Der Mann, der Babylon ausgrub
Im Berliner Pergamonmuseum sind prachtvolle Bauten Babylons zu sehen. Ausgegraben wurden sie vor etwa hundert Jahren von Robert Koldewey. In ihrem ersten Roman "Babel" erzählt Kenah Cusanit die Geschichte des deutschen Architekten und Archäologen.
Frank Meyer: Das Ischtar-Tor wurde vor über 2.500 Jahren im alten Babylon gebaut, und heute kann man dieses Tor im Berliner Pergamonmuseum sehen, neben Teilen der babylonischen Prozessionsstraße und der Thronsaalfassade aus dieser uralten Stadt.
Und dass diese Schätze der Menschheit nach Deutschland gekommen sind, dabei hat ein Mann eine maßgebliche Rolle gespielt: der Architekt und Archäologe Robert Koldewey. Und der Mann ist die Hauptfigur im ersten Roman von Kenah Cusanit, heute erscheint dieses Buch.
Kenah Cusanit hat vorher zwei Bücher mit Gedichten veröffentlicht, und jetzt ist sie hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen!
Kenah Cusanit: Hallo!
Meyer: Sie haben unter anderem altorientalische Philologie studiert, dabei haben Sie Sumerisch, Akkadisch, Hethitisch gelernt. Sind Sie in dem Zusammenhang Robert Koldewey schon begegnet?
Cusanit: Ja, vermutlich, ich kann das nur rekonstruieren. Wir sind ja beide in der selben Stadt geboren, Robert Koldewey und ich, und dieser Umstand ist mir aber lange, lange Zeit überhaupt nicht aufgefallen.
Meyer: Die Stadt ist Blankenburg im Harz.
Cusanit: Im Harz, genau. Insofern kann ich mich nicht erinnern, wann ich auf ihn aufmerksam geworden bin, aber ich kann mich erinnern, dass mir im Pergamonmuseum einmal aufgefallen ist, also dort, wo die Schätze stehen, dass man viel von dem Ausgestellten sieht, aber wenig eigentlich darüber erfährt, wie das Ausgestellte überhaupt freigelegt wurde und von wem es freigelegt wurde und wie es überhaupt nach Berlin gelangt ist. Und in dieser Situation habe ich die Sache einfach dann mal anrecherchiert und einiges darüber herausgefunden.
Über das Erstarken des Nationalgefühls
Meyer: Das ist dann der Stoff geworden für Ihren Roman. Warum dachten Sie, dass diese Ausgrabungen in Babylon in den Jahren 1899 bis 1917, das ist so der Gesamtzeitraum, warum dachten Sie: Das ist ein guter Stoff für meinen ersten Roman?
Cusanit: Ja, warum dachte ich das? Ich glaube, das Interessante bei der Sache dabei war... also diese Geschichte hat sich aufgedrängt erst mal, aus irgendeinem Grund. Und dann hat sie sich auf interessante Weise mit Themen verbunden, die mich schon immer umgetrieben haben sozusagen. Das hat dann so eine Eigendynamik entwickelt mit obsessiven Zügen, der ich nur noch so ordnend und strukturierend hinterherlaufen konnte.
Meyer: Wenn Sie sagen, hat sich mit Themen verbunden, die Sie vorher schon interessiert haben, welche Themen sind das?
Cusanit: Ja, zum Beispiel, was kulturelle Denkmuster mit Sprache und Schrift zu tun haben, überhaupt Fotografie hat mich immer sehr interessiert, und was es zum Beispiel mit dem Erstarken des Nationalgefühls im 19. Jahrhundert zu tun hat, eine sehr interessante, spannende Frage, überhaupt Wissenschaft, wie sich Wissenschaft entwickelt hat, welche Metaphern und Glaubensvorstellungen der Methodik zugrunde liegen und vieles andere.
Eine Wette mit Tom Tykwer
Meyer: Und als Sie jetzt gesessen haben an diesem Stoff und über Babylon geschrieben haben, auch über Berlin geschrieben haben, das taucht auch auf in Ihrem Roman, also das Berlin dieser Zeit, gibt es einen Besuch des Ausgräbers in Berlin, und da bringen Sie Berlin und Babylon schon so zusammen. Und dann, zack, kommt die Serie "Berlin – Babylon" ins Fernsehen…
Cusanit: Zufall, zufällig.
Meyer: … oder ins Netz. Was haben Sie da gedacht, das ist Rückenwind für mein Projekt oder was ganz anderes?
Cusanit: Ich habe davon erfahren, dass diese Reihe geplant ist, und das hat mir eigentlich einen gewissen Schwung gegeben, weil ich dachte, das kann jetzt nicht sein, dass dieser Tom Tykwer eine Serie plant, die soundso viel Folgen lang ist und dass er damit eher fertig wird als ich mit dem Roman. Und da hatte ich so eine kleine Wette, von der er nichts wusste natürlich.
Meyer: Aber er hat gewonnen.
Cusanit: Er hat, ja, doch ja, er hat gewonnen.
Ein Universalwissenschaftler alter Schule
Meyer: Aber Ihr Buch ist jetzt da. Schauen wir mal auf die Hauptfigur, eben Robert Koldewey. Wir haben ihn ja schon kurz angetippt: Der war wohl ein sehr eigenwilliger Charakter, so schildern Sie ihn auf jeden Fall, das kann man auch anderswo lesen. Wie würden Sie ihn beschreiben, was war das für ein Mensch?
Cusanit: Ja, er war in der Tat in jeder Hinsicht ein sehr eigensinniger Mensch, gehörte sozusagen noch zu dieser Sorte Universalwissenschaftler alter Schule, die neben ihrem Hauptbetätigungsfeld immer auch einen Blick hatten auf andere Fächer und die in ihren Erkenntnisprozess miteinbezogen.
Er möchte halt den Überblick behalten, auch über diese Grabungen, und ich finde, er möchte auch den Überblick über die Zeit behalten. Also das ist ja eine Zeit, die sich schlagartig schnell entwickelt hat, die sehr unübersichtlich geworden ist, und das ist schwierig für ihn und er reibt sich daran ein bisschen auf. Und Erkenntnis ist sein höchstes Glück, und die gibt ihm Sicherheit, Glauben spielt da keine große Rolle mehr.
Ein nationales Prestigeprojekt
Meyer: Und zu seiner Eigenwilligkeit gehört ja auch so seine Stellung zu diesem nationalen Prestigeprojekt, was diese Ausgrabungen ja waren. Die Deutschen haben das ja eben als so ein Prestigeprojekt betrieben, auch in Konkurrenz zu den Franzosen und Briten, die schon andere Sachen entdeckt hatten, die auch da – wie in der Kolonialpolitik – weiter waren, wie man damals dachte.
Aber dann kam eben Babylon. Wir Deutschen graben die Wiege der Zivilisation aus. Wir zeigen uns damit als überragende Kulturnation. Das war damals verbunden mit dieser ja sehr aufwendigen, sehr teuren Kampagne. Aber Robert Koldewey, der scheint diesem nationalen Selbstauftrag ziemlich fernzustehen, oder?
Cusanit: Ja, er war kein Imperialist in dem Sinne. Er wollte einfach dokumentieren, eine Fläche von zehn Quadratkilometern freilegen, und zwar so, wie ihm das gefiel, und nicht, wie es seine Auftraggeber in Berlin sahen. Also er hat jetzt auch nicht vornehmlich nur nach Funden, nach Trophäen gesucht und nach Tontafeln, sondern wollte einfach die Stadt auferstehen lassen.
Raubkunst und Kulturimperialismus
Meyer: Wie ist das Ganze eigentlich nach Berlin gekommen, das Ischtar-Tor und diese anderen großartigen Funde aus dem Osmanischen Reich, später dem Irak? – Das ist eine ziemlich lange und verwickelte Geschichte. Da ist im frühen 20. Jahrhundert schon was nach Berlin gekommen, die letzten Teile 1926 ungefähr, der Erste Weltkrieg liegt dazwischen.
Jetzt wird heute so viel über koloniale Raubkunst gesprochen, es hätte eigentlich nahegelegen, in so einem Roman auch diesen ganzen Themenkomplex miteinzubauen. Das tippen Sie eigentlich nur an. Warum haben Sie das im Prinzip außen vor gelassen?
Cusanit: Finden Sie? Also ich finde, es hat ja viele Grundlagen, diese Diskussion, die jetzt stattfindet, und ich finde, die sind vielleicht indirekt schon ausgebreitet. Es wird ja in diesem Roman nichts so direkt angesprochen, also das ist eine Diskussion, die ist wirklich sehr, sehr komplex. Ich finde Raubkunst, schon das Wort, was ist Raub, was ist Kunst.
Es gab natürlich Fundverträge mit dem Osmanischen Reich, aber die Kunst, über die verhandelt wurde, gehörte ja eigentlich einer Region, die auch das Osmanische Reich usurpiert hatte sozusagen. Und die Menschen, zu deren Kultur die Kunst gehörte, sahen sie aber gar nicht als Kunst an, die Funde, sondern als etwas, was Baumaterial war, das man wiederverwendete.
Meyer: Also viele der alten Ziegel mit dem Stempel von Nebukadnezar zum Beispiel wurden dann in Hütten …
Cusanit: Brunnen und Hütten und Ställen, genau. Dennoch fand halt diese Übertragung dieser Funde, dieser Kulturgüter in deutsche Hände statt, im Geiste des Kulturimperialismus sozusagen. Und ich finde, das ist ein Punkt, an dem man dann wahrscheinlich ansetzen sollte.
Meyer: Wenn man sich wie Sie so lange jetzt auch mit diesem Themenkomplex beschäftigt, kommt man dann zu einer klaren Meinung, das Ischtar-Tor gehört nach Berlin, nach Bagdad, anderswo hin?
Cusanit: Ich befürchte, es gibt keine schwarz-weiße Antwort. Ich hab auch noch keine eindeutige Lösung gefunden, ich bin immer noch dabei, diese Basis, auf deren Grundlage man dann diskutieren kann, zu finden.
"Der Leser muss die Schaufel mit in die Hand nehmen"
Meyer: Ihr Roman, wenn wir mal auf die Schreibweise schauen – einerseits ist es natürlich ein historischer Roman vom Stoff her, spielt eben vor hundert Jahren ungefähr, andererseits erzählen Sie das überhaupt nicht wie einen klassischen historischen Roman. Das sind ja oft Bücher, die sich so richtig wollüstig in die alten Szenerien hineinwerfen und das da gut präpariert herauserzählen.
Bei Ihnen ist das eher, ja, der Roman hat so was Tastendes, Zersplittertes. Am Anfang dachte ich, ja, soll ich hier selbst als Leser eine Ausgrabung vornehmen, mir das freilegen aus dem, was Sie erzählen. War das ein Effekt, den Sie angestrebt haben?
Cusanit: Ja, wenn Sie so fragen, klingt viel Bewusstes an. Manchmal habe ich den Eindruck, es ist leichter, über Atomphysik zu sprechen für mich als über die Konstruktion dieses Romans. Es ist schon so, dass ich die Geschichte ausgraben wollte, wie Robert Koldewey Babylon ausgegraben hat, mehr kann ich dazu gar nicht sagen.
Also er wollte die Stadt auferstehen lassen und ich einfach diese Geschichte und auch diese Epoche. Insofern ist der Roman auch sehr archäologisch geworden, und so ein archäologisches Verfahren korrigiert sich ja beim Machen auch immer selbst, und ich finde, das hallt darin wider. Und ja, ich denke, der Leser muss die Schaufel mit in die Hand nehmen.
Meyer: Dann nehmen Sie die Schaufel in die Hand für "Babel". Heute ist dieser Roman, der erste von Kenah Cusanit, im Hanser Verlag erschienen mit 270 Seiten, 23 Euro ist der Preis. Vielen Dank für das Gespräch!
Cusanit: Vielen Dank!
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