Kernkraftgegner rufen im niedersächsischen Gorleben die "Freie Republik Wendland" aus

Von Andreas Baum |
Der kleine Ort Gorleben ist zum Sinnbild geworden für bäuerlichen Widerstand gegen ein Atommüllendlager und die Erprobung alternativer Lebensformen durch zugereiste Sympathisanten. Dies auch deshalb, weil hier vom 3. Mai 1980 an für einen Monat ein soziales Experiment stattfand: Mitten im Wald, auf der so genannte Bohrstelle 1004 errichteten Demonstranten ein Dorf und einen Staat: Die Freie Republik Wendland.
Dritter Mai 1980: Im niedersächsischen Flecken Trebel, südwestlich von Gorleben, versammeln sich 5.000 Menschen. Sie wollen, wie sie behaupten, den "Kampftag der Wenden" begehen – dieser slawische Stamm besiedelte im Mittelalter das Wendland und ist wegen seines renitenten Widerstandes gegen die Christianisierung in die Geschichte eingegangen. Die Demonstranten ziehen, von der Polizei unbehelligt, durch den Wald bis zur so genannten Bohrstelle 1004. Hier ist bereits eine Lichtung geschlagen, um Platz zu schaffen für eine hydrologische Aufschlussbohrung bis in eine Tiefe von 250 Metern. Es gilt zu klären, ob der Salzstock von Gorleben geeignet ist, Atommüll aufzunehmen – bis in alle Ewigkeit, denn hier ist das Endlager der Bundesrepublik Deutschland geplant. Es ist nicht die erste Bohrung, auch nicht das erste Mal, dass Widerstand geleistet wird. Das Lokalblatt in Lüchow berichtete kurz zuvor:

In einer spontanen Aktion karrten Bauern mit Jauchewagen 40.000 Liter stinkende Gülle heran und versprühten sie über das Bohrgelände.

Es sind die Proteste der Anwohner, Bauern, die sich bis dahin nicht um Politik geschert hatten, die die niedersächsische Landesregierung aus dem Konzept bringt: Ministerpräsident Ernst Albrecht hatte kurz zuvor von den Plänen Abstand genommen, hier eine Wiederaufbereitungsanlage zu errichten, weil er, wie er sagte, keinen Bürgerkrieg im Land riskieren wollte. Bei den Plänen für das Endlager im Salzstock von Gorleben bleibt es aber – wie auch beim Widerstand der Einheimischen.

"Unser Kreis hat 48.000 Einwohner, und davon haben über 20.000, ich glaube es waren 24.000, eine Resolution, die sich gegen dieses Gorleben-Projekt stellte, unterschrieben.
Wir haben ja vorher auch nie Polizei gesehen. Außer den kleinen Verkehrskontrollen. Aber man ist jetzt ja ständig von Polizei umgeben."

Mit der Entscheidung, Atommüll ins Wendland zu bringen, rücken die abgelegenen Gemeinden an der Grenze zur DDR in den Blick der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Fast jedes Wochenende werden Protestmärsche organisiert, Kundgebungen veranstaltet, Straßenkreuzungen besetzt.

"- Machen Sie also bitte die Kreuzung frei. Sie werden sonst von uns dazu veranlasst. Ende der Durchsage. Zeit: Null Neun Uhr Siebenunddreißig."
"- Wir wissen, dass wir dadurch, dass wir hier sitzen, die Straßenverkehrsordnung behindern, wir möchten jedoch durch diese Aktion, die einschließt, dass wir vielleicht festgenommen werden, unsere Betroffenheit ausdrücken über das gesamte Atomprogramm der Bundesregierung. "

Mit dem Bau eines provisorischen Dorfes auf dem Bohrplatz 1004 erreicht der Widerstand eine neue Qualität: Die Atomkraftgegner sind gekommen, um zu bleiben. Sie rufen auf dem Gelände ihren eigenen Staat aus, die "Freie Republik Wendland." Der Spiegel berichtet mit einer Mischung aus Faszination und Befremden:

Für zehn Mark gibt es am Schlagbaum, über dem gelb und grün die Fahne dieser freien Wendenrepublik flattert, nebst Einreisestempel einen ‚Wendenpass’, der gültig ist, ‚so lange sein Inhaber noch lachen kann’.

Wer ausreisen will, muss an einem warnenden Schild vorbei:

Halt, BRD. Vorsicht, Schusswaffen.

In der Republik Freies Wendland lebt eine Kerngruppe von 300 Menschen, an den Wochenenden füllt sich das Dorf mit Tausenden von Unterstützern. Es gibt ein Meditationshaus, ein Freundschaftshaus, einen frühwendischen Thingplatz und eine Kirche aus Baumstämmen mit einem weithin sichtbaren Holzkreuz obendrauf.

Über den Platzlautsprecher tönt es: Wer im Wald aufs Klo geht, bitte die Scheiße vergraben.

…schrieb der Spiegel weiter. Nur drei Wochen lang währt die Idylle. Bulldozer künden schon Tage vor der Räumung davon, dass die Landesregierung nicht gewillt ist, eine derartige Häufung von Gesetzesbrüchen zu dulden:

Das Baugesetz, die Bauordnung, das Feld- und Forstordnungsgesetz, das Waldgesetz, das Seuchengesetz.

Auch das Meldegesetz ist verletzt worden, denn keiner der Besetzer hatte sich binnen acht Tagen bei der Gemeinde Trebel polizeilich angemeldet. Am 4. Juni marschieren mehrere Hundertschaften Polizei und Bundesgrenzschutz auf. 2.000 Dörfler und Angereiste lassen sich widerstandslos wegtragen – man hatte Gewaltfreiheit vereinbart. Die Staatsmacht hält sich nicht daran.

"Die Räumung, die eigentliche Räumung begann kurz nach elf Uhr, das war zunächst einmal so, man muss das einmal erklären, dass Beamte zugriffen, dann muss einigen Beamten die Nerven durchgegangen sein, sie schlugen wahllos, ich habe das in drei Fällen beobachten können, auf Demonstranten ein, die nichts anderes taten, als auf dem Erdboden zu sitzen."

Auch Reporter werden geschlagen. Um 20 Uhr ist der Platz leer und von Stacheldraht umzäunt: Die Freie Republik Wendland existiert nicht mehr.