Beachtliche Mängelliste
Der neue Hamburger Generalmusikdirektor Kent Nagano gab mit "Les Troyens" von Hector Berlioz seinen Einstand. Doch alles Bizarre und Originelle der Partitur wurde von ihm auf ein dekoratives Einheitsniveau verflacht, findet Uwe Friedrich.
Wie angeklebt stehen die Solisten an der Rampe und absolvieren ihre Partien. Wer seine Arie alleine singt, darf sich auch gerne mittig am Souffleurkasten postieren, damit er den Dirigenten immer bequem im Blick hat. In den Ensembles stehen sie alle vor dem blockartig arrangierten Chor brav aufgereiht vorne und singen streng frontal in den Zuschauerraum. Mehrmals prasselt hektoliterweise Theaterblut aus dem Bühnenhimmel auf eine riesige, sich drehende Holzklappe, zum großen Liebesduett im vierten Akt regnen dann blutrote Blütenblätter aus dem Theaterhimmel.
Es ist zu hoffen, dass der Regisseur Michael Thalheimer das ironisch meint, aber man kann sich überhaupt nicht sicher sein, ob Thalheimer noch irgendetwas meint mit seinen Inszenierungen. Er ist inzwischen so etwas wie das "One-Trick-Pony" im derzeitigen Regiezirkus. Für jedes Stück lässt er sich vom Bühnenbildner Olaf Altmann eine Holzkiste bauen, in der die Darsteller an die Rampe marschieren, ihren Part frontal in den Zuschauerraum absolvieren und wieder gehen.
Was im Schauspiel für hohes Tempo, eine Brutalisierung und eine wohltuende Abkehr von der Konvention des psychologisierend-realistischen Spiel sorgte, führt in der Oper jedoch schnurstracks in die Sackgasse: Sänger, die ungerührt am Souffleurkasten stehen, frontal den Dirigenten ansingen und auf unterstützende Gesten verzichten, taugen nicht einmal mehr zur Parodie auf die überkommene Kunstform Oper. Das ist bloß ungemein langweilig. Genauso gut könnte man die Aeneis zu Hause aus Gustav Schwabs "Schönsten Sagen des klassischen Altertums" mit Playmobilfiguren nachstellen, der Erkenntnisgewinn wäre wahrscheinlich größer.
Die Frauen schrill, die Männer dumpf
Wenn Kent Nagano nun nach Stationen in Lyon, Berlin und München sein Amt als Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper mit den "Trojanern" von Hector Berlioz antritt, soll das natürlich eine klare Botschaft aussenden: Seht her, auch nach den künstlerisch durchwachsenen Jahren unter der unbeliebten Dirigentin Simone Young ist das Haus ungeheuer leistungsfähig, wir kriegen nämlich eins der monströsesten Werke der Operngeschichte problemlos gestemmt.
Aber was als Leistungsnachweis gemeint war, wird zur Inventur mit beachtlicher Mängelliste.
Denn obwohl eine gute Stunde eigentlich unverzichtbarer Musik dem Kürzungsfuror des Leitungsteams zum Opfer fiel, singt der Chor ungenau, die Frauen klingen schrill, die Männer dumpf. Das Orchester spielt zwar präzise, aber Nagano gönnt der Musik kaum rhythmische Kontur und klangliche Fantasie. Alles Bizarre und Originelle der Partitur wird auf ein dekoratives Einheitsniveau verflacht.
Torsten Kerl hat als Enée massive Probleme und lässt das hohe C gleich ganz weg, Catherine Naglestad ist eine verblüffend undramatische Cassandre, einzig Elena Zhidkova bringt als Dido im zweiten Teil endlich Leben in die Geschichte und zeigt neben dem grandiosen Julian Pregardien in einer kleinen Rolle, wie überwältigend diese Musik sein kann, wenn man sich mit Haut und Haaren auf Berlioz einlässt.
Der neue Hamburger Generalmusikdirektor Kent Nagano hat gerade in einem vielbeachteten Buch erläutert, wie man Oper und klassische Musik für ein breiteres Publikum interessant und aufregend machen könnte. Damit hatte diese Eröffnungspremiere rein gar nichts zu tun. Vielleicht sollten er und der neue Hamburger Intendant Georges Delnon das Buch nochmal gründlich lesen.