Kent Haruf: "Kostbare Tage"
Aus dem Amerikanischen von pociao und Roberto de Hollanda
Diogenes Verlag, Zürich 2020
352 Seiten, 24 Euro
Zärtlichkeiten bis zum Tod
05:30 Minuten
Kurz von seinem Tod hat Kent Haruf einen Roman über das Sterben geschrieben. In "Kostbare Tage" lässt er das Triviale mit dem Existentiellen in einer Kleinstadt zusammentreffen. Stilistisch nicht brillant, aber bestechend genau beobachtet.
Die Diagnose ist eindeutig. Dad Lewis, dem der große Eisenwarenladen im Ort gehört, hat Krebs und wird sterben. Ein paar Sommerwochen geben die Ärzte dem alten Mann noch. Kostbare Tage. Wir sind in Holt, einer uninteressanten kleinen Stadt in Colorado, mit dem üblichen Mobiliar der Supermärkte, Diners, Highways und der Kirche. Wenn es denn uninteressante Städte gibt, weil ja auch hier in jedem der schindelgedeckten Häuser, in denen wir zu Gast sind, Menschen mit Schicksalen, mit Erinnerungen, mit verblichenen oder lodernden Sehnsüchten leben. Weil es hier die alte Frau gibt, die bei Dad eine Tiefkühltruhe kauft, um ihre Bankauszüge und vergilbten Zeitungen darin aufzubewahren.
Dad Lewis‘ Frau begleitet ihn im Alltag des Sterbens, die Tochter, auch sie schon Mitte fünfzig, kommt aus Denver, um zu helfen. Beide sind ausnehmend liebevoll und befreiend offen. Auch ihm gegenüber, der ein brummeliger Mann war und in seinem Starrsinn sogar seinen homosexuellen Sohn aus dem Haus getrieben hat, was ihm seine Frau auch jetzt nicht verzeiht.
Kleine Zärtlichkeiten
Zwei Freundinnen, Mutter und Tochter auch sie, stehen den beiden Frauen zur Seite, wie auch die Nachbarin, die ihre sechsjährige Enkelin nach dem Tod der Tochter bei sich aufgenommen hat. Das Kind – Antidot zum Sterbenden – wird von den mittelalten und alten Frauen umschwirrt. Von den Töchtern, weil sie selber kinderlos sind, von den Müttern, weil ein junges Leben so etwas wie Hoffnung suggeriert. Während Dad Lewis dahinsiecht, lernt die Kleine nebenan Fahrrad fahren.
Haruf ist kein eleganter Stilist, kann allerdings glänzend scheinbar belanglose Dialoge schreiben. Manchmal kurvt er in seiner Prosa haarscharf an den Kitsch heran. Aber meist erweist er sich als ein bestechend genauer Beobachter trivialer Handlungen und kleiner Zärtlichkeiten und erzählt das Sterben so gemächlich wie das Leben.
Tröstliche Lektüre
Bei der Lektüre gerät man schnell in den Sog eines ruhig dahinfließenden Stromes, in dem hin und wieder ein springender Fisch kleine Wellen aufschäumt. Wenn etwa der Pfarrer Passagen aus der Bergpredigt vorliest und wagt zu sagen, dass auch ein Land seinen Feind lieben könne, statt ihn zu bombardieren, und daraufhin auf einer dunklen Straße von wütenden Dörflern niedergeschlagen wird.
Aber es gibt auch leuchtende Szenen. Sinnliche Bilder. Wenn etwa die vier Frauen mit dem Kind an einem heißen Nachmittag nackt in einen Rindertrog tauchen und sich danach, auf der Weide sitzend, von den Kühen begafft, genüsslich von der Sonne trocknen lassen.
Haruf hat diesen Roman ein Jahr vor seinem eigenen Tod geschrieben und sich bis ins kleinste Detail ins Verrinnen des Lebens hineingefühlt. Am Ende halluziniert Dad und sieht seine personifizierten Schuldgefühle an seinem Bett sitzen: seine Eltern, seine Angestellten, seinen Sohn. Er ringt um Wahrhaftigkeit, um Erlösung. Schlichtes Einerlei und mystische Symbolik stehen bei Haruf unvermittelt nebeneinander. Wie im wirklichen Leben. Und machen diesen hitzeträgen Roman eines sommerlichen Sterbens zu einer tröstlichen Lektüre.