familien quasi in Sicherheit gebracht. Innerhalb von fünf Jahren ist damit die Zahl solcher Inobhutnahmen um 43 Prozent gestiegen. Auch die Fälle von angezeigten Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen sind stark steigend. Heißt das nun, es wird gegen Kinder und Schutzbefohlene gewalttätiger vorgegangen in den Familien oder schauen die Mitmenschen einfach nur genauer hin? Eine, die das wissen muss, ist Gina Graichen. Sie leitet in Berlin das deutschlandweit einzige Kommissariat, das in Fällen von Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen ermittelt: das LKA 125. Frau Graichen ist jetzt im Studio, herzlich willkommen!
Gina Graichen: Hallo!
von Billerbeck: Sie waren es, die vor knapp zehn Jahren öffentlich dazu aufgerufen hat, Missstände anzuzeigen, und dafür sogar eine Hotline geschaltet hat zur Anzeige von Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen. In der Stadt klebten damals Plakate, auf denen ein anonymer Grabstein zu sehen war, davor eine umgekippte Babyflasche und die Aufschrift: "Bitte zögern Sie nicht, Ihr Anruf kann entscheidend für das Leben eines Kindes sein". Wie kam es damals zu dieser Aktion?
Graichen: Ja, wir bearbeiten ja schon seit ewigen Zeiten diesen Deliktsbereich. Das ist also jetzt nicht neu, seit zehn Jahren aufgekommen. Und wir hatten genau in dem Vorjahr, bevor wir mit dieser Plakataktion gestartet haben, sehr, sehr viele tote Kinder zu beklagen, die durch die Hand der Eltern gestorben sind: totgeschlagen, verhungert, aus dem Fenster geworfen. Wir haben leider in all den Fällen bei den Ermittlungen festgestellt, dass von fünf befragten Institutionen – wenn man Nachbarn auch als Institution zählen möchte –, haben bestimmt vier gesagt: "Na gut, dass Sie kommen, hier war ja schon lange so was. Wir wissen ja schon lange, dass da die Eltern sich auch prügeln. Das Kind hatte schon blaue Flecken". Das hat uns doch sehr zu denken gegeben, weil wir dachten: Jetzt ist ein Kind gestorben und alle wussten davon und keiner hat irgendwie den Mund aufbekommen! Für uns war die Überlegung, heranzutreten an die Öffentlichkeit - insbesondere an all diejenigen, die um Kinder herum leben, wohnen, mit ihnen arbeiten, mit ihnen spielen - diese zu sensibilisieren, eben nicht alles für sich zu behalten, herauszugehen aus sich, mit anderen darüber zu reden und dann am Ende eben auch zu überlegen: Was machen wir? Wen können wir anrufen?
von Billerbeck: Gucken wir uns doch mal Ihren Alltag an, an einem so ganz gewöhnlichen Montag wie dem heutigen! Wie viele Anzeigen bekommen Sie da?
Graichen: Montags ist es immer sehr schwierig für uns, weil das Wochenende davor lag. Am Wochenende ist unsere Dienststelle in der Regel nicht besetzt. Sodass sich also von Freitag bis Montag alle Anzeigen ansammeln. Und da ist es schon gut möglich, dass wir morgens kommen und dann 15 oder 20 Anzeigen vorliegen.
von Billerbeck: Und was passiert da?
Graichen: Ja, ich habe die Aufgabe, das zu sichten, zu gucken, was ist inzwischen schon an dieser Anzeige gemacht worden, wie geht es dem Kind, ist das Kind untergebracht, ist es verletzt, ist es im Krankenhaus, sind die Beweismittel gesichert - sprich fotografiert worden, ist mit dem Kind gesprochen worden, gibt es Zeugen? Und wenn da eben ein Punkt fehlt, dann muss das von uns an dem Montag gleich nachgearbeitet werden.
von Billerbeck: Was passiert dann mit dem Kind?
Graichen: Das ist unterschiedlich. Wenn Polizei gerufen wird, in der Regel sind die Schutzpolizeibeamten über 110 die Ersten, die ein Kind zu Gesicht bekommen. Sie müssen dann eben auch entscheiden, ob das LKA 125 gleich alarmiert wird. Wir haben eine Rufbereitschaft, um dann eben zu besprechen, was kann man jetzt machen? Ist das Kind schwer verletzt? Muss es einem Arzt zugeführt werden? Ist es sehr schwer verletzt? Muss es ins Krankenhaus? Ist es nicht ganz so schwer verletzt, muss man natürlich auch sehen, wie ist die gesamte Situation: Kann man das Kind in der Wohnung belassen oder ist mit weiterer Gewalt zu rechnen? Und dann natürlich, auch ganz wichtig, das Kind zu fragen, was es eigentlich will.
von Billerbeck: Man kann sich die Fälle vorstellen, wir haben ja alles so in der Zeitung gelesen von vernachlässigten Kindern, verdursteten Kindern, zu Tode geschlagenen, geprügelten Kindern. Wie gehen denn nun die Kinder damit um, dass sie da quasi ihre nächsten Angehörigen verlieren durch dieses, dass sie so ein Grundvertrauen ja auch verloren haben? Verstehen die eigentlich, dass sie da schlecht behandelt wurden zu Hause?
Graichen: Gerade im Bereich der Vernachlässigung bin ich nicht nur der Meinung, das ist auch belegt, dass Kinder das gar nicht verstehen am Anfang. Sie kennen nichts anderes. Sie wachsen in so eine Müllwohnung hinein. Sie erfahren, dass sie unzureichend oder gar nichts zu Essen kriegen. Sie wissen, um sie herum ist Schmutz und Dreck und die Eltern kümmern sich nicht. Das nimmt ein Kind so hin. Es wird schwieriger, wenn die Kinder dann in die Schule kommen und Vergleichsmöglichkeiten haben. Denn Schule und die Schuleingangsuntersuchungen sind ja die ersten Möglichkeiten, dass ein Kind überhaupt aus so einer häuslichen Atmosphäre heraus muss. Denn wenn es nicht zur Untersuchung kommt, dann geht der Behördenapparat los. Wenn Kinder dann in der Schule sind und merken, wenn sie andere besuchen oder auch wenn sie sehen, die kriegen eben Frühstück mit, die haben ihre Arbeitsmaterialien, die haben immer saubere Kleidung, dann fällt das den Kindern schon auf - spätestens wenn sie dann Besuch bei anderen machen und sehen, das kann auch ganz anders gehen. Und es fällt ihnen natürlich auch auf: Wenn sie aus schmutzigen – ist jetzt wirklich leicht geprahlt –, schmutzigen Verhältnissen zu Hause kommen, sie riechen, die Kleidung riecht, sie ist häufig zu klein, das fällt ja auch auf, und die Kinder in der Schule halt abrücken und sagen: Iiih, der stinkt, neben dem sitze ich nicht!
von Billerbeck: Haben Sie schon mal einen Fall gehabt, wo ein Kind quasi selber die Tasche gepackt hat und bei der Polizei erschienen ist?
Graichen: So einen Fall gab es mal. Es ist zwar schon ein Weilchen her, aber da hatte auch ein kleiner Junge, der war fünf und musste eben auch immer alles alleine machen, sein Frühstück morgens alleine machen und dann selbsttätig auch zu seiner Kindertagesstätte gehen. Der hat seinen kleinen Rucksack gepackt und auf dem Weg zur Kita ist er dann auf einem Abschnitt angelandet und hat gesagt, ihm geht es zu Hause nicht gut, er möchte nicht mehr nach Hause. Das ist herzzerreißend, so etwas, weil das nicht typisch ist für ein Kind.
von Billerbeck: Gina Graichen ist bei mir im Studio, sie leitet in Berlin das deutschlandweit einzige Kommissariat, das in Fällen von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen ermittelt. Wenn so viele Kinder misshandelt werden, das waren bundesweit 2012 3.967 Fälle, die bekannt wurden, und sogar an ihren Misshandlungen sterben, im vorigen Jahr waren das mehr als 200 Kinder in ganz Deutschland … Sie befassen sich lange damit … Sind das tragische Einzelfälle oder müssen wir da von einem kollektiven Versagen sprechen?
Graichen: Das ist natürlich immer zunächst ein tragischer Einzelfall, der passiert. Aber wenn man hinter die ganzen Kulissen guckt, dann sieht man schon, dass die Fälle sich irgendwo alle ähneln. Das sind sehr häufig verkrachte Existenzen, wenn man das mal so bezeichnen möchte, die häufig keine Schulbildung haben oder nur eine sehr geringe, die aus dem häuslichen Umfeld, wo nicht selten auch schon Misshandlung, Vernachlässigung vorgelegen hat, heraus wollen. Obwohl dann eben Vater und Mutter Trinker sind und sich gegenseitig prügeln, ist trotzdem das hohe Ziel, was diese jungen Leute haben: Familie. Also, Familie steht ganz oben. Und man findet sich dann als eine Art Schicksalsgemeinschaft zusammen …
von Billerbeck: Das heißt, die Verhältnisse wiederholen sich?
Graichen: Ja, immer wieder. Und ich meine auch, die Fälle, die wir dann haben – das war ja Ihre Ursprungsfrage: Die sind eben alle so! Man kann im Prinzip schon so ein bisschen davon ausgehen, das ist wie ein Muster.
von Billerbeck: Wie kann denn nun, das ist die Frage, so etwas verhindert werden? Also, wenn Sie das schildern, dann sind das schwierige häusliche Verhältnisse, um es mal ganz nüchtern auszudrücken. Wie kann man denn verhindern, dass so die Gewalt gegen Kinder steigt, dass Kinder misshandelt werden, dass Kinder sogar daran sterben?
Graichen: Hundertprozentig verhindern kann man das nicht. Das muss ich mal auch ganz ehrlich sagen. Wir sind wirklich gut organisiert. Wir sind gut vernetzt inzwischen und jeder tut auf seinem Gebiet so das, was er kann und was er auch erreichen will. Das Problem ist eben nur, man kann keine flächendeckende Beobachtung von Problemfamilien machen, weil es gibt so viele, derer wird man gar nicht Herr. Wenn man merkt – und da sind eben auch alle anderen Behörden angesprochen –, wenn man merkt, da sind irgendwelche Probleme – ob das jetzt das Jobcenter ist oder Sozialamt oder irgendwelche anderen Ämter - die haben auch ein Gefühl dafür … Und ich denke, das muss eben auch noch weiter betrieben werden. Wir sind ja nun schon dabei, aber es muss eben noch weiter verbessert werden, dass man untereinander reden kann. Häufig ist leider der Datenschutz natürlich auf allen Gebieten so ein bisschen dazwischen, aber wenn es darum geht eben, dass ein Kind in Gefahr sein könnte, dann gibt es da auch Ausnahmen. Das ist jetzt nicht so, dass das immer fest und starr ist.
von Billerbeck: Am Anfang haben wir darüber gesprochen, dass Sie beschrieben haben, dass Nachbarn oft viel früher Bescheid wussten, dass sie es lange hingenommen haben. Nun kennen Sie ja sicher auch die Angst, dass man ungern zur Polizei geht und jemanden anschwärzt. Ich kann mich an so eine Situation auch erinnern, wo ich immer ein Kind weinen hörte und dann zusammen mit einem Mann bei uns auf dem Hof herumlief und wir immer geguckt haben, wo kommt das her, und dann haben wir es herausgekriegt und haben uns ein Herz gefasst und haben da erst mal geklingelt. Das ist ja schon mal der erste Schritt, dass man guckt, ist da alles in Ordnung oder geht es dem Kind gut oder so? Aber das ist natürlich so eine Sperre, die viele Leute haben. Und Ihre Plakataktion, die ist nun zehn Jahre her … Müsste es so was noch mal geben oder müssten Sie noch mal an die Öffentlichkeit gehen oder wieder darauf aufmerksam machen, dass man eben da mehr drauf achtet, was in der Nachbarschaft geschieht?
Graichen: Ja, also, mein Eindruck ist, dass man nicht locker lassen darf. Man darf sich auch nicht irgendwo in Sicherheit wiegen, wie wir das eine ganze Zeit nach der Aktion getan haben. Es war ja jahrelang Ruhe, es gab kein totes Kind mehr in Berlin. Und dann, vor zwei Jahren, schlug es wie eine Bombe hier wieder ein: Wir hatten drei in einem Jahr. Man muss immer wieder an die Öffentlichkeit. Man muss immer wieder zeigen: Das gibt es! Leute, guckt nicht weg und bleibt dran! Das, was Sie schilderten, man bemerkt was und weiß nicht, was macht man jetzt? Die Angst, jemanden zu denunzieren, kommt immer wieder rüber. Dieses Telefon ist ja immer noch geschaltet bei uns und wenn jemand dran ist, merkt man sehr deutlich, erst mal: Hm, ich weiß nicht, bin ich da richtig bei Ihnen … Da muss man eben sehr vorsichtig auch so ein Gespräch anfangen und dem auch klarmachen: Auch wenn Sie jetzt anonym bleiben, es wird trotzdem verfolgt!
von Billerbeck: Das sagt Polizeihauptkommissarin Gina Graichen, die in Berlin das deutschlandweit einzige Polizeikommissariat leitet, das in Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ermittelt. Danke für Ihren Besuch!
Graichen: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Gina Graichen: Hallo!
von Billerbeck: Sie waren es, die vor knapp zehn Jahren öffentlich dazu aufgerufen hat, Missstände anzuzeigen, und dafür sogar eine Hotline geschaltet hat zur Anzeige von Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen. In der Stadt klebten damals Plakate, auf denen ein anonymer Grabstein zu sehen war, davor eine umgekippte Babyflasche und die Aufschrift: "Bitte zögern Sie nicht, Ihr Anruf kann entscheidend für das Leben eines Kindes sein". Wie kam es damals zu dieser Aktion?
Graichen: Ja, wir bearbeiten ja schon seit ewigen Zeiten diesen Deliktsbereich. Das ist also jetzt nicht neu, seit zehn Jahren aufgekommen. Und wir hatten genau in dem Vorjahr, bevor wir mit dieser Plakataktion gestartet haben, sehr, sehr viele tote Kinder zu beklagen, die durch die Hand der Eltern gestorben sind: totgeschlagen, verhungert, aus dem Fenster geworfen. Wir haben leider in all den Fällen bei den Ermittlungen festgestellt, dass von fünf befragten Institutionen – wenn man Nachbarn auch als Institution zählen möchte –, haben bestimmt vier gesagt: "Na gut, dass Sie kommen, hier war ja schon lange so was. Wir wissen ja schon lange, dass da die Eltern sich auch prügeln. Das Kind hatte schon blaue Flecken". Das hat uns doch sehr zu denken gegeben, weil wir dachten: Jetzt ist ein Kind gestorben und alle wussten davon und keiner hat irgendwie den Mund aufbekommen! Für uns war die Überlegung, heranzutreten an die Öffentlichkeit - insbesondere an all diejenigen, die um Kinder herum leben, wohnen, mit ihnen arbeiten, mit ihnen spielen - diese zu sensibilisieren, eben nicht alles für sich zu behalten, herauszugehen aus sich, mit anderen darüber zu reden und dann am Ende eben auch zu überlegen: Was machen wir? Wen können wir anrufen?
von Billerbeck: Gucken wir uns doch mal Ihren Alltag an, an einem so ganz gewöhnlichen Montag wie dem heutigen! Wie viele Anzeigen bekommen Sie da?
Graichen: Montags ist es immer sehr schwierig für uns, weil das Wochenende davor lag. Am Wochenende ist unsere Dienststelle in der Regel nicht besetzt. Sodass sich also von Freitag bis Montag alle Anzeigen ansammeln. Und da ist es schon gut möglich, dass wir morgens kommen und dann 15 oder 20 Anzeigen vorliegen.
von Billerbeck: Und was passiert da?
Graichen: Ja, ich habe die Aufgabe, das zu sichten, zu gucken, was ist inzwischen schon an dieser Anzeige gemacht worden, wie geht es dem Kind, ist das Kind untergebracht, ist es verletzt, ist es im Krankenhaus, sind die Beweismittel gesichert - sprich fotografiert worden, ist mit dem Kind gesprochen worden, gibt es Zeugen? Und wenn da eben ein Punkt fehlt, dann muss das von uns an dem Montag gleich nachgearbeitet werden.
von Billerbeck: Was passiert dann mit dem Kind?
Graichen: Das ist unterschiedlich. Wenn Polizei gerufen wird, in der Regel sind die Schutzpolizeibeamten über 110 die Ersten, die ein Kind zu Gesicht bekommen. Sie müssen dann eben auch entscheiden, ob das LKA 125 gleich alarmiert wird. Wir haben eine Rufbereitschaft, um dann eben zu besprechen, was kann man jetzt machen? Ist das Kind schwer verletzt? Muss es einem Arzt zugeführt werden? Ist es sehr schwer verletzt? Muss es ins Krankenhaus? Ist es nicht ganz so schwer verletzt, muss man natürlich auch sehen, wie ist die gesamte Situation: Kann man das Kind in der Wohnung belassen oder ist mit weiterer Gewalt zu rechnen? Und dann natürlich, auch ganz wichtig, das Kind zu fragen, was es eigentlich will.
von Billerbeck: Man kann sich die Fälle vorstellen, wir haben ja alles so in der Zeitung gelesen von vernachlässigten Kindern, verdursteten Kindern, zu Tode geschlagenen, geprügelten Kindern. Wie gehen denn nun die Kinder damit um, dass sie da quasi ihre nächsten Angehörigen verlieren durch dieses, dass sie so ein Grundvertrauen ja auch verloren haben? Verstehen die eigentlich, dass sie da schlecht behandelt wurden zu Hause?
Graichen: Gerade im Bereich der Vernachlässigung bin ich nicht nur der Meinung, das ist auch belegt, dass Kinder das gar nicht verstehen am Anfang. Sie kennen nichts anderes. Sie wachsen in so eine Müllwohnung hinein. Sie erfahren, dass sie unzureichend oder gar nichts zu Essen kriegen. Sie wissen, um sie herum ist Schmutz und Dreck und die Eltern kümmern sich nicht. Das nimmt ein Kind so hin. Es wird schwieriger, wenn die Kinder dann in die Schule kommen und Vergleichsmöglichkeiten haben. Denn Schule und die Schuleingangsuntersuchungen sind ja die ersten Möglichkeiten, dass ein Kind überhaupt aus so einer häuslichen Atmosphäre heraus muss. Denn wenn es nicht zur Untersuchung kommt, dann geht der Behördenapparat los. Wenn Kinder dann in der Schule sind und merken, wenn sie andere besuchen oder auch wenn sie sehen, die kriegen eben Frühstück mit, die haben ihre Arbeitsmaterialien, die haben immer saubere Kleidung, dann fällt das den Kindern schon auf - spätestens wenn sie dann Besuch bei anderen machen und sehen, das kann auch ganz anders gehen. Und es fällt ihnen natürlich auch auf: Wenn sie aus schmutzigen – ist jetzt wirklich leicht geprahlt –, schmutzigen Verhältnissen zu Hause kommen, sie riechen, die Kleidung riecht, sie ist häufig zu klein, das fällt ja auch auf, und die Kinder in der Schule halt abrücken und sagen: Iiih, der stinkt, neben dem sitze ich nicht!
von Billerbeck: Haben Sie schon mal einen Fall gehabt, wo ein Kind quasi selber die Tasche gepackt hat und bei der Polizei erschienen ist?
Graichen: So einen Fall gab es mal. Es ist zwar schon ein Weilchen her, aber da hatte auch ein kleiner Junge, der war fünf und musste eben auch immer alles alleine machen, sein Frühstück morgens alleine machen und dann selbsttätig auch zu seiner Kindertagesstätte gehen. Der hat seinen kleinen Rucksack gepackt und auf dem Weg zur Kita ist er dann auf einem Abschnitt angelandet und hat gesagt, ihm geht es zu Hause nicht gut, er möchte nicht mehr nach Hause. Das ist herzzerreißend, so etwas, weil das nicht typisch ist für ein Kind.
von Billerbeck: Gina Graichen ist bei mir im Studio, sie leitet in Berlin das deutschlandweit einzige Kommissariat, das in Fällen von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen ermittelt. Wenn so viele Kinder misshandelt werden, das waren bundesweit 2012 3.967 Fälle, die bekannt wurden, und sogar an ihren Misshandlungen sterben, im vorigen Jahr waren das mehr als 200 Kinder in ganz Deutschland … Sie befassen sich lange damit … Sind das tragische Einzelfälle oder müssen wir da von einem kollektiven Versagen sprechen?
Graichen: Das ist natürlich immer zunächst ein tragischer Einzelfall, der passiert. Aber wenn man hinter die ganzen Kulissen guckt, dann sieht man schon, dass die Fälle sich irgendwo alle ähneln. Das sind sehr häufig verkrachte Existenzen, wenn man das mal so bezeichnen möchte, die häufig keine Schulbildung haben oder nur eine sehr geringe, die aus dem häuslichen Umfeld, wo nicht selten auch schon Misshandlung, Vernachlässigung vorgelegen hat, heraus wollen. Obwohl dann eben Vater und Mutter Trinker sind und sich gegenseitig prügeln, ist trotzdem das hohe Ziel, was diese jungen Leute haben: Familie. Also, Familie steht ganz oben. Und man findet sich dann als eine Art Schicksalsgemeinschaft zusammen …
von Billerbeck: Das heißt, die Verhältnisse wiederholen sich?
Graichen: Ja, immer wieder. Und ich meine auch, die Fälle, die wir dann haben – das war ja Ihre Ursprungsfrage: Die sind eben alle so! Man kann im Prinzip schon so ein bisschen davon ausgehen, das ist wie ein Muster.
von Billerbeck: Wie kann denn nun, das ist die Frage, so etwas verhindert werden? Also, wenn Sie das schildern, dann sind das schwierige häusliche Verhältnisse, um es mal ganz nüchtern auszudrücken. Wie kann man denn verhindern, dass so die Gewalt gegen Kinder steigt, dass Kinder misshandelt werden, dass Kinder sogar daran sterben?
Graichen: Hundertprozentig verhindern kann man das nicht. Das muss ich mal auch ganz ehrlich sagen. Wir sind wirklich gut organisiert. Wir sind gut vernetzt inzwischen und jeder tut auf seinem Gebiet so das, was er kann und was er auch erreichen will. Das Problem ist eben nur, man kann keine flächendeckende Beobachtung von Problemfamilien machen, weil es gibt so viele, derer wird man gar nicht Herr. Wenn man merkt – und da sind eben auch alle anderen Behörden angesprochen –, wenn man merkt, da sind irgendwelche Probleme – ob das jetzt das Jobcenter ist oder Sozialamt oder irgendwelche anderen Ämter - die haben auch ein Gefühl dafür … Und ich denke, das muss eben auch noch weiter betrieben werden. Wir sind ja nun schon dabei, aber es muss eben noch weiter verbessert werden, dass man untereinander reden kann. Häufig ist leider der Datenschutz natürlich auf allen Gebieten so ein bisschen dazwischen, aber wenn es darum geht eben, dass ein Kind in Gefahr sein könnte, dann gibt es da auch Ausnahmen. Das ist jetzt nicht so, dass das immer fest und starr ist.
von Billerbeck: Am Anfang haben wir darüber gesprochen, dass Sie beschrieben haben, dass Nachbarn oft viel früher Bescheid wussten, dass sie es lange hingenommen haben. Nun kennen Sie ja sicher auch die Angst, dass man ungern zur Polizei geht und jemanden anschwärzt. Ich kann mich an so eine Situation auch erinnern, wo ich immer ein Kind weinen hörte und dann zusammen mit einem Mann bei uns auf dem Hof herumlief und wir immer geguckt haben, wo kommt das her, und dann haben wir es herausgekriegt und haben uns ein Herz gefasst und haben da erst mal geklingelt. Das ist ja schon mal der erste Schritt, dass man guckt, ist da alles in Ordnung oder geht es dem Kind gut oder so? Aber das ist natürlich so eine Sperre, die viele Leute haben. Und Ihre Plakataktion, die ist nun zehn Jahre her … Müsste es so was noch mal geben oder müssten Sie noch mal an die Öffentlichkeit gehen oder wieder darauf aufmerksam machen, dass man eben da mehr drauf achtet, was in der Nachbarschaft geschieht?
Graichen: Ja, also, mein Eindruck ist, dass man nicht locker lassen darf. Man darf sich auch nicht irgendwo in Sicherheit wiegen, wie wir das eine ganze Zeit nach der Aktion getan haben. Es war ja jahrelang Ruhe, es gab kein totes Kind mehr in Berlin. Und dann, vor zwei Jahren, schlug es wie eine Bombe hier wieder ein: Wir hatten drei in einem Jahr. Man muss immer wieder an die Öffentlichkeit. Man muss immer wieder zeigen: Das gibt es! Leute, guckt nicht weg und bleibt dran! Das, was Sie schilderten, man bemerkt was und weiß nicht, was macht man jetzt? Die Angst, jemanden zu denunzieren, kommt immer wieder rüber. Dieses Telefon ist ja immer noch geschaltet bei uns und wenn jemand dran ist, merkt man sehr deutlich, erst mal: Hm, ich weiß nicht, bin ich da richtig bei Ihnen … Da muss man eben sehr vorsichtig auch so ein Gespräch anfangen und dem auch klarmachen: Auch wenn Sie jetzt anonym bleiben, es wird trotzdem verfolgt!
von Billerbeck: Das sagt Polizeihauptkommissarin Gina Graichen, die in Berlin das deutschlandweit einzige Polizeikommissariat leitet, das in Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ermittelt. Danke für Ihren Besuch!
Graichen: Gerne!
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