Keine Menschen, keine Probleme
In Russland sterben pro Jahr bis zu 100.000 Menschen durch den Konsum harter Drogen. Medizinische Hilfe wird den Abhängigen verweigert, denn der Staat kennt nur eine Antwort auf das ausufernde Problem: Repression. Abhängige werden mit brutaler Gewalt von den Straßen vertrieben.
Eine Frau hockt verkrümmt auf dem Asphalt. Mehrere junge Männer schlagen mit Äxten auf ihren Wagen ein. Ihre Hände zittern. Sie sind voller roten Flecken, wie auch ihr Gesicht, ihr Haar und ihre Kleidung. Die Schläger haben sie mit Farbe übergossen.
Der Staatssender NTW berichtet über eine Aktion freiwilliger Drogenbekämpfer, Hooligans der kremlnahen Jugendorganisation "Junges Russland".
Die Schläger der Putinjugend demolieren Kioske, Fahrzeuge und Wohnungen von vermeintlichen Dealern. Sie misshandeln die Leute, schütten kaum abwaschbare Farbe und Federn über sie – eine von höchster Stelle geduldete Selbstjustiz.
Videos solcher Misshandlungen, mit flotter Musik unterlegt, erscheinen regelmäßig auf den Internet-Plattformen der "Jungen Spezialeinheit gegen Drogen", einem Netzwerk, dem Tausende gewaltbereiter Jugendlicher in 30 russischen Städten angehören.
Das Antidrogenkomitee FSKN hat vor kurzem seinen zehnjährigen Gründungstag zelebriert. Die Behördenspitze besteht aus Präsident Putins ehemaligen Geheimdienstkollegen. Nach Angaben der Zeitschrift Forbes sind diese Drogengeneräle innerhalb von zehn Jahren zu den reichsten unter den russischen Ordnungshütern aufgestiegen. Ihre Familieneinkommen sollen sich im Millionenbereich bewegen. Die Herkunft des Geldes ist meist unklar.
Von einer russischen Rauschgift-Apokalypse war vor drei Jahren die Rede. Heute ist die Lage nicht viel anders. Schuld daran sei auch der korrupte und repressive Staat, sagt Alexander Delphinov. Er ist Sachverständiger der Andrey-Rylkov-Stiftung für Gesundheit und soziale Gerechtigkeit, die sich für eine humane und tolerante Drogenpolitik einsetzt.
"Russische Drogenpolitik folgt einem repressiven Konzept. Der Begriff Drogenpolitik existiert bei uns gar nicht, man spricht vom ‚Kampf gegen die Drogen‘ und von der ‚Antidrogen-Strategie‘ des Staates. Ein Beamter des Antidrogenkomitees sagte offen zu mir: ‚Unsere Aufgabe ist es, neue Generationen vor Drogenkonsum zu bewahren. Was die bereits Drogenabhängigen angeht, haben wir einen fetten, schwarzen Schlussstrich unter ihnen gemacht.‘ Im Klartext heißt das nichts anderes, als dass die Antidrogen-Beamten nichts dagegen hätten, wenn alle Drogenabhängigen sterben würden. ‚Kein Mensch, kein Problem‘, das sagte schon Joseph Wissarionowitsch Stalin."
An Rauschgiftmissbrauch sterben in Russland jährlich bis zu 100.000 Menschen. Das sind, pro Kopf gerechnet, fast 50-mal mehr als zum Beispiel in der Bundesrepublik. Die noch zahlreicheren Opfer des Alkohols sind dabei nicht mitgerechnet.
"Leute, das kommt mir wie ein Schwindel vor.
Drogen, das darfst du nicht, und Wodka, bitte schön!"
Singt die Ska-Punk-Band Leningrad. Russlands Lieblingsdroge bleibt nach wie vor Alkohol, der frei erhältlich ist. Der Konsum illegaler Drogen erreichte erst mit dem Zerfall der Sowjetunion an der Schwelle der 90er einen nennenswerten Umfang. Seitdem ist er rasant angestiegen. Jedes Jahr werden in Russland größere Mengen an Opiaten, vor allem Heroin, Cannabis und synthetischen Drogen konsumiert wie Speed, Ecstasy und Spice. 2005 kam dann Krokodil auf den Markt, ein preiswerter Heroin-Ersatz, der auf dem Wirkstoff Desomorphin basiert.
Der Staatssender NTW berichtet über eine Aktion freiwilliger Drogenbekämpfer, Hooligans der kremlnahen Jugendorganisation "Junges Russland".
Die Schläger der Putinjugend demolieren Kioske, Fahrzeuge und Wohnungen von vermeintlichen Dealern. Sie misshandeln die Leute, schütten kaum abwaschbare Farbe und Federn über sie – eine von höchster Stelle geduldete Selbstjustiz.
Videos solcher Misshandlungen, mit flotter Musik unterlegt, erscheinen regelmäßig auf den Internet-Plattformen der "Jungen Spezialeinheit gegen Drogen", einem Netzwerk, dem Tausende gewaltbereiter Jugendlicher in 30 russischen Städten angehören.
Das Antidrogenkomitee FSKN hat vor kurzem seinen zehnjährigen Gründungstag zelebriert. Die Behördenspitze besteht aus Präsident Putins ehemaligen Geheimdienstkollegen. Nach Angaben der Zeitschrift Forbes sind diese Drogengeneräle innerhalb von zehn Jahren zu den reichsten unter den russischen Ordnungshütern aufgestiegen. Ihre Familieneinkommen sollen sich im Millionenbereich bewegen. Die Herkunft des Geldes ist meist unklar.
Von einer russischen Rauschgift-Apokalypse war vor drei Jahren die Rede. Heute ist die Lage nicht viel anders. Schuld daran sei auch der korrupte und repressive Staat, sagt Alexander Delphinov. Er ist Sachverständiger der Andrey-Rylkov-Stiftung für Gesundheit und soziale Gerechtigkeit, die sich für eine humane und tolerante Drogenpolitik einsetzt.
"Russische Drogenpolitik folgt einem repressiven Konzept. Der Begriff Drogenpolitik existiert bei uns gar nicht, man spricht vom ‚Kampf gegen die Drogen‘ und von der ‚Antidrogen-Strategie‘ des Staates. Ein Beamter des Antidrogenkomitees sagte offen zu mir: ‚Unsere Aufgabe ist es, neue Generationen vor Drogenkonsum zu bewahren. Was die bereits Drogenabhängigen angeht, haben wir einen fetten, schwarzen Schlussstrich unter ihnen gemacht.‘ Im Klartext heißt das nichts anderes, als dass die Antidrogen-Beamten nichts dagegen hätten, wenn alle Drogenabhängigen sterben würden. ‚Kein Mensch, kein Problem‘, das sagte schon Joseph Wissarionowitsch Stalin."
An Rauschgiftmissbrauch sterben in Russland jährlich bis zu 100.000 Menschen. Das sind, pro Kopf gerechnet, fast 50-mal mehr als zum Beispiel in der Bundesrepublik. Die noch zahlreicheren Opfer des Alkohols sind dabei nicht mitgerechnet.
"Leute, das kommt mir wie ein Schwindel vor.
Drogen, das darfst du nicht, und Wodka, bitte schön!"
Singt die Ska-Punk-Band Leningrad. Russlands Lieblingsdroge bleibt nach wie vor Alkohol, der frei erhältlich ist. Der Konsum illegaler Drogen erreichte erst mit dem Zerfall der Sowjetunion an der Schwelle der 90er einen nennenswerten Umfang. Seitdem ist er rasant angestiegen. Jedes Jahr werden in Russland größere Mengen an Opiaten, vor allem Heroin, Cannabis und synthetischen Drogen konsumiert wie Speed, Ecstasy und Spice. 2005 kam dann Krokodil auf den Markt, ein preiswerter Heroin-Ersatz, der auf dem Wirkstoff Desomorphin basiert.
Nekrosen, Wundbrand, Organversagen
Krokodil wurde von Anfang an nicht in illegalen Labors, sondern in privaten Küchen aus Schmerzmedikamenten und Benzin gebraut. Die stark toxischen Nebenprodukte verursachen manchmal schon bei der ersten Injektion schwere Gewebeschäden.
Der Name Krokodil macht klar, was den Konsumenten erwartet: Die Haut um die Injektionsstelle verfärbt sich grün, sie sieht wie Krokodilshaut aus. Es folgen Nekrosen, Wundbrand, schließlich Organversagen. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Konsumenten liegt bei einem Jahr nach der ersten Einnahme von Krokodil.
Die meisten Menschen, die sich Krokodil spritzen, hatten davor schon eine schwere Opiatabhängigkeit und können sich das teure Heroin nicht mehr leisten.
"Dein Pass in den Himmel, leb' schnell bevor du den kriegst.
Ich persönlich saufe, und andre Leute fixen."
Krokodil entstand als Droge der Armen, der Verzweifelten und Todgeweihten.
"Unsere Leute haben Angst vor Junkies. Das sind für sie Vampire, die nachts unsere Städte terrorisieren. Die Junkies tragen angeblich immer Spritzen bei sich, gefüllt mit AIDS-infiziertem Blut. Mit diesen Spritzen in der Tasche laufen sie durch unsere Straßen, und wenn sie einen gesetzestreuen Bürger treffen, stechen sie ihn mit ihrer Spritze!
Diese Junkies lauern in Hauseingängen mit Stöcken in der Hand. Sie warten, bis eine Oma reinkommt, um ihr auf den Kopf zu schlagen und ihre Rente, die sie gerade abgehoben hat, zu stehlen und sich dafür Drogen zu kaufen. Ich kann so lange wie ich will erzählen, dass die Verbrechensstatistik das alles gar nicht belegt, dass Drogenkonsumenten gar nicht so viele Gewaltverbrechen begehen. Man glaubt das trotzdem, und das heißt Narkophobie."
Wenn Delphinov die Situation in Russland aus der Ferne betrachtet, stellt er fest: Selbst die russische Alltagssprache stößt Drogenkonsumenten aus der menschlichen Gesellschaft aus.
"Das nennt man hate speech, Hasssprache, die man in Bezug auf diese Menschen anwendet. Zum Beispiel sagt man, dass der Junkie ein Tier ist. Dass der Drogenhändler ein Kannibale ist. Sobald sich solche Wörter in den Köpfen einnisten, halten die Leute Drogensüchtige tatsächlich für Tiere. Tiere darf man töten. Tiere haben keine Rechte."
Drogenopfer sind die Parias Russlands. Sie können keine Suchttherapie bekommen, sie können nicht zum Arzt gehen und sich Substitutionsmittel verschreiben lassen. Der Heroinersatz Methadon, das 2005 von der Weltgesundheitsorganisation in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen wurde, ist in Russland unter Haftstrafe verboten.
Gleichzeitig waren die Medikamente, aus denen Krokodil gebraut wird, bis vor kurzem rezeptfrei und billig zu haben. Die Pharmafirma, die sie herstellt, machte gigantische Umsätze, und das Gesundheitsministerium weigerte sich, eine Rezeptpflicht für sie einzuführen.
Erst nach dem Verbot stieg ein Großteil der Krokodil-Abhängigen auf andere, weniger gefährliche Drogen um, die sie ebenfalls rezeptfrei in der Apotheke kaufen. In ganz Russland gibt es nur eine Handvoll Menschen, die den Suchtkranken helfen wollen:
Der Name Krokodil macht klar, was den Konsumenten erwartet: Die Haut um die Injektionsstelle verfärbt sich grün, sie sieht wie Krokodilshaut aus. Es folgen Nekrosen, Wundbrand, schließlich Organversagen. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Konsumenten liegt bei einem Jahr nach der ersten Einnahme von Krokodil.
Die meisten Menschen, die sich Krokodil spritzen, hatten davor schon eine schwere Opiatabhängigkeit und können sich das teure Heroin nicht mehr leisten.
"Dein Pass in den Himmel, leb' schnell bevor du den kriegst.
Ich persönlich saufe, und andre Leute fixen."
Krokodil entstand als Droge der Armen, der Verzweifelten und Todgeweihten.
"Unsere Leute haben Angst vor Junkies. Das sind für sie Vampire, die nachts unsere Städte terrorisieren. Die Junkies tragen angeblich immer Spritzen bei sich, gefüllt mit AIDS-infiziertem Blut. Mit diesen Spritzen in der Tasche laufen sie durch unsere Straßen, und wenn sie einen gesetzestreuen Bürger treffen, stechen sie ihn mit ihrer Spritze!
Diese Junkies lauern in Hauseingängen mit Stöcken in der Hand. Sie warten, bis eine Oma reinkommt, um ihr auf den Kopf zu schlagen und ihre Rente, die sie gerade abgehoben hat, zu stehlen und sich dafür Drogen zu kaufen. Ich kann so lange wie ich will erzählen, dass die Verbrechensstatistik das alles gar nicht belegt, dass Drogenkonsumenten gar nicht so viele Gewaltverbrechen begehen. Man glaubt das trotzdem, und das heißt Narkophobie."
Wenn Delphinov die Situation in Russland aus der Ferne betrachtet, stellt er fest: Selbst die russische Alltagssprache stößt Drogenkonsumenten aus der menschlichen Gesellschaft aus.
"Das nennt man hate speech, Hasssprache, die man in Bezug auf diese Menschen anwendet. Zum Beispiel sagt man, dass der Junkie ein Tier ist. Dass der Drogenhändler ein Kannibale ist. Sobald sich solche Wörter in den Köpfen einnisten, halten die Leute Drogensüchtige tatsächlich für Tiere. Tiere darf man töten. Tiere haben keine Rechte."
Drogenopfer sind die Parias Russlands. Sie können keine Suchttherapie bekommen, sie können nicht zum Arzt gehen und sich Substitutionsmittel verschreiben lassen. Der Heroinersatz Methadon, das 2005 von der Weltgesundheitsorganisation in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen wurde, ist in Russland unter Haftstrafe verboten.
Gleichzeitig waren die Medikamente, aus denen Krokodil gebraut wird, bis vor kurzem rezeptfrei und billig zu haben. Die Pharmafirma, die sie herstellt, machte gigantische Umsätze, und das Gesundheitsministerium weigerte sich, eine Rezeptpflicht für sie einzuführen.
Erst nach dem Verbot stieg ein Großteil der Krokodil-Abhängigen auf andere, weniger gefährliche Drogen um, die sie ebenfalls rezeptfrei in der Apotheke kaufen. In ganz Russland gibt es nur eine Handvoll Menschen, die den Suchtkranken helfen wollen:
Die Parias Russlands
Zehn junge Leute sitzen an einem großen Tisch eines Moskauer Cafes. Neben ihren Kaffeetassen stapeln sich Packungen mit Medikamenten, Verbandszeug und Zetteln mit Adressen von Anlaufstellen, wo Drogenkonsumenten Nothilfe bekommen. Die Mitarbeiter des Programms für Schadensminimierung der Andrey-Rylkov-Stiftung werden das alles heute Abend auf den Straßen Moskaus verteilen.
"Jetzt sagen wir Teilnehmer, das klingt viel menschlicher. Wir stehen ja nicht in einer Beziehung von Dienstleister-Klient, es ist vielmehr eine Partnerschaft. Es kommt oft vor, dass die Leute auf der Straße über bestimmte Dinge besser Bescheid wissen als wir. Wir tauschen uns also aus."
Manche Drogenkonsumenten bieten den Straßenarbeitern ihre Mitarbeit an, sie beginnen als Volontäre und werden selbst Outreacher, Straßenarbeiter. Wie der Sozialpsychologe Arseniy Pavlovsky und die Geschichtsstudentin Dalja Owtza, die beide diesen Ausweg aus der Drogenspirale genommen.
Jetzt sind sie langjährige Mitarbeiter der Rylkov-Stiftung. Sie sind dadurch Teil eines Programms für sogenannte harm reduction, zu Deutsch Schadensminimierung, das die Gesundheitsschäden bei Drogenkonsumenten senken will. In vielen europäischen Ländern ist das bereits Teil der nationalen Drogenstrategie. Auch in Russland gibt es dieses Programm seit über einem Jahrzehnt, ausgeführt wird es aber nur von kleinen unabhängigen Gruppen.
Heute fahren Arseniy und Dalja in einen Randbezirk Moskaus.
Es ist dunkel geworden. Beide Straßenarbeiter haben vor einer Apotheke Stellung bezogen. Sie beobachten den Eingang. Die Apotheke, ein kleiner Raum hinter einer Gittertür, ist eine sogenannte Sonderapotheke. Hier kann man unter anderem Medikamente aus der Gruppe der Opioid-Agonisten rezeptfrei kaufen – Hustensäfte, Schmerzampullen oder Augentropfen, die man sich statt Heroin spritzen kann.
Heraus kommt eine junge Frau, gekleidet wie eine Verkäuferin eines Modegeschäfts. Sie macht drei Schritte weg von der Apothekentür, dreht sich zur Wand und drückt sich eine Spritze durch die schwarze Strumpfhose ins Bein.
"Wenn einer zu uns sagt, ‚ich muss ins Krankenhaus‘, holen wir einen städtischen Sozialarbeiter, der das zu ermöglichen versucht. In der Regel leider ohne Erfolg. Wir haben einen Klienten, der ins Krankenhaus muss, und wir haben es acht Mal versucht. Wir haben während der letzten zwei Wochen acht Mal einen Krankenwagen für ihn gerufen. Wir sind mit ihm hingefahren und wurden abgewiesen. Was kann man noch einwenden, wenn Ärzte zu einem Obdachlosen sagen: ‚Du hast Geschwüre und angeschwollene Beine, weil du in den U-Bahn-Tunneln schläfst. Du sollst in einem warmen Raum leben.‘ Mein Gott, dann gebt ihm doch ein Bett bei euch im Krankenhaus! Aber nein. Es gibt dafür keine legale Möglichkeit. Wir versuchen es nur deswegen immer wieder, weil wir hoffen, auf einen gutherzigen Arzt zu stoßen."
Das russische Gesundheitswesen fühlt sich für solche Fälle nicht zuständig. Auch das Antidogenkomitee weist die Verantwortung von sich. Es beschäftigt sich nicht mit Menschen, sondern mit Drogen. Aber: Die Rauschmittel, die die eine Hand verbiet, verkauft die andere, sagt der Drogenexperte Delphinov.
"Die Beamten der Drogenkontrolle werden regelmäßig dabei erwischt, Drogenhandel zu organisieren, wie vor kurzem geschah in der Stadt Tscherepowetz. Dort übernahm das örtliche Antidrogenkomitee den gesamten Heroinhandel. Um sie zu verhaften, musste ein Spezialeinsatzkommando aus Moskau eingeflogen werden. Das wiederholt sich ständig, aber ändern tut sich nichts."
Das russische Antidogenkomitee untersagt alle öffentlichen Auseinandersetzungen zum Thema Drogen. Es lässt Romane auf den Index setzen, wenn die Figuren Drogen konsumieren, und verbietet medizinwissenschaftliche Publikationen als angebliche "Drogenpropaganda". Die Webseite der Andrey-Rylkov-Stiftung wurde vorübergehen gesperrt, weil dort unter anderem die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation zur Substitutionstherapie veröffentlicht wurden.
Auch die Straßenarbeiter Dalja und Arkady laufen Gefahr, dass ihre Aufklärung der Suchtkranken als "Drogenpropaganda" ausgelegt wird, oder sogar als Verführung Minderjähriger zum Drogenkonsum, worauf bis zu acht Jahren Gefängnis stehen.
"Jetzt sagen wir Teilnehmer, das klingt viel menschlicher. Wir stehen ja nicht in einer Beziehung von Dienstleister-Klient, es ist vielmehr eine Partnerschaft. Es kommt oft vor, dass die Leute auf der Straße über bestimmte Dinge besser Bescheid wissen als wir. Wir tauschen uns also aus."
Manche Drogenkonsumenten bieten den Straßenarbeitern ihre Mitarbeit an, sie beginnen als Volontäre und werden selbst Outreacher, Straßenarbeiter. Wie der Sozialpsychologe Arseniy Pavlovsky und die Geschichtsstudentin Dalja Owtza, die beide diesen Ausweg aus der Drogenspirale genommen.
Jetzt sind sie langjährige Mitarbeiter der Rylkov-Stiftung. Sie sind dadurch Teil eines Programms für sogenannte harm reduction, zu Deutsch Schadensminimierung, das die Gesundheitsschäden bei Drogenkonsumenten senken will. In vielen europäischen Ländern ist das bereits Teil der nationalen Drogenstrategie. Auch in Russland gibt es dieses Programm seit über einem Jahrzehnt, ausgeführt wird es aber nur von kleinen unabhängigen Gruppen.
Heute fahren Arseniy und Dalja in einen Randbezirk Moskaus.
Es ist dunkel geworden. Beide Straßenarbeiter haben vor einer Apotheke Stellung bezogen. Sie beobachten den Eingang. Die Apotheke, ein kleiner Raum hinter einer Gittertür, ist eine sogenannte Sonderapotheke. Hier kann man unter anderem Medikamente aus der Gruppe der Opioid-Agonisten rezeptfrei kaufen – Hustensäfte, Schmerzampullen oder Augentropfen, die man sich statt Heroin spritzen kann.
Heraus kommt eine junge Frau, gekleidet wie eine Verkäuferin eines Modegeschäfts. Sie macht drei Schritte weg von der Apothekentür, dreht sich zur Wand und drückt sich eine Spritze durch die schwarze Strumpfhose ins Bein.
"Wenn einer zu uns sagt, ‚ich muss ins Krankenhaus‘, holen wir einen städtischen Sozialarbeiter, der das zu ermöglichen versucht. In der Regel leider ohne Erfolg. Wir haben einen Klienten, der ins Krankenhaus muss, und wir haben es acht Mal versucht. Wir haben während der letzten zwei Wochen acht Mal einen Krankenwagen für ihn gerufen. Wir sind mit ihm hingefahren und wurden abgewiesen. Was kann man noch einwenden, wenn Ärzte zu einem Obdachlosen sagen: ‚Du hast Geschwüre und angeschwollene Beine, weil du in den U-Bahn-Tunneln schläfst. Du sollst in einem warmen Raum leben.‘ Mein Gott, dann gebt ihm doch ein Bett bei euch im Krankenhaus! Aber nein. Es gibt dafür keine legale Möglichkeit. Wir versuchen es nur deswegen immer wieder, weil wir hoffen, auf einen gutherzigen Arzt zu stoßen."
Das russische Gesundheitswesen fühlt sich für solche Fälle nicht zuständig. Auch das Antidogenkomitee weist die Verantwortung von sich. Es beschäftigt sich nicht mit Menschen, sondern mit Drogen. Aber: Die Rauschmittel, die die eine Hand verbiet, verkauft die andere, sagt der Drogenexperte Delphinov.
"Die Beamten der Drogenkontrolle werden regelmäßig dabei erwischt, Drogenhandel zu organisieren, wie vor kurzem geschah in der Stadt Tscherepowetz. Dort übernahm das örtliche Antidrogenkomitee den gesamten Heroinhandel. Um sie zu verhaften, musste ein Spezialeinsatzkommando aus Moskau eingeflogen werden. Das wiederholt sich ständig, aber ändern tut sich nichts."
Das russische Antidogenkomitee untersagt alle öffentlichen Auseinandersetzungen zum Thema Drogen. Es lässt Romane auf den Index setzen, wenn die Figuren Drogen konsumieren, und verbietet medizinwissenschaftliche Publikationen als angebliche "Drogenpropaganda". Die Webseite der Andrey-Rylkov-Stiftung wurde vorübergehen gesperrt, weil dort unter anderem die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation zur Substitutionstherapie veröffentlicht wurden.
Auch die Straßenarbeiter Dalja und Arkady laufen Gefahr, dass ihre Aufklärung der Suchtkranken als "Drogenpropaganda" ausgelegt wird, oder sogar als Verführung Minderjähriger zum Drogenkonsum, worauf bis zu acht Jahren Gefängnis stehen.
"Das hat mich so müde gemacht, dieses Leben"
Keine Polizei ist in Sicht. Arkady und Dalja teilen Medikamente aus und beraten die Drogensüchtigen. Für die scheint es wichtig, dass überhaupt jemand mit ihnen sprechen will. Zwei Männer haben Verbandszeug und Entzündungssalben bekommen, trotzdem wollen sie nicht gehen und reden weiter.
"Weißt du, bei mir sind’s zwölf Jahre, und ich bin müde. Das hat mich so müde gemacht, dieses Leben. Verdammt, ich bin erst 28 Jahre alt, und es gibt keinen Ausweg! Weißt du wie es ist, in Treppenhäusern zu schlafen? Einmal haben die Hausbewohner auch auf uns geschossen. Oder du gehst rein, und einer überfällt dich mit einem Schraubenschlüssel."
Beide Männer würden gerne einen Entzug machen, aber keine einzige der in der restlichen Welt anerkannten Suchttherapien ist in Russland zugelassen.
In der Sowjetunion hatte es ein flächendeckendes System von Zwangsbehandlung gegen Alkohol- und Drogensucht gegeben. Es basierte auf kaltem Entzug und Schwerstarbeit und wurde nach dem Beitritt Russlands zum Europarat als rechtswidrig und ineffektiv abgeschafft. Heute will das Antidrogenkomitee das alte System unter einem neuen Namen wiedereinführen.
"Weißt du, bei mir sind’s zwölf Jahre, und ich bin müde. Das hat mich so müde gemacht, dieses Leben. Verdammt, ich bin erst 28 Jahre alt, und es gibt keinen Ausweg! Weißt du wie es ist, in Treppenhäusern zu schlafen? Einmal haben die Hausbewohner auch auf uns geschossen. Oder du gehst rein, und einer überfällt dich mit einem Schraubenschlüssel."
Beide Männer würden gerne einen Entzug machen, aber keine einzige der in der restlichen Welt anerkannten Suchttherapien ist in Russland zugelassen.
In der Sowjetunion hatte es ein flächendeckendes System von Zwangsbehandlung gegen Alkohol- und Drogensucht gegeben. Es basierte auf kaltem Entzug und Schwerstarbeit und wurde nach dem Beitritt Russlands zum Europarat als rechtswidrig und ineffektiv abgeschafft. Heute will das Antidrogenkomitee das alte System unter einem neuen Namen wiedereinführen.
Repression statt Therapie
Staat und Gesellschaft setzen hartnäckig auf Repression: Das Antidrogenkomitee, die Putinjugend mit ihrer "Spezialeinheiten gegen Drogen" und Jewgenij Roisman mit seiner Stiftung "Stadt ohne Drogen".
Männer in schwarzen Jeans und schwarzen T-Shirts treten die Tür einer Wohnung auf. Alle, die sich drin aufhalten, müssen sich auf den Boden legen, das Gesicht nach unten. Dann ziehen die Männer eine Frau hoch und setzen sie vor die Kamera. Sie soll sagen, dass sie Drogen verkauft hat. Irgendwann sagt die Frau alles, was die Männer wollen.
Die rufen dann die Polizei, nun könne die geständige Dealerin abgeholt werden. Mit den beiden anderen jungen Leuten, die immer noch auf dem Boden liegen, sind die Männer aber noch nicht fertig. Die Jugendlichen sollen in die Kamera sagen, dass sie freiwillig in eine private Entzugsstation von Roisman gehen.
Sie weigern sich, doch das würde nichts ändern. Die Männer würden sich eine Einwilligung ihrer Eltern holen. Plötzlich hebt einer der Jugendlichen eine Rasierklinke vom Boden auf. Er schneidet sich blitzschnell immer wieder in die Arminnenseite, bis das Blut spritzt. Nun muss er ins Krankenhaus, vor dem Abtransport auf Roismans Entzugsstation hat ihn das bewahrt.
Die Stiftung "Stadt ohne Drogen" führt jährlich bis zu 300 solcher Aktionen in der Millionenstadt Ekaterinburg im Ural durch. Die Drogenkonsumenten verbringen bis zu einem Jahr in stiftungseigenen Rehabilitationszentren. Neu eingelieferte Suchtkranke werden in eine Art Gefängnisblock gesperrt, der sich auf dem Gelände des Zentrums befindet.
Bis vor kurzem wurden sie dort mit Handschellen an Pritschen gefesselt, geschlagen und unterernährt. Kranke bekamen wochenlang weder medikamentöse noch psychologische Unterstützung. Das hat sich bis heute nicht geändert. Nur die Handschellen wurden nach Kritik von Bürgerrechtlern durch einen Strick und durch Videoüberwachung ersetzt.
Erst nach einem Monat werden Suchtkranke aus der Isolationshaft entlassen, aber sie dürfen Roismans Rehabilitationszentrum nach wie vor nicht verlassen. Die Rehabilitation besteht aus schwerer körperlicher Arbeit.
Über den Erfolg dieser Behandlung konnten keine wissenschaftlichen Daten gesammelt werden. Roisman selbst spricht manchmal von einer fantastischen 85-prozentigen Heilungsquote. In anderen Momenten aber, wenn er auf schwache Persönlichkeit seiner Junkies zu sprechen kommt, erzählt er dagegen, dass sie sogar nach einem ganzen Jahr in seinem Rehazentrum rückfällig werden.
Roismans Erfolgsrezept bestehe aus einer geschickten Manipulation der öffentlichen Meinung, sagt der Sozialarbeiter Arseniy Pavlovsky. Ein Beispiel: 2003 wurden die Rauschgiftdezernate der Polizei, die mit den Heroin-Dealern unter einer Decke steckten, durch ein neues Antidrogenkomitee ersetzt. Vorübergehend verschwand das Heroin in ganz Russland.
"Das Heroin verschwand überall, aber in Ekaterinburg sei dies, so behauptet Roisman, dank ihm geschehen. Wir hatten, sagt er, eine Drogenkatastrophe. Wir waren im Krieg. Kinder trauten sich nicht auf die Spielplätze. Dann kamen wir, die starken Männer. Wir zeigten es den Dealern, wir jagten sie alle weg. Und schaut, auch das Heroin war weg, wir haben gesiegt!"
Zehn Jahre nach Roismans Sieg stellen die Sozialarbeiter in Ekaterinburg fest: In seiner Stadt ohne Drogen ist der Drogenmissbrauch kaum zurückgegangen. Die Drogenszene ist nicht verschwunden, sondern wurde lediglich von der Straße gedrängt. Die Süchtigen brauen ihr Krokodil oder kaufen sich andere Ersatzdrogen, egal welche Schäden sie sich selbst zufügen. Es gibt keine Aufklärung über AIDS, keine sauberen Spritzen, keine direkte Hilfe. In Ekaterinburg ist ihre Lage deshalb noch hoffnungsloser als anderswo in Russland.
Männer in schwarzen Jeans und schwarzen T-Shirts treten die Tür einer Wohnung auf. Alle, die sich drin aufhalten, müssen sich auf den Boden legen, das Gesicht nach unten. Dann ziehen die Männer eine Frau hoch und setzen sie vor die Kamera. Sie soll sagen, dass sie Drogen verkauft hat. Irgendwann sagt die Frau alles, was die Männer wollen.
Die rufen dann die Polizei, nun könne die geständige Dealerin abgeholt werden. Mit den beiden anderen jungen Leuten, die immer noch auf dem Boden liegen, sind die Männer aber noch nicht fertig. Die Jugendlichen sollen in die Kamera sagen, dass sie freiwillig in eine private Entzugsstation von Roisman gehen.
Sie weigern sich, doch das würde nichts ändern. Die Männer würden sich eine Einwilligung ihrer Eltern holen. Plötzlich hebt einer der Jugendlichen eine Rasierklinke vom Boden auf. Er schneidet sich blitzschnell immer wieder in die Arminnenseite, bis das Blut spritzt. Nun muss er ins Krankenhaus, vor dem Abtransport auf Roismans Entzugsstation hat ihn das bewahrt.
Die Stiftung "Stadt ohne Drogen" führt jährlich bis zu 300 solcher Aktionen in der Millionenstadt Ekaterinburg im Ural durch. Die Drogenkonsumenten verbringen bis zu einem Jahr in stiftungseigenen Rehabilitationszentren. Neu eingelieferte Suchtkranke werden in eine Art Gefängnisblock gesperrt, der sich auf dem Gelände des Zentrums befindet.
Bis vor kurzem wurden sie dort mit Handschellen an Pritschen gefesselt, geschlagen und unterernährt. Kranke bekamen wochenlang weder medikamentöse noch psychologische Unterstützung. Das hat sich bis heute nicht geändert. Nur die Handschellen wurden nach Kritik von Bürgerrechtlern durch einen Strick und durch Videoüberwachung ersetzt.
Erst nach einem Monat werden Suchtkranke aus der Isolationshaft entlassen, aber sie dürfen Roismans Rehabilitationszentrum nach wie vor nicht verlassen. Die Rehabilitation besteht aus schwerer körperlicher Arbeit.
Über den Erfolg dieser Behandlung konnten keine wissenschaftlichen Daten gesammelt werden. Roisman selbst spricht manchmal von einer fantastischen 85-prozentigen Heilungsquote. In anderen Momenten aber, wenn er auf schwache Persönlichkeit seiner Junkies zu sprechen kommt, erzählt er dagegen, dass sie sogar nach einem ganzen Jahr in seinem Rehazentrum rückfällig werden.
Roismans Erfolgsrezept bestehe aus einer geschickten Manipulation der öffentlichen Meinung, sagt der Sozialarbeiter Arseniy Pavlovsky. Ein Beispiel: 2003 wurden die Rauschgiftdezernate der Polizei, die mit den Heroin-Dealern unter einer Decke steckten, durch ein neues Antidrogenkomitee ersetzt. Vorübergehend verschwand das Heroin in ganz Russland.
"Das Heroin verschwand überall, aber in Ekaterinburg sei dies, so behauptet Roisman, dank ihm geschehen. Wir hatten, sagt er, eine Drogenkatastrophe. Wir waren im Krieg. Kinder trauten sich nicht auf die Spielplätze. Dann kamen wir, die starken Männer. Wir zeigten es den Dealern, wir jagten sie alle weg. Und schaut, auch das Heroin war weg, wir haben gesiegt!"
Zehn Jahre nach Roismans Sieg stellen die Sozialarbeiter in Ekaterinburg fest: In seiner Stadt ohne Drogen ist der Drogenmissbrauch kaum zurückgegangen. Die Drogenszene ist nicht verschwunden, sondern wurde lediglich von der Straße gedrängt. Die Süchtigen brauen ihr Krokodil oder kaufen sich andere Ersatzdrogen, egal welche Schäden sie sich selbst zufügen. Es gibt keine Aufklärung über AIDS, keine sauberen Spritzen, keine direkte Hilfe. In Ekaterinburg ist ihre Lage deshalb noch hoffnungsloser als anderswo in Russland.
Die letzte Anlaufstelle
Vor der Apotheke in Moskau haben Arseniy und Dalja alle mitgebrachten Medikamente verteilt. Es ist eine von Dutzenden Spezialapotheken in der Stadt, die auch nachts offen bleiben. Die letzte Anlaufstelle für Menschen, die nirgendwo Hilfe bekommen und hier die oft giftigen Ersatzdrogen kaufen.
"Ich habe vor vier Jahren mit der Schadensminimierung angefangen. Am Anfang hatte ich noch Illusionen. Ich dachte, die großen internationalen Hilfsorganisationen würden hier bald große Projekte realisieren. Busse und Servicezentren für Drogenkonsumenten. Nichts davon ist bisher geschehen. Da sagten wir uns, wir versuchen das selbst. Wir sammeln jetzt für unseren eigenen Kleinbus. Das war für uns auch ein Test. Wir haben tatsächlich viele Unterstützer gefunden. Für einen ganzen Bus reicht‘s noch nicht, aber wir könnten uns immerhin schon einen halben kaufen."
"Ich habe vor vier Jahren mit der Schadensminimierung angefangen. Am Anfang hatte ich noch Illusionen. Ich dachte, die großen internationalen Hilfsorganisationen würden hier bald große Projekte realisieren. Busse und Servicezentren für Drogenkonsumenten. Nichts davon ist bisher geschehen. Da sagten wir uns, wir versuchen das selbst. Wir sammeln jetzt für unseren eigenen Kleinbus. Das war für uns auch ein Test. Wir haben tatsächlich viele Unterstützer gefunden. Für einen ganzen Bus reicht‘s noch nicht, aber wir könnten uns immerhin schon einen halben kaufen."