Keiner hört dem anderen zu

Von Ulrich Fischer |
Mit ihrer Münchener "Macbeth" Inszenierung ist die Regisseurin Karin Henkel wieder zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen. Jetzt hat sie einen Theaterabend, der den Roman "Der Idiot" zur Grundlage hat, erarbeitet. Die Hauptrolle, Fürst Myschkin, ist mit einer Frau besetzt: Lina Beckmann.
Dostojewski war seiner Zeit voraus. Sein Genie bestand nicht zuletzt darin, im 19. Jahrhundert bereits Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts vorauszunehmen. In seinem Roman "Der Idiot" betont er das Irrationale in der Handlung und in den Figuren.

Diese Ansätze greifen Karin Henkel und Rita Thiele in ihrer Bühnenbearbeitung wie der Inszenierung für das Kölner Schauspiel, die am Sonntag Premiere hatte, auf und verstärken sie vor allem mit Mitteln des absurden Theaters.

Das fängt schon beim Bühnenbild an. Muriel Gerstner hat die Szene vollgebaut mit einer Einkaufsstraße. Bei näherem Hinsehen hat sie symbolische Qualitäten: Wer Passfotos im Automaten machen lassen will, erfährt etwas über seine Identität und ein Laden erweist sich als "Territorium der Toten". Überdies steht ein Klavier vorn links wie im Salon der Generalin: Außen- und Innenwelt durchdringen sich wechselseitig.

Dostojewski betont mehrmals, dass seine Gestalten etwas ganz anderes sagen, als sie meinen. Die Bearbeitung lehnt sich eng an Dostojewskis Dialoge an, sodass das Gesagte und Gemeinte oft auseinanderfallen oder die Figuren gegen ihren Willen mehr verraten, als sie wollen.

Karin Henkel hat den ersten Auftritt nach der Pause zu einer Schlüsselszene verdichtet: Alle Schauspielerinnen und Schauspieler treten auf, den Text in den Händen, und sprechen, jeder für sich. Keiner hört dem anderen zu: Chaos, Wirrwarr, Durcheinander. Da Fürst Myschkin, der Idiot, gerade einen epileptischen Anfall erlitten hat, wirkt diese Selbstbezogenheit besonders herzlos - ein sprechendes sozialkritisches Arrangement wie bei Pina Bausch.

Lina Beckmann spielt die Hauptrolle. Fürst Myschkin dürfte wegen seiner Epilepsie Erektionsschwierigkeiten haben - vielleicht hat Karin Henkel deswegen die Männerrolle mit einer Frau besetzt. Lina Beckmann spielt einen liebenswürdigen linkischen jungen Mann, der nicht auf sein Äußeres achtet: Die Hose ist viel zu weit, das T-Shirt labberig.

Die meisten Kostüme von Klaus Bruns spielen auf die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts an, andere auf die Entstehungszeit des Romans, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, wieder andere auf unsere Gegenwart. Die Aussage ist klar: Wenn ein "Idiot", ein uneigennütziger Mensch, in die Welt von Egoisten fällt, so wird es schlecht enden. Das war schon zu Dostojewskis Zeiten so und ist heute nicht besser, eher noch schlimmer.

Das Ensemble spielte brillant, es gab trotz des ernsten Themas viel zu lachen. Angelika Richter schoss als bornierte Generalin den Vogel ab. Rechthaberei kann auch komisch sein - auf der Bühne! Viele Figuren blieben bei der Bühnenfassung unberücksichtigt, noch mehr Episoden fielen dem Rotstift zum Opfer, Text wurde umgestellt, aber der Geist Dostojewskis bestimmt die Bearbeitung - sogar ein wütender Ausfall gegen die katholische Kirche wurde im Heiligen Köln ganz im Sinne Dostojewskis vorgetragen. Was wohl der Kardinal sagt? - Die Bühnenbearbeitung wirkte insgesamt als Travestie des Romans; die Witze ließen auch Zoten nicht aus.

Dennoch oder gerade deshalb war das Publikum begeistert. Das Kölner Schauspiel kann lauten Jubel verbuchen. Trotz alledem: Der Roman ist besser.
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