Kenzaburō Ōe wurde 1935 auf der südjapanischen Insel Shikoku geboren. Schon während seines Romanistik-Studiums in Tokio veröffentlichte er erste literarische Texte. 1958 erhielt er mit 23 Jahren den renommierten Akutagawa-Preis für seinen Kurzroman „Der Fang“. Darin erzählte er die beklemmende Geschichte eines schwarzen US-Piloten, der über einem japanischen Dorf abstürzt und von den Dorfbewohnern gefangen gehalten wird.
Der Krieg spielte bis zuletzt eine Rolle in Ōes Schaffen, da er sich unermüdlich für ein friedfertiges Japan engagierte.
Als Kenzaburō Ōe 1994 den Literaturnobelpreis erhielt, reagierten Lektoren und Übersetzer auf einmal ganz schnell. Bis dahin hatte man Ōe in Deutschland nur am Rande wahrgenommen. Hier und da war etwas von ihm übersetzt worden, aber keineswegs systematisch. Nach dem Nobelpreis erschienen dann viele seiner Werke auf Deutsch, und zwar in dichter Folge. Auch Ōes Debütroman „Reißt die Knospen ab“, der fast 40 Jahre vorher auf Japanisch herausgekommen war, aber nichts an erzählerischer Kraft eingebüßt hatte. Der Roman spielt in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs.
Es war eine Zeit des Mordens. Gleich einem lange andauernden Hochwasser überflutete der Krieg mit seinem kollektiven Wahnsinn die feinsten Verästelungen menschlicher Gefühle, die verstecktesten Winkel ihrer Körper, die Wälder, die Straßen und den Himmel. [...] In fast allen Nächten, und mitunter sogar tagsüber, erhellten nach Luftangriffen Feuersbrünste den Himmel über der Stadt oder verschmierten ihn mit schwärzlichem Rauch.
Zitat aus „Reißt die Knospen ab“, S. 14
Kenzaburō Ōe erlebte den Krieg als Kind. Er wuchs in einer Kleinstadt auf der Insel Shikoku auf. Mit 18 Jahren beendete er die Schule und ging nach Tokio. Dort studierte er Romanistik, geriet in den Bann des Existenzialismus und schloss sein Studium mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre ab.
Entsprechend düster fiel sein kurz darauf publizierter Debütroman aus. Darin wird eine Jungengruppe zu Kriegsende in einem verlassenen Dorf eingesperrt. Die ärmlich-dumpfen Bewohner sind vor einer vermeintlichen Seuche geflohen. Doch eines Tages kehren sie zurück und quälen die Jungen. Die wiederum müssen entscheiden, wie sie reagieren und wer sie sein wollen – ganz existenzialistisch jeder für sich allein.
Man kann meinen Erzählstil als existenzialistisch bezeichnen. Aber da sehe ich einen Unterschied zu den Romanen von Jean-Paul Sartre und anderen europäischen Schriftstellern. Auch Kafka, Thomas Mann oder Musil haben sehr viele Romane über ihre Kindheit geschrieben. Aber der größte Unterschied besteht darin, dass ich mit dem Personalpronomen ,Ich‘ erzähle, während die eben genannten Schriftsteller eine dritte Person als Erzähler einsetzen, die viel stärker abstrahiert. Meine Erlebnisse gebe ich roh und lebendig wieder und versuche dann, sie zu fiktionalisieren. In Japan muss ich viel Kritik einstecken. Es heißt, dass meine Romane zu persönlich sind. Aber das ist eben meine Methode, und vielleicht erreiche ich damit eine neue Dimension der fiktiven Erzählungen.
Kenzaburō Ōe
Schon früh flossen eigene Erfahrungen in Ōes Romane ein, doch mit den Jahren werden Ich-Erzähler und Autor nahezu deckungsgleich. Besonders persönlich wird Ōe mit der Geburt seines behinderten Sohnes Hikari im Jahr 1963. Hikari hatte einen Gehirnauswuchs am Kopf, wurde operiert, gab aber in den ersten fünf Lebensjahren kaum einen Laut von sich. Von Geburt und Leben mit seinem Erstgeborenen – zwei weitere, gesunde Kinder sollten noch folgen – erzählt der junge Ōe in seinem Buch „Eine persönliche Erfahrung“.
„In diesem Augenblick sah Bird zum ersten Mal seinen Sohn. Ein hässliches Baby, mit einem faltenübersäten, fettglänzenden winzigen, roten Gesicht […]. Bird, er hatte sich unwillkürlich halb erhoben, streckte sich vor und starrte auf den mit Binden umwickelten Kopf des Kindes. Unterhalb der Binden war der Schädel in einen Berg blutbefleckter Verbandwatte begraben, und dass dort etwas befremdlich Großes vorhanden war, daran bestand kein Zweifel.“ (Zitat aus „Eine persönliche Erfahrung“, S. 41)
Auch in späteren Büchern spielt Hikari immer wieder eine Rolle. Manchmal heißt er Akari oder I-Ah – immer aber ist er als Hikari Ōe zu erkennen, der eine tiefe Beziehung zur klassischen Musik entwickelte und selbst zu komponieren begann. Seine Stücke sind einfach, wie man hier hört, zeugen aber von großer Emotionalität.
Anfeindungen aus dem rechten Lager
Bis zum Schluss lebte Kenzaburō Ōe mit seiner Frau Yukari und seinem Sohn Hikari in einem Einfamilienhaus in einem Außenbezirk von Tokio. Ein ruhiges Haus, das er auch in etlichen seiner Bücher beschrieb. Allerdings erhielt er dort manchmal Drohbriefe. Die Anfeindungen kamen aus dem rechten Lager, da Ōe den japanischen Nationalismus stets verabscheute und dies auch öffentlich bekundete. Für seine essayistischen „Okinawa Notes“, in denen er japanische Kriegsverbrechen auf der Insel Okinawa benannte, wurde er sogar von Ex-Militärs vor Gericht gezogen.
Doch er ließ sich nicht beirren und griff sogar den unheroischen Tod seines eigenen Vaters in mehreren Romanen auf. Dieser war Faschist gewesen und ertrank zu Kriegsende unter ungeklärten Umständen. Im Gedenken an Hiroshima und Nagasaki und später auch an Fukushima war Ōe außerdem zeitlebens ein Gegner der Atomkraft.
Ich mache mir um die Zukunft der Menschen Sorgen. In Japan, aber auch weltweit. Am meisten Angst habe ich aufgrund der Atomwaffen. Ich bin der Meinung, dass die verschwinden müssen. Und natürlich mache ich mir auch über die Umwelt Gedanken. Die müssen wir schützen. Und dann gibt es noch Probleme wegen der Überbevölkerung und Arbeitslosigkeit. Im 21. Jahrhundert denkt jeder nur noch an seine persönlichen Begierden. Die sollten wir zurückstellen und weltweit zusammenarbeiten. Die Zukunft ist düster, fürchte ich.
Kenzaburō Ōe
Fatalistisch aber war Ōe nicht. Selbst im hohen Alter nahm er noch an Anti-Atomkraft-Demonstrationen teil und hielt dabei auch häufig Ansprachen. Kenzaburō Ōes Bücher sind in alle Richtungen schonungslos: Sie beziehen politisch Stellung und enthüllen auch viel Privates, was für seine Familie nicht immer angenehm war.
Weitere Nachrufe auf Kenzaburō Ōe
In allen seinen Büchern steckt ein aufklärerischer, oft auch moralischer Impuls. Ōe benannte Traumata, ganz persönliche und auch nationale, war aber zugleich um Heilung bemüht. Die Japanologin Lisette Gebhardt nannte ihn deshalb auch einmal einen „Bibliotherapeuten“.
Genüssliche Dekonstruktion
In seinen letzten Romanen setzte er sich zunehmend mit dem eigenen Werk auseinander. Er scherzte darüber, dass man ihn nicht mehr so viel lese wie früher. In „Der nasse Tod“ ließ er sein Werk sogar genüsslich (und ziemlich langatmig) von einer jungen Theatertruppe dekonstruieren.
Jetzt ist Kenzaburō Ōe in hohem Alter gestorben. Doch was heißt das schon – "gestorben"? In seinem in einem Talkessel liegenden Heimatdorf auf der Insel Shikoku geht man doch eher von Folgendem aus:
In meinem Dorf wird überliefert, dass sich, wenn ein Mensch stirbt, wenn also ein Mensch als Körper stirbt, die Seele von seinem Körper löst und in dem Talkessel aufsteigt. Sie schraubt sich in einer Spiralbewegung aufwärts, weißt du. Dann lässt sie sich an der Wurzel des ihr bestimmten Baumes nieder. Und nach einiger Zeit steigt sie in umgekehrter Spiralrichtung wieder hinab. Um in den Körper eines noch ungeborenen Säuglings einzudringen.
Zitat aus „Tagame. Berlin – Tokyo“, S. 17
Die Bücher von Kenzaburō Ōe sind in deutscher Übersetzung im
S. Fischer Verlag erschienen.