Keine Scheu vor Kritik

Von Bettina Marx · 29.05.2012
Dass die Bundesrepublik nach wie vor eine besondere Verantwortung gegenüber Israel trägt, hat auch Bundespräsident Joachim Gauck am ersten Tag seines Staatsbesuchs deutlich gemacht. Dennoch darf Deutschland keine Scheu haben, die Politik Israels zu kritisieren, meint Bettina Marx.
Es gibt keine deutsch-israelische Freundschaft, sagt der Münchner Historiker Michael Wolffsohn. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern seien ein Elitenprojekt, das von einer kleinen Schicht getragen werde, das aber nicht wirklich die breite Bevölkerung erreiche.

Jüngste Umfrageergebnisse scheinen dieses Urteil zu bestätigen. So halten einer Erhebung im Auftrag des "Stern" zufolge fast zwei Drittel der Deutschen Israel für ein aggressives Land. 70 Prozent der Befragten werfen dem jüdischen Staat vor, seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Völker durchzusetzen. Die große Sympathie, die Israel früher in Deutschland genossen hat, ist Gleichgültigkeit oder kritischer Distanz gewichen.

Das ist nicht überraschend:

45 Jahre Besatzungspolitik im Westjordanland, die brutale Blockade des Gazastreifens, aggressives Vorgehen gegenüber gewaltlosen palästinensischen Demonstranten und eine ausgesprochen unduldsame Politik gegenüber Kritikern im In- und Ausland fordern ihren Tribut. Dass vor allem junge Leute in Deutschland sich von Israel abwenden ist zwar bedauerlich, aber verständlich.

Bundespräsident Joachim Gauck nannte bei seinem Staatsbesuch in Jerusalem diese Entwicklung besorgniserregend. Er bekräftigte, Israel und Deutschland seien enger verbunden als jemals zuvor. Das Eintreten für die Sicherheit und das Existenzrecht Israels seien für die deutsche Politik bestimmend.

In der Tat hat die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin und als moralische Erbin des Dritten Reichs eine besondere Verantwortung für das jüdische Volk. Das monströse Verbrechen der Judenvernichtung durch Nazideutschland prägt das Selbstverständnis der deutschen Demokratie mehr als alles andere.

Wenn aber deutsche Politiker die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsraison erklären, was meinen sie damit? Sollen deutsche Soldaten Israel verteidigen, wenn das Land angegriffen wird? Und was, wenn Israel mit einem Angriff auf einen Nachbarn oder auf den weiter entfernten Iran einen Krieg auslöst? Gilt auch dann die deutsche Verantwortung, für den jüdischen Staat einzustehen? Und welches Israel ist maßgeblich für diese deutsche Selbstverpflichtung? Das Israel in den Grenzen von 1967 oder das Land vom Mittelmeer bis zum Jordan? Gehört die Sicherheit der Siedlungen in den besetzten Gebieten auch zum Auftrag der deutschen Geschichte? Ist Solidarität angemessen, wenn israelische Geheimdienste iranische Wissenschaftler töten und Jerusalem Teheran mit Krieg droht? Und muss Deutschland stillhalten, wenn die Rechte der Palästinenser jahrzehntelang verletzt werden?

Nein! Deutschland muss – und auch das ist eine Lehre aus der Vergangenheit – dem internationalen Recht, den Menschenrechten und der Demokratie verpflichtet sein. Wenn Israel gegen diese Werte verstößt und damit letztendlich die Sicherheit der eigenen Bevölkerung gefährdet, darf Deutschland das nicht unterstützen.

Ein echter Freund ist derjenige, der seinen betrunkenen Freund davon abhält, sich ans Steuer eines Autos zu setzen, sagt der israelische Friedensaktivist Uri Avnery. Für die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit bedeutet dies: sie sollten Israel mahnend zur Seite stehen, in Verantwortung und Verbundenheit, aber ohne Scheu vor berechtigter und deutlicher Kritik.


Mehr Infos zum Staatsbesuch von Joachim Gauck in Israel auf dradio.de:

Gauck pocht in Israel auf Zwei-Staaten-Lösung - Zugleich bezeichnet der Bundespräsident das iranische Atomprogramm als Gefahr