Keine Kranzabwurfstelle
Als die Schriftstellerin Helga Schubert vor zehn Jahren an der Schweriner Nervenklinik Euthanasie-Akten recherchieren wollte, galt sie noch als Nestbeschmutzerin. Seitdem ist ein Diskussionsprozess in Gang gekommen, der fast eingeschlafene Förderverein der Klinik wurde reanimiert, öffentliche Konferenzen fanden statt und ein ungewöhnliches Denkmal entsteht in Schwerin.
So viel Aufmerksamkeit ist der "Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten", der 15.000 noch lebende Opfer vertritt, nicht gewöhnt. Bis heute fehlt es an einer moralischen Rehabilitierung der Opfer.
Vogelsang heißt das Dorf, und Vogelgesang gibt es dort reichlich zu hören in diesen Frühlingstagen. Ein verträumter Ort im Hinterland der Ostsee. In einem der alten Bauernhäuser wohnt Dörte Michaelis. Kein Schild deutet auf die Keramikwerkstatt der Künstlerin hin. Das ist Absicht, wird sie später erzählen. Wer wird ihr helfen, wenn hier mal ein paar Glatzen vor der Tür stehen und anhand eines Namensschildes gleich erkennen, dass sie hier richtig sind? Ich habe keine Angst, sagt die blonde Frau Anfang 50, aber man muss es ja nicht darauf ankommen lassen.
Es steht immer mal etwas in der Zeitung über Dörte Michaelis: Weniger, dass sie als fast die einzige Künstlerin in Deutschland Keramik-Digeredoos herstellt, denen man die bizarrsten Töne entlocken kann. Die Zeitungsartikel gelten den ungewöhnlichen öffentlichen Kunstwerken der Keramikerin: Sie schuf eine Gedenkstätte für die Toten des KZ-Außenlagers in Wöbbelin nahe Ludwigslust, und jetzt ist sie dabei, ein Gedenkzeichen zu schaffen für die Opfer der Euthanasie in der ehemaligen "Heil-und Pflegeanstalt Sachsenberg" in Schwerin.
"So sehen sie roh aus, so sehen sie bemalt aus ..."
Dörte Michaelis zeigt auf ein Modell, das sie neben dem großen Brennofen in ihrer Werkstatt aufgestellt hat. Lauter Röhren wie riesige Digeredoos.
"... dazu gekommen ist noch diese Fläche, die wie ein Spotlight auf das Schlimme weist. Die Figuren, das ist wie so eine zeitliche Achse, der Zug des Lebens der geht da durch. Aber das Wort ist auch besetzt."
Die Stelen sind bunt und ganz ungerade: manche scheinen beim Wachsen eine Drehung zu machen, manche verzweigen sich, andere beugen sich weit nach unten, einige wirken zackig, andere harmonisch. Zwischen all den bunten und gebogenen Stelen stehen auf einer kreisrunden, schwarzen Fläche, die Dörte Michaelis als Spotlight sieht, als etwas, das unsere Aufmerksamkeit anzieht und einfordert, einige schwarze, kurze, wie abgehackte Stümpfe.
"Wie auf einem Stoppelfeld die abgeschlagenen Halme. Das ist ja die Grundidee."
Buntes, schräges, lautes, nicht ganz "normgerechtes" Leben und der gewaltsame Tod. Das Gedenkzeichen soll an die über 1000 Menschen erinnern, die an der ehemaligen "Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg", heute Carl-Friedrich-Flemming-Klinik Schwerin, Opfer der Euthanasie wurden. An die 279 Patienten, in den Krankenblättern meist als "Schizophrene" und "Idioten" geführt, die per Bus, getarnt als "Ausflug" 1941 in die Tötungsanstalt Bernburg gefahren wurden, wo sie vergast wurden. An mehr als 700 Kinder und Erwachsene, die von ihren Ärzten und Pflegern in Schwerin während der sogenannten "wilden Euthanasie" bis 1945 getötet wurden.
"Das ist gerade das, was ich mir wünsche: Dass die, die dann da stehen denken: Ja, was ist denn nun normal? Ist das nun normal, wenn der gerade hoch wächst oder ist es normal, wenn der sich verzweigt oder eine Spirale macht? Dass sie ratlos davorstehen und es nicht entscheiden können. Und wenn ich sie an dem Punkt habe – das ist das, was ich will. Denn irgendjemand hat das entschieden, der hat sich angemaßt zu sagen: du und du nicht. Und diese Ungeheuerlichkeit, das möchte ich, dass die Leute das auch empfinden."
Darf man denn das, werden einige Zeitgenossen fragen. Bei dem Thema bunte, verdreht-fröhliche Figuren, die Freude zuerst, das Erschrecken "nur" an die zweite Stelle setzen? Dörte Michaelis lacht.
"Ja, das ist `ne schöne Frage – darf man denn das – lacht. Ich denke, es kommt auf die Intention an. Die Form, die ich gefunden habe, die ist für die Leute von heute gemacht."
Ein Ort mit hellen, renovierten Gebäuden, einem schönen Park, in dem viele Patienten spazieren gehen, ein Ort, wo heute Menschen leben und gesund werden wollen – all das hat die Künstlerin zu ihrem außergewöhnlichen Gedenkzeichen bewogen, dessen Brisanz sie sich bewusst ist.
"Ich denke, es wird Diskussionen geben. Hoffen ist zuviel gesagt – ich bin gespannt."
Eigentlich sollte das Gedenkzeichen ja heute, am 2. Mai 2008, in Schwerin eingeweiht werden. Kurzfristig gab die Schweriner Klinik bekannt, der Termin werde verschoben. Der ärztliche Direktor stand nicht für ein Interview bereit, gab aber per E-Mail technische und organisatorische Schwierigkeiten als Grund für die Verschiebung an.
Ein Erinnerungszeichen für die Euthansieopfer der Schweriner Klinik – diese Geschichte scheint eine unendliche zu sein. Sie beginnt weit vor der Wende, als sich eine Ärztin in ihrer Doktorarbeit mit der Geschichte der Psychatrie in Schwerin beschäftigt und erste Forschungen zur Euthanasie in ihrer Klinik anstellt. Die Arbeit durfte damals nicht öffentlich verteidigt und verlegt werden. Nach der Wende gründete sich der "Freundeskreis Sachsenberg", der sich zunächst die Sanierung der maroden Nervenklinik vorgenommen hatte. Erste Ansätze, sich mit der Geschichte zu befassen, verliefen im Sande: Bei einer öffentlichen Tagung zum Thema Euthanasie 1992 blieben ein paar wenige Ärzte unter sich.
"Ja, und da waren die erst mal ein bisschen ernüchtert und haben gesagt: Wir müssen erst Öffentlichkeitsarbeit machen und dann können wir einen Stein aufstellen."
Damals war Dr. Kristina Galleck, eine junge Fachärztin für Psychiatrie, noch nicht selbst an der Klinik. Sie erzählt, dass in den 90er Jahren eine kleine Ausstellung auf dem Klinikgelände zustande kam, deren Öffnungszeiten dann jedoch immer mehr eingeschränkt wurden bis sie ganz geschlossen wurde. Die Ärztin, die heute Vorsitzende des "Freundeskreises Sachsenberg" ist, holt eine Zeitung hervor.
"Es gibt ja einen Zeitungsartikel aus der "Hauspost" vom Mai 1999, da steht: Im Jahr 2000 soll das Mahnmal stehen. Zur Aufstellung eines Gedenkzeichens ist es dann aus irgendwelchen Gründen nicht gekommen, die ich nicht so ganz nachvollziehen kann."
Mehrere Wechsel in der Chefetage, die zunächst wichtigere Sanierung der Klinik, die Privatisierung – jetzt gehört das ehemalige Schweriner Krankenhaus zum Konzern der Helios-Kliniken – und schließlich das zwischenzeitliche Einschlafen des Förderkreises – all das sorgte dafür, dass es erst 2008 dazu kommen soll, ein Gedenkzeichen aufzustellen. Kristina Galleck ist froh, dass es kein einfacher Stein ist oder kein bedrückendes Mahnmal, sondern eben dieser Entwurf von Dörte Michaelis verwirklicht wird.
"Ich habe mir auch andere Mahnmale angeschaut. Und es gibt auch welche, wo ich mir gesagt habe: Um Gottes Willen, so bitte nicht. Wenn man dann durchs Tor tritt – Nervenkliniken sind ja oft ähnlich angelegt mit einem großen Park – und wenn man dann hereintritt, dass man dann gleich erschlagen wird von so einem Klotz: Und so und soviel Tote hier durch die Euthanasie-Aktion – dann möchte man eigentlich gleich wieder gehen. Und wenn ich dann daran denke, dass ich als Patient da rein gehe – die haben halt oft die Vorstellung: Das passiert mit mir auch."
Ein sensibler Ort für ein Euthanasie-Gedenken bleibt eine psychatrische Klinik allemal. Dennoch soll es wenigstens eine erklärende Tafel mit Fakten geben, hat sich der Verein vorgenommen. An die Veröffentlichung der Namen – und damit an die Individualisierung der Opfer, wie etwa in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein oder auf Gedenktafeln in anderen Kliniken – ist jedoch in Schwerin nicht gedacht.
"Da ist halt das große Problem, dass wir auf keinen Fall alle Namen haben. Und weil wir nur einen Teil der Namen haben – das war auch eine schwierige und sehr strittige Frage – haben wir uns dann doch entschieden, gar keine zu nehmen."
Ein Fehler, meint Helga Schubert. Die Psychologin und Schriftstellerin, die in Berlin und in Mecklenburg lebt, war die erste, die sich mit der Geschichte der Klinik auf dem Sachsenberg beschäftigte. Sicher, sagt auch sie, die getarnten Morde der sogenannten wilden Euthanasie sind nicht alle nachzuweisen.
"Aber was man ganz eindeutig weiß in Schwerin, was ganz klar ist, das sind die 279 Menschen, die in zwei Transporten in Bussen nach Bernburg in die zuständige Tötungsanstalt gebracht wurden. Es waren selektierte Menschen, aufgrund der Meldezettel, die in der Klinik ausgefüllt wurden, sind sie selektiert worden und eindeutig am selben Tag in Bernburg ermordet worden. Also wenn man wenigstens an diese Menschen namentlich erinnert, die weiß man, die kennt man."
Die Krankenakten dieser Schweriner Opfer fand Helga Schubert Ende der 90er Jahre im Bundesarchiv in Berlin – zu DDR-Zeiten lagerten sie nicht in Schwerin, sondern beim Ministerium für Staatssicherheit, das mit den Akten Täter erpresste, willfährig machte oder hochgehen ließ – ganz nach politischer Lage, wie in vielerlei Forschungen und Veröffentlichungen nachgewiesen wurde. Kein Angehöriger bekam jemals Bescheid über den wahren Verbleib seines Verwandten, die gefälschten Totenscheine der Nazis hatten damit 60 Jahre Gültigkeit im Familiengedächtnis. Die Schriftstellerin, die auch andere Opferakten für ihr Buch "Die Welt da drinnen" studieren wollte, auch die der Kinder, fragte in der Schweriner Klinik danach. Sie wurde abgewiesen.
"Das erste Mal, als ich mich völlig unvoreingenommen erkundigte, wo sind denn die Opferakten, da wurde mir gesagt: Hier gab es gar keine Kinderfachabteilung. Das war ja der Tarnname der Nazis. Hier sind keine Kinder umgebracht worden. Ich hab dann auch schon mal einen Anruf bekommen, ich soll mir meine Worte überlegen und sie würden aufarbeiten. Das war vor vielen Jahren, und ich habe dann über Jahre keinen Hinweis bekommen, wo die Opferakten sind."
Aktenkundig war jedoch längst der Prozess gegen Dr. Leu, den Chefarzt, der zugab, 80 Kinder in Schwerin selbst getötet zu haben. In einem Nachkriegsprozess in Westdeutschland, wohin Leu geflüchtet war, wurde er freigesprochen – weil er den Richtern glaubhaft machen konnte, er sei eigentlich ein Gegner der Euthanasie gewesen und er habe weitere 100 Kinder, die auch zur Tötung vorgesehen waren, nicht umgebracht.
"In meinen Augen ist es sehr reaktionär, wenn man sagt: Die Kinder sind jetzt tot und man soll Tote ruhen lassen. Oder man ist ein Nestbeschmutzer, wenn man über die Geschichte dieser Klinik aufklären möchte und das alles beschreibt. Und es ist Nestbeschmutzung wenn man die Klinik als eine Klinik bezeichnet, in der Behinderte umgebracht worden sind."
In einem Prospekt, in dem sich die Klinik damals selbst darstellte, fand Helga Schubert einen, wie sie sagt "Zweizeiler" zur Nazi-Vergangenheit. Das Wort "Tötung" tauchte nicht auf.
"Und es ist doch eine ganz verdammte Kontinuität: Wenn eine Diktatur in Deutschland zu Ende ist, ist es niemand gewesen. Man hat immer nur unter Druck gehandelt und man hat immer nur das Schlimmste verhütet und man hat persönlich niemandem geschadet!"
Helga Schubert plädiert dafür, zusätzlich zum Gedenkzeichen einen Dokumentationsraum zu schaffen, in dem man sich über die Vorgänge an der Klinik zur NS-Zeit informieren kann. Und sie fordert mehr Offenheit im Umgang mit den Akten: Die meisten ostdeutschen Krankenhäuser, darunter auch das große Klinikum in Berlin-Buch, haben die NS-Krankenakten längst an die Landesarchive gegeben, wo der Zugang zu den Akten für die Forschung korrekt geregelt ist. Mit dem Hinweis auf Datenschutzgründe und die besondere Schutzwürdigkeit von Akten psychisch Kranker hält die Klinik ihre NS-Akten in Schwerin jedoch weiterhin unter Verschluss.
"Und da gehören sie tatsächlich nicht hin. Und das gehört für mich zu mehreren undurchsichtigen Sachen, die ich in den letzten Jahren mit der Klinik am Sachsenberg erlebt habe. Und ich kann nur hoffen, dass das Mahnmal, das Dörte Michaelis jetzt macht, dass das ein Anfang ist zu einer anderen Sicht auf die Geschichte dieser Klinik."
Immerhin gab es unter der neuen Klinikleitung schon zwei Veranstaltungen, die das Thema Euthanasie und Zwangssterilisierung in Schwerin in den Mittelpunkt stellten. Der Festsaal der Klinik war gut gefüllt, nicht nur Ärzte und Mitarbeiter, sondern auch viele Lehrer waren gekommen an diesem Frühlingstag in Schwerin. So auch Beate Brindow, Lehrerin an der Ostseeschule Wismar, die Haupt- und Realschüler besuchen. Auch sie plädiert dafür, zusätzlich zum Gedenkzeichen an der Klinik eine Ausstellung einzurichten.
"Wenn man mal hierherkommen würde, sich überhaupt einmal mit Krankheiten, mit sogenannten Abnormalitäten auseinanderzusetzen- das ist für Schüler sehr wichtig und sie fühlen sich da oft sehr unsicher. Wir hatten oft Diskussionen, weil so ein Schlagwort ist ja: Biste behindert oder was?!"
Eine junge Schweriner Ärztin, die Internistin Catalina Lange, könnte mit ihrer Doktorarbeit, an der sie seit vier Jahren arbeitet, ein gutes Stück zur Aufklärung an der Klinik beitragen. Als bisher einzige Außenstehende hat sie Einsicht bekommen in die mehr als 1000 Opferakten, die im Klinik-Archiv lagern. Die Verschleierung der Todesursachen in den Akten – Lungenentzündung, Alterschwäche, Blinddarmentzündung, Tbc - macht der Doktorandin bei der Aufklärung zu schaffen.
"Was ich mache, ist in der Tat Indizien zu suchen. Das heißt, ich versuche, die Verwaltungsakten durchzugehen, die Todesstatistiken zu analysieren, und ich versuche natürlich anhand dieser Krankenakten bestimmte Merkmale herauszuarbeiten. Aber was diesem Aktenbestand da oben in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt fehlt ist, dass alle diese Akten nach solchen Gesichtspunkten analysiert werden. Also richtig aufgearbeitet werden. Aber das kann eine Einzelperson nicht leisten. Das müssten im Prinzip mehrere Leute machen."
Das wiederum würde eine Öffnung des Archivs bedeuten – eine Öffnung letztlich nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Angehörige, die beispielsweise in den Bundes- und Landesarchiven das Recht haben, das Schicksal ihrer Verwandten zu erforschen. Zu erfahren, dass sie systematisch unterernährt wurden um an dem Medikament "Luminal" zu sparen, einem Schlafmittel, das überdosiert zum Tode führte. Je leichter der Patient, desto weniger Luminal verbrauchte man, so die zynische Rechnung der Ärzte, fand Catalina Lange heraus.
"Ich denke, das ist schon ein sehr schlimmes, aber auch sehr mahnendes Beispiel für unsere Profession."
Dass Arbeiten wie ihre, wenn sie an die Öffentlichkeit kommen, eventuell den Ruf der Klinik schädigen oder Ängste bei Patienten hervorrufen könnten, diese Argumente kann die junge Ärztin nicht nachvollziehen.
"Wir haben ja in diesem Lande leider die NPD mit an der Regierung – bzw. nicht an der Regierung, aber im Landesparlament. Und man muss vor diesen Dingen immer wieder warnen. Man kann vor der Vergangenheit nicht weglaufen."
Auch Roland Hartwig ist zu der Schweriner Veranstaltung in die Klinik gekommen. Er arbeitet seit 13 Jahren ehrenamtlich als Koordinator des Landesverbandes der Angehörigen und Freunden psychisch Kranker in Mecklenburg-Vorpommern.
"In der Weiterbildung darf dieses Thema zum Beispiel nicht wegsacken. NS-Psychiatrie, NS-Geschichte – all das, was dort geschehen ist, gehört vermittelt an Pfleger, Krankenschwestern, Ärzte. Und da sehen wir große Reserven."
Wäre sonst so etwas möglich, wie es in Stralsund im Jahre 2008 geschah, fragt sich Roland Hartwig - und schüttelt den Kopf.
"Dass in einer Einrichtung in Stralsund im betreuten Wohnen dort, dass dort Stromabschaltungen vorgenommen werden am Wochenende. Es geht so weit, dass Angehörige uns mitteilen, dass der Tagesbedarf beim Essen um die zwei Euro, 2.50 Euro liegt. Uns liegen Zeugenaussagen vor, dass in dieser Einrichtung in Stralsund auf Kosten der Kranken gespart wird – an Elektroenergie und Essen."
Schlecht versorgt zu werden auf seinen alten und kranken Tage – das ist die Schreckensvision für Margret Hamm, die ebenfalls nach Schwerin gekommen war. Weniger für sich selbst fürchtet sie es, sondern für ihre "Schützlinge". Margret Hamm aus Detmold ist Vorsitzende des Bundes der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten. Noch leben etwa 15 000 Menschen dieser Opfergruppe. Viele von ihnen mit sehr kleinen Renten, viele können wegen ihrer geistigen oder körperlichen Behinderung nicht für ihre eigenen Rechte eintreten. Und deshalb findet Margret Hamm eine Tatsche besonders skandalös.
"Dass man diesen Menschen über Jahrzehnte das verweigert hat, was ihnen zustand, nämlich eine Entschädigung und eine Gleichbehandlung mit anderen NS-Verfolgten. Das hat man ihnen schlicht verweigert - bis dato!"
Als 1956 das Bundesentschädigungsgesetz beschlossen wurde, wurden die Opfer von Euthanasie und Zwangssterilisation nicht berücksichtigt. Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" von 1933 war pro forma in der Bundesrepublik immer noch in Kraft. Erst 1974 wurde es "außer Kraft" gesetzt.
"Und bis dahin hat man eben alles abgewiesen mit dem Argument, es sei kein typisches NS-Unrecht."
Bis heute sei das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" zwar "außer Kraft", aber nicht aufgehoben, bis heute fehle es an der moralischen und ethischen Rehabilitierung der Opfer, beklagt Margret Hamm. Erst in den 80er Jahren gab es die ersten Entschädigungen – einmalig 5000 D-Mark für erlittenes Leid, lebenslange Schmerzen, erzwungene Kinderlosigkeit, den Verlust von Angehörigen. Bis heute gibt es für diese Opfergruppe keine regelmäßigen Rentenzahlungen wie für andere NS-Verfolgte.
"Da gäbe es etliche Betätigungsfelder, wie man diesen Menschen ein würdiges Alter oder Noch-älter-Werden ermöglichen könnte. Die Altersstruktur ist so: Die jüngsten sind 75, und dann geht es bis 90 plus. Wenn ich an den älteren Herren denke, der jetzt 75 ist, das jüngste unserer Opfer, der ist im Alter von 10 Jahren zwangssterilisiert worden. Das durfte noch nicht einmal nach diesem Gesetz sein, erst nach der Pubertät durfte diese Sterilisation sein. Die Mutter hatte elf Kinder gehabt, irgendjemand hat sie angezeigt zur Sterilisation weil sie sozial aus der Reihe fiel. Das Kind ist aufgefallen, weil es betteln musste, weil sie arm waren, so viele Kinder. Das war ja eine Zeit, wo die meisten um die Existenz bangen mussten. Und dann wurde der Sohn am gleichen Tag wie die Mutter zwangssterilisiert. Das hat mich zutiefst erschüttert."
Viele der Opfer sind längst gestorben und haben die Scham und den Makel, den sich auf sich lasten fühlten, mit ins Grab genommen. Der Verein leistet Sozialarbeit, betreut Opfer und Angehörige, beantwortet die Fragen der Kinder- und Enkelgeneration, die verschwiegene Kapitel der Familiengeschichte aufdecken wollen. Jedes Jahr kämpft der Bund, der keine Repräsentanz und keine Lobby in Berlin hat, um ein paar Euro für die ehrenamtliche Arbeit. Keiner will uns hören, sagt Margret Hamm.
2007 ein Lichtblick: die "Bundesdrucksache 163811", die ihr ein wenig Mut machte. Zum ersten Mal findet sich dort ein Kommentar eines Abgeordneten, der das Nazi-Gesetz "Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" als "rassistisches Gesetz" bewertet. Ganz zum Schluss des Kommentars wurden die Opfer rehabilitiert. Eine große Veröffentlichung blieb aus. Echo gab es keines. Wer liest schon Bundesdrucksachen?
Vogelsang heißt das Dorf, und Vogelgesang gibt es dort reichlich zu hören in diesen Frühlingstagen. Ein verträumter Ort im Hinterland der Ostsee. In einem der alten Bauernhäuser wohnt Dörte Michaelis. Kein Schild deutet auf die Keramikwerkstatt der Künstlerin hin. Das ist Absicht, wird sie später erzählen. Wer wird ihr helfen, wenn hier mal ein paar Glatzen vor der Tür stehen und anhand eines Namensschildes gleich erkennen, dass sie hier richtig sind? Ich habe keine Angst, sagt die blonde Frau Anfang 50, aber man muss es ja nicht darauf ankommen lassen.
Es steht immer mal etwas in der Zeitung über Dörte Michaelis: Weniger, dass sie als fast die einzige Künstlerin in Deutschland Keramik-Digeredoos herstellt, denen man die bizarrsten Töne entlocken kann. Die Zeitungsartikel gelten den ungewöhnlichen öffentlichen Kunstwerken der Keramikerin: Sie schuf eine Gedenkstätte für die Toten des KZ-Außenlagers in Wöbbelin nahe Ludwigslust, und jetzt ist sie dabei, ein Gedenkzeichen zu schaffen für die Opfer der Euthanasie in der ehemaligen "Heil-und Pflegeanstalt Sachsenberg" in Schwerin.
"So sehen sie roh aus, so sehen sie bemalt aus ..."
Dörte Michaelis zeigt auf ein Modell, das sie neben dem großen Brennofen in ihrer Werkstatt aufgestellt hat. Lauter Röhren wie riesige Digeredoos.
"... dazu gekommen ist noch diese Fläche, die wie ein Spotlight auf das Schlimme weist. Die Figuren, das ist wie so eine zeitliche Achse, der Zug des Lebens der geht da durch. Aber das Wort ist auch besetzt."
Die Stelen sind bunt und ganz ungerade: manche scheinen beim Wachsen eine Drehung zu machen, manche verzweigen sich, andere beugen sich weit nach unten, einige wirken zackig, andere harmonisch. Zwischen all den bunten und gebogenen Stelen stehen auf einer kreisrunden, schwarzen Fläche, die Dörte Michaelis als Spotlight sieht, als etwas, das unsere Aufmerksamkeit anzieht und einfordert, einige schwarze, kurze, wie abgehackte Stümpfe.
"Wie auf einem Stoppelfeld die abgeschlagenen Halme. Das ist ja die Grundidee."
Buntes, schräges, lautes, nicht ganz "normgerechtes" Leben und der gewaltsame Tod. Das Gedenkzeichen soll an die über 1000 Menschen erinnern, die an der ehemaligen "Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg", heute Carl-Friedrich-Flemming-Klinik Schwerin, Opfer der Euthanasie wurden. An die 279 Patienten, in den Krankenblättern meist als "Schizophrene" und "Idioten" geführt, die per Bus, getarnt als "Ausflug" 1941 in die Tötungsanstalt Bernburg gefahren wurden, wo sie vergast wurden. An mehr als 700 Kinder und Erwachsene, die von ihren Ärzten und Pflegern in Schwerin während der sogenannten "wilden Euthanasie" bis 1945 getötet wurden.
"Das ist gerade das, was ich mir wünsche: Dass die, die dann da stehen denken: Ja, was ist denn nun normal? Ist das nun normal, wenn der gerade hoch wächst oder ist es normal, wenn der sich verzweigt oder eine Spirale macht? Dass sie ratlos davorstehen und es nicht entscheiden können. Und wenn ich sie an dem Punkt habe – das ist das, was ich will. Denn irgendjemand hat das entschieden, der hat sich angemaßt zu sagen: du und du nicht. Und diese Ungeheuerlichkeit, das möchte ich, dass die Leute das auch empfinden."
Darf man denn das, werden einige Zeitgenossen fragen. Bei dem Thema bunte, verdreht-fröhliche Figuren, die Freude zuerst, das Erschrecken "nur" an die zweite Stelle setzen? Dörte Michaelis lacht.
"Ja, das ist `ne schöne Frage – darf man denn das – lacht. Ich denke, es kommt auf die Intention an. Die Form, die ich gefunden habe, die ist für die Leute von heute gemacht."
Ein Ort mit hellen, renovierten Gebäuden, einem schönen Park, in dem viele Patienten spazieren gehen, ein Ort, wo heute Menschen leben und gesund werden wollen – all das hat die Künstlerin zu ihrem außergewöhnlichen Gedenkzeichen bewogen, dessen Brisanz sie sich bewusst ist.
"Ich denke, es wird Diskussionen geben. Hoffen ist zuviel gesagt – ich bin gespannt."
Eigentlich sollte das Gedenkzeichen ja heute, am 2. Mai 2008, in Schwerin eingeweiht werden. Kurzfristig gab die Schweriner Klinik bekannt, der Termin werde verschoben. Der ärztliche Direktor stand nicht für ein Interview bereit, gab aber per E-Mail technische und organisatorische Schwierigkeiten als Grund für die Verschiebung an.
Ein Erinnerungszeichen für die Euthansieopfer der Schweriner Klinik – diese Geschichte scheint eine unendliche zu sein. Sie beginnt weit vor der Wende, als sich eine Ärztin in ihrer Doktorarbeit mit der Geschichte der Psychatrie in Schwerin beschäftigt und erste Forschungen zur Euthanasie in ihrer Klinik anstellt. Die Arbeit durfte damals nicht öffentlich verteidigt und verlegt werden. Nach der Wende gründete sich der "Freundeskreis Sachsenberg", der sich zunächst die Sanierung der maroden Nervenklinik vorgenommen hatte. Erste Ansätze, sich mit der Geschichte zu befassen, verliefen im Sande: Bei einer öffentlichen Tagung zum Thema Euthanasie 1992 blieben ein paar wenige Ärzte unter sich.
"Ja, und da waren die erst mal ein bisschen ernüchtert und haben gesagt: Wir müssen erst Öffentlichkeitsarbeit machen und dann können wir einen Stein aufstellen."
Damals war Dr. Kristina Galleck, eine junge Fachärztin für Psychiatrie, noch nicht selbst an der Klinik. Sie erzählt, dass in den 90er Jahren eine kleine Ausstellung auf dem Klinikgelände zustande kam, deren Öffnungszeiten dann jedoch immer mehr eingeschränkt wurden bis sie ganz geschlossen wurde. Die Ärztin, die heute Vorsitzende des "Freundeskreises Sachsenberg" ist, holt eine Zeitung hervor.
"Es gibt ja einen Zeitungsartikel aus der "Hauspost" vom Mai 1999, da steht: Im Jahr 2000 soll das Mahnmal stehen. Zur Aufstellung eines Gedenkzeichens ist es dann aus irgendwelchen Gründen nicht gekommen, die ich nicht so ganz nachvollziehen kann."
Mehrere Wechsel in der Chefetage, die zunächst wichtigere Sanierung der Klinik, die Privatisierung – jetzt gehört das ehemalige Schweriner Krankenhaus zum Konzern der Helios-Kliniken – und schließlich das zwischenzeitliche Einschlafen des Förderkreises – all das sorgte dafür, dass es erst 2008 dazu kommen soll, ein Gedenkzeichen aufzustellen. Kristina Galleck ist froh, dass es kein einfacher Stein ist oder kein bedrückendes Mahnmal, sondern eben dieser Entwurf von Dörte Michaelis verwirklicht wird.
"Ich habe mir auch andere Mahnmale angeschaut. Und es gibt auch welche, wo ich mir gesagt habe: Um Gottes Willen, so bitte nicht. Wenn man dann durchs Tor tritt – Nervenkliniken sind ja oft ähnlich angelegt mit einem großen Park – und wenn man dann hereintritt, dass man dann gleich erschlagen wird von so einem Klotz: Und so und soviel Tote hier durch die Euthanasie-Aktion – dann möchte man eigentlich gleich wieder gehen. Und wenn ich dann daran denke, dass ich als Patient da rein gehe – die haben halt oft die Vorstellung: Das passiert mit mir auch."
Ein sensibler Ort für ein Euthanasie-Gedenken bleibt eine psychatrische Klinik allemal. Dennoch soll es wenigstens eine erklärende Tafel mit Fakten geben, hat sich der Verein vorgenommen. An die Veröffentlichung der Namen – und damit an die Individualisierung der Opfer, wie etwa in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein oder auf Gedenktafeln in anderen Kliniken – ist jedoch in Schwerin nicht gedacht.
"Da ist halt das große Problem, dass wir auf keinen Fall alle Namen haben. Und weil wir nur einen Teil der Namen haben – das war auch eine schwierige und sehr strittige Frage – haben wir uns dann doch entschieden, gar keine zu nehmen."
Ein Fehler, meint Helga Schubert. Die Psychologin und Schriftstellerin, die in Berlin und in Mecklenburg lebt, war die erste, die sich mit der Geschichte der Klinik auf dem Sachsenberg beschäftigte. Sicher, sagt auch sie, die getarnten Morde der sogenannten wilden Euthanasie sind nicht alle nachzuweisen.
"Aber was man ganz eindeutig weiß in Schwerin, was ganz klar ist, das sind die 279 Menschen, die in zwei Transporten in Bussen nach Bernburg in die zuständige Tötungsanstalt gebracht wurden. Es waren selektierte Menschen, aufgrund der Meldezettel, die in der Klinik ausgefüllt wurden, sind sie selektiert worden und eindeutig am selben Tag in Bernburg ermordet worden. Also wenn man wenigstens an diese Menschen namentlich erinnert, die weiß man, die kennt man."
Die Krankenakten dieser Schweriner Opfer fand Helga Schubert Ende der 90er Jahre im Bundesarchiv in Berlin – zu DDR-Zeiten lagerten sie nicht in Schwerin, sondern beim Ministerium für Staatssicherheit, das mit den Akten Täter erpresste, willfährig machte oder hochgehen ließ – ganz nach politischer Lage, wie in vielerlei Forschungen und Veröffentlichungen nachgewiesen wurde. Kein Angehöriger bekam jemals Bescheid über den wahren Verbleib seines Verwandten, die gefälschten Totenscheine der Nazis hatten damit 60 Jahre Gültigkeit im Familiengedächtnis. Die Schriftstellerin, die auch andere Opferakten für ihr Buch "Die Welt da drinnen" studieren wollte, auch die der Kinder, fragte in der Schweriner Klinik danach. Sie wurde abgewiesen.
"Das erste Mal, als ich mich völlig unvoreingenommen erkundigte, wo sind denn die Opferakten, da wurde mir gesagt: Hier gab es gar keine Kinderfachabteilung. Das war ja der Tarnname der Nazis. Hier sind keine Kinder umgebracht worden. Ich hab dann auch schon mal einen Anruf bekommen, ich soll mir meine Worte überlegen und sie würden aufarbeiten. Das war vor vielen Jahren, und ich habe dann über Jahre keinen Hinweis bekommen, wo die Opferakten sind."
Aktenkundig war jedoch längst der Prozess gegen Dr. Leu, den Chefarzt, der zugab, 80 Kinder in Schwerin selbst getötet zu haben. In einem Nachkriegsprozess in Westdeutschland, wohin Leu geflüchtet war, wurde er freigesprochen – weil er den Richtern glaubhaft machen konnte, er sei eigentlich ein Gegner der Euthanasie gewesen und er habe weitere 100 Kinder, die auch zur Tötung vorgesehen waren, nicht umgebracht.
"In meinen Augen ist es sehr reaktionär, wenn man sagt: Die Kinder sind jetzt tot und man soll Tote ruhen lassen. Oder man ist ein Nestbeschmutzer, wenn man über die Geschichte dieser Klinik aufklären möchte und das alles beschreibt. Und es ist Nestbeschmutzung wenn man die Klinik als eine Klinik bezeichnet, in der Behinderte umgebracht worden sind."
In einem Prospekt, in dem sich die Klinik damals selbst darstellte, fand Helga Schubert einen, wie sie sagt "Zweizeiler" zur Nazi-Vergangenheit. Das Wort "Tötung" tauchte nicht auf.
"Und es ist doch eine ganz verdammte Kontinuität: Wenn eine Diktatur in Deutschland zu Ende ist, ist es niemand gewesen. Man hat immer nur unter Druck gehandelt und man hat immer nur das Schlimmste verhütet und man hat persönlich niemandem geschadet!"
Helga Schubert plädiert dafür, zusätzlich zum Gedenkzeichen einen Dokumentationsraum zu schaffen, in dem man sich über die Vorgänge an der Klinik zur NS-Zeit informieren kann. Und sie fordert mehr Offenheit im Umgang mit den Akten: Die meisten ostdeutschen Krankenhäuser, darunter auch das große Klinikum in Berlin-Buch, haben die NS-Krankenakten längst an die Landesarchive gegeben, wo der Zugang zu den Akten für die Forschung korrekt geregelt ist. Mit dem Hinweis auf Datenschutzgründe und die besondere Schutzwürdigkeit von Akten psychisch Kranker hält die Klinik ihre NS-Akten in Schwerin jedoch weiterhin unter Verschluss.
"Und da gehören sie tatsächlich nicht hin. Und das gehört für mich zu mehreren undurchsichtigen Sachen, die ich in den letzten Jahren mit der Klinik am Sachsenberg erlebt habe. Und ich kann nur hoffen, dass das Mahnmal, das Dörte Michaelis jetzt macht, dass das ein Anfang ist zu einer anderen Sicht auf die Geschichte dieser Klinik."
Immerhin gab es unter der neuen Klinikleitung schon zwei Veranstaltungen, die das Thema Euthanasie und Zwangssterilisierung in Schwerin in den Mittelpunkt stellten. Der Festsaal der Klinik war gut gefüllt, nicht nur Ärzte und Mitarbeiter, sondern auch viele Lehrer waren gekommen an diesem Frühlingstag in Schwerin. So auch Beate Brindow, Lehrerin an der Ostseeschule Wismar, die Haupt- und Realschüler besuchen. Auch sie plädiert dafür, zusätzlich zum Gedenkzeichen an der Klinik eine Ausstellung einzurichten.
"Wenn man mal hierherkommen würde, sich überhaupt einmal mit Krankheiten, mit sogenannten Abnormalitäten auseinanderzusetzen- das ist für Schüler sehr wichtig und sie fühlen sich da oft sehr unsicher. Wir hatten oft Diskussionen, weil so ein Schlagwort ist ja: Biste behindert oder was?!"
Eine junge Schweriner Ärztin, die Internistin Catalina Lange, könnte mit ihrer Doktorarbeit, an der sie seit vier Jahren arbeitet, ein gutes Stück zur Aufklärung an der Klinik beitragen. Als bisher einzige Außenstehende hat sie Einsicht bekommen in die mehr als 1000 Opferakten, die im Klinik-Archiv lagern. Die Verschleierung der Todesursachen in den Akten – Lungenentzündung, Alterschwäche, Blinddarmentzündung, Tbc - macht der Doktorandin bei der Aufklärung zu schaffen.
"Was ich mache, ist in der Tat Indizien zu suchen. Das heißt, ich versuche, die Verwaltungsakten durchzugehen, die Todesstatistiken zu analysieren, und ich versuche natürlich anhand dieser Krankenakten bestimmte Merkmale herauszuarbeiten. Aber was diesem Aktenbestand da oben in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt fehlt ist, dass alle diese Akten nach solchen Gesichtspunkten analysiert werden. Also richtig aufgearbeitet werden. Aber das kann eine Einzelperson nicht leisten. Das müssten im Prinzip mehrere Leute machen."
Das wiederum würde eine Öffnung des Archivs bedeuten – eine Öffnung letztlich nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Angehörige, die beispielsweise in den Bundes- und Landesarchiven das Recht haben, das Schicksal ihrer Verwandten zu erforschen. Zu erfahren, dass sie systematisch unterernährt wurden um an dem Medikament "Luminal" zu sparen, einem Schlafmittel, das überdosiert zum Tode führte. Je leichter der Patient, desto weniger Luminal verbrauchte man, so die zynische Rechnung der Ärzte, fand Catalina Lange heraus.
"Ich denke, das ist schon ein sehr schlimmes, aber auch sehr mahnendes Beispiel für unsere Profession."
Dass Arbeiten wie ihre, wenn sie an die Öffentlichkeit kommen, eventuell den Ruf der Klinik schädigen oder Ängste bei Patienten hervorrufen könnten, diese Argumente kann die junge Ärztin nicht nachvollziehen.
"Wir haben ja in diesem Lande leider die NPD mit an der Regierung – bzw. nicht an der Regierung, aber im Landesparlament. Und man muss vor diesen Dingen immer wieder warnen. Man kann vor der Vergangenheit nicht weglaufen."
Auch Roland Hartwig ist zu der Schweriner Veranstaltung in die Klinik gekommen. Er arbeitet seit 13 Jahren ehrenamtlich als Koordinator des Landesverbandes der Angehörigen und Freunden psychisch Kranker in Mecklenburg-Vorpommern.
"In der Weiterbildung darf dieses Thema zum Beispiel nicht wegsacken. NS-Psychiatrie, NS-Geschichte – all das, was dort geschehen ist, gehört vermittelt an Pfleger, Krankenschwestern, Ärzte. Und da sehen wir große Reserven."
Wäre sonst so etwas möglich, wie es in Stralsund im Jahre 2008 geschah, fragt sich Roland Hartwig - und schüttelt den Kopf.
"Dass in einer Einrichtung in Stralsund im betreuten Wohnen dort, dass dort Stromabschaltungen vorgenommen werden am Wochenende. Es geht so weit, dass Angehörige uns mitteilen, dass der Tagesbedarf beim Essen um die zwei Euro, 2.50 Euro liegt. Uns liegen Zeugenaussagen vor, dass in dieser Einrichtung in Stralsund auf Kosten der Kranken gespart wird – an Elektroenergie und Essen."
Schlecht versorgt zu werden auf seinen alten und kranken Tage – das ist die Schreckensvision für Margret Hamm, die ebenfalls nach Schwerin gekommen war. Weniger für sich selbst fürchtet sie es, sondern für ihre "Schützlinge". Margret Hamm aus Detmold ist Vorsitzende des Bundes der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten. Noch leben etwa 15 000 Menschen dieser Opfergruppe. Viele von ihnen mit sehr kleinen Renten, viele können wegen ihrer geistigen oder körperlichen Behinderung nicht für ihre eigenen Rechte eintreten. Und deshalb findet Margret Hamm eine Tatsche besonders skandalös.
"Dass man diesen Menschen über Jahrzehnte das verweigert hat, was ihnen zustand, nämlich eine Entschädigung und eine Gleichbehandlung mit anderen NS-Verfolgten. Das hat man ihnen schlicht verweigert - bis dato!"
Als 1956 das Bundesentschädigungsgesetz beschlossen wurde, wurden die Opfer von Euthanasie und Zwangssterilisation nicht berücksichtigt. Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" von 1933 war pro forma in der Bundesrepublik immer noch in Kraft. Erst 1974 wurde es "außer Kraft" gesetzt.
"Und bis dahin hat man eben alles abgewiesen mit dem Argument, es sei kein typisches NS-Unrecht."
Bis heute sei das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" zwar "außer Kraft", aber nicht aufgehoben, bis heute fehle es an der moralischen und ethischen Rehabilitierung der Opfer, beklagt Margret Hamm. Erst in den 80er Jahren gab es die ersten Entschädigungen – einmalig 5000 D-Mark für erlittenes Leid, lebenslange Schmerzen, erzwungene Kinderlosigkeit, den Verlust von Angehörigen. Bis heute gibt es für diese Opfergruppe keine regelmäßigen Rentenzahlungen wie für andere NS-Verfolgte.
"Da gäbe es etliche Betätigungsfelder, wie man diesen Menschen ein würdiges Alter oder Noch-älter-Werden ermöglichen könnte. Die Altersstruktur ist so: Die jüngsten sind 75, und dann geht es bis 90 plus. Wenn ich an den älteren Herren denke, der jetzt 75 ist, das jüngste unserer Opfer, der ist im Alter von 10 Jahren zwangssterilisiert worden. Das durfte noch nicht einmal nach diesem Gesetz sein, erst nach der Pubertät durfte diese Sterilisation sein. Die Mutter hatte elf Kinder gehabt, irgendjemand hat sie angezeigt zur Sterilisation weil sie sozial aus der Reihe fiel. Das Kind ist aufgefallen, weil es betteln musste, weil sie arm waren, so viele Kinder. Das war ja eine Zeit, wo die meisten um die Existenz bangen mussten. Und dann wurde der Sohn am gleichen Tag wie die Mutter zwangssterilisiert. Das hat mich zutiefst erschüttert."
Viele der Opfer sind längst gestorben und haben die Scham und den Makel, den sich auf sich lasten fühlten, mit ins Grab genommen. Der Verein leistet Sozialarbeit, betreut Opfer und Angehörige, beantwortet die Fragen der Kinder- und Enkelgeneration, die verschwiegene Kapitel der Familiengeschichte aufdecken wollen. Jedes Jahr kämpft der Bund, der keine Repräsentanz und keine Lobby in Berlin hat, um ein paar Euro für die ehrenamtliche Arbeit. Keiner will uns hören, sagt Margret Hamm.
2007 ein Lichtblick: die "Bundesdrucksache 163811", die ihr ein wenig Mut machte. Zum ersten Mal findet sich dort ein Kommentar eines Abgeordneten, der das Nazi-Gesetz "Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" als "rassistisches Gesetz" bewertet. Ganz zum Schluss des Kommentars wurden die Opfer rehabilitiert. Eine große Veröffentlichung blieb aus. Echo gab es keines. Wer liest schon Bundesdrucksachen?