"Die freie Marktwirtschaft ist gescheitert"
"Ich, Daniel Blake" erzählt die Geschichte eines Mannes Ende 50, der nach einem Herzinfarkt nicht mehr arbeiten kann. Doch um Sozialhilfe zu bekommen, muss er weitermachen. Regisseur Ken Loach will der Marktwirschaft den Spiegel vorhalten und fordert einen Systemwechsel.
Susanne Burg: Die Figur von Daniel Blake, die fühlt sich so unglaublich echt an. Kennen Sie einen Daniel Blake?
Ken Loach: Nun, wir haben viele dieser Daniel Blakes getroffen, ältere Männer, sehr gut ausgebildete Handwerker, die krank geworden sind, dann bekommt er einen Herzinfarkt und kann nicht mehr arbeiten, der Staat sagt aber, du musst weiter arbeiten, und das bringt ihn in ein persönliches Dilemma. Und Daniel Blake ist eine fiktionale Figur, die sich der Drehbuchautor Paul Laverty ausgedacht hat, aber es gibt so viele Menschen, so viele Männer, die in derselben Situation sind wie unser Daniel Blake.
Die Wirklichkeit fiktionalisieren
Burg: Dann gibt es ja noch eine zweite Person, Katie, sie ist mit ihren beiden Kindern Daisy und Dylan nach Newcastle gezogen, ist eine ganz andere Generation als Daniel Blake, freunden sich aber an. Die beiden kämpfen dann gegen die Mühlen der Bürokratie und es klingt erst mal, ja, ganz logisch. Aber das Ganze muss man ja auch in eine Geschichte verpacken. Wie sind Sie da vorgegangen, diese Stationen der Mühlen der Bürokratie zu fiktionalisieren?
Loach: Nun, in unserer Recherche, die hauptsächlich der Drehbuchautor Paul Laverty gemacht hat, musste man versuchen, all diese Regeln, diese Prozesse in eine Geschichte zu packen, weil, die tatsächliche Situation ist schon sehr kompliziert. Und wir wollten ja nun keinen Dokumentarfilm darüber drehen, wie die Sozialhilfe in England funktioniert. Also war es uns wichtig, das in eine einfache, nachvollziehbare Geschichte zu packen.
Und Daniel Blake trifft auf diese junge Frau, Katie, und manchmal ist es in Beziehungen, in Freundschaften, wo Menschen sich dann wirklich offenbaren. Und hier, bei dieser Freundschaft zwischen diesen beiden, ist es schon sehr kompliziert, das ist eine sehr konfliktbeladene Freundschaft. Und er ist schon um die 60, sie ist eine junge Frau mit zwei Kindern, hat eine Familie, die er niemals hatte, und er investiert sehr viel in sie und ihre Kinder, sehr viele Emotionen auch. Und als das dann auseinanderbricht, da ist … Ja, da ist er fertig, da ist er am Ende.
Was wir zeigen wollten, ist der Kontext der Bürokratie. Aber das kann man nur dadurch darstellen, diese Auswirkungen, wenn man dafür eine Geschichte findet, wenn man Menschen findet, die echt wirken. Weil, sonst sind es Abziehbilder und dann wirkt es nur wie Propaganda.
Verachtender Umgang mit den Armen
Burg: Ein großes Thema scheint mir auch im Film Würde zu sein. Kann man denn, wenn wir jetzt wieder von dem System reden, im jetzigen System die Würde behalten?
Loach: Nun, die Regierung behandelt die Menschen mit Verachtung. Und das wenige Geld, was sie ihnen gibt, damit sie genug Essen haben, damit sie ein Dach über den Kopf haben, wenn man dieses Geld dann nicht ausbezahlt, dann ist das für die Sozialhilfeempfänger das Chaos und sie werden wirklich gedemütigt.
Zum Beispiel, da ist jemand zwei Minuten zu spät gekommen zu so einem Interview in einem Jobcenter und hat sein Geld nicht mehr bekommen. Wir haben das Beispiel von einem Mann gehört, dessen Frau schwanger war, sie bekam vorzeitig ihre Wehen, er ist mit ihr ins Krankenhaus gefahren, aber während das Baby geboren wurde, hat er eben im Jobcenter sein Interview verpasst und daraufhin hat man ihm die Sozialhilfe gestrichen, er bekam das Geld nicht.
Die Regierung stuft eben auch Leute ein, die krank sind, dass sie eigentlich noch arbeiten könnten. Und auch da haben wir ein Beispiel gehört, das an Daniel Blake erinnerte: Es war jemand, der bereits einen Herzinfarkt gehabt hatte, die Regierung hat ihn trotzdem eingestuft, dass er zum Jobcenter muss. Und während er dort sein Interview hatte, bekam er einen zweiten Herzinfarkt, und in der Konsequenz davon hat man auch wieder die Sozialhilfe gestrichen beziehungsweise sein Geld erst einmal ausgesetzt.
Und die Regierung weiß ganz genau, was sie tut, und das ist wirklich pervers. Es ist nicht so, dass das Zufälle sind. Diese Einstufungen, dagegen kann man streckenweise Beschwerde einlegen, man hat oft sogar Chancen, diese Beschwerde auch zu gewinnen. Aber es ist sehr kompliziert und sehr umfangreich. Und die Regierung nimmt es lieber in Kauf, auch mal einen Prozess zu verlieren, aber bleibt bei dieser harten Linie. Also, die Regierung verliert lieber einen Prozess, als von diesen sinnlosen Einstufungen abzulassen, und nimmt das in Kauf.
Und die Perversion geht so weit, dass es Anordnungen gab für Mitarbeiter der Jobcenter, wie man mit Leuten umzugehen hat, die selbstmordgefährdet sind. Das ist schriftlich ausgearbeitet worden, eine Anordnung. Und dann kann man sich nur noch fragen: In welchem Staat leben wir eigentlich?
Thatchers Politik - für die Arbeiterklasse ein "Desaster"
Burg: Es ist ja mittlerweile auch schon 30 Jahre her, seit Margaret Thatcher 1987 gesagt hat: There is no such thing as society. Also, es gibt nicht so was wie Gesellschaft, es gibt Individuen und Familien, wir müssen uns um uns selbst kümmern. Ist Ihr Film in gewisser Weise auch ein Kommentar auf diese These oder eine Antwort?
Loach: Ja, genau das ist es, das ist das Endresultat dieser brutalen Politik von Margaret Thatcher. Sie hat Menschen in die Armut getrieben, sie hat ganze Regionen, ganze Industriezweige zerstört und ihr Mantra war immer: Gott ist der Markt, ist die freie Marktwirtschaft. Aber eigentlich ist dieser Markt, ist die freie Marktwirtschaft gescheitert. Es war gut für die Reichen, die haben davon profitiert, aber für die Arbeiterklasse, für ganz einfache Menschen war es ein wirkliches Desaster.
Und diese freie Marktwirtschaft ist gescheitert, denn sie basiert ja auf Wachstum. Wir können nicht immer ökonomisch wachsen, wir können nicht immer unsere Ressourcen verschwenden. Und es gibt, Gott sei Dank jetzt in Europa linke Bewegungen, die mir Hoffnung machen, zum Beispiel Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien, streckenweise auch die Linke hier in Deutschland, da gibt es gute Ansätze. Aber die wirklich gute Nachricht ist, die beste Nachricht zurzeit für Linke, ist, dass Labour mit Jeremy Corbyn eben einen neuen Chef hat, der das Kapital auch infrage stellt und der neue Fragen stellen möchte. Weil, das bisschen Geld, was es zurzeit so gibt an Sozialhilfe, das ist nur Barmherzigkeit, das löst keine Probleme. Man muss das ganze System ändern.
Das Publikum berühren
Burg: Dann gibt es ja noch Sie als Filmemacher und Ihre Filme. Wenn wir noch mal über die Gesellschaft reden, könnte man ja auch sagen, dass es im Kino schwieriger ist, Gesellschaft darzustellen, als zum Beispiel Krieg oder Weltuntergang. Denn das, was man von der Gesellschaft auf der Leinwand sieht, ist das, was in ihr schiefgelaufen ist. Wie schwierig finden Sie es, Gesellschaft darzustellen?
Loach: Nun, das ist zurzeit die wichtigste Frage, die man sich jeden Morgen stellt, wenn man aufwacht. Unsere Gesellschaft ist zersplittert. Und wenn ich alleine mir das anschaue, was in Calais geschehen ist, wo die Polizei ein ganzes Flüchtlingslager aufgelöst hat auf sehr brutale und gnadenlose Art und Weise, Flüchtlinge vertrieben hat, da waren Kinder, die acht Jahre alt sind und die keine Eltern mehr hatten. Und all das wegen der kombinierten Dummheit und Grausamkeit der französischen und britischen Behörden. Nein, man muss solche Dinge reflektieren.
Burg: Sie haben in Cannes in diesem Jahr die Goldene Palme gewonnen. Mich würde abschließend interessieren: Was bedeuten Ihnen Preise und was war vielleicht die größte Anerkennung, die Sie erfahren haben als Filmemacher?
Loach: Nun, wir hatten sehr viel Glück und wir sind auch sehr dankbar, dass wir zwei Preise in Cannes gewonnen haben, zweimal die Goldene Palme. Aber der schönste Preis ist eigentlich, wenn das Publikum auf deinen Film reagiert, wenn das Publikum mitgeht, wenn es sich angesprochen fühlt. Und bei "Land and Freedom", einem Film über den spanischen Bürgerkrieg aus dem Jahr 1995, wie wir den in Spanien gezeigt haben, da saßen fast 60 Jahre nach der Niederschlagung der Spanischen Republik 1936, da saßen 70- bis 80-jährige Zuschauer im Saal, die das mitgemacht hatten und die nach der Vorführung nur geweint haben. Und das war ein sehr, sehr großer Moment auch für mich als Filmemacher, denn darum geht es ja, dass man die Leute anspricht mit einem Film, aber auch die anspricht, die solche persönlichen Erfahrungen nicht gemacht haben, aber durch einen Film plötzlich Empathie empfinden, was mitfühlen können. Und das ist das, was für mich dann als Filmemacher sehr zufriedenstellend ist.
Burg: Ein sehr berührender Film kommt jetzt ins Kino, "Ich, Daniel Blake". Der Regisseur ist Ken Loach, vielen Dank fürs Gespräch, thank you very much!
Loach: Okay, thank you!
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