Kerstin Decker: "Die Geschichte des Menschen, von einer Ratte erzählt"
Berlin Verlag, Berlin 2021
432 Seiten, 24 Euro
Ein provokantes Tier erklärt die Menschheit
05:33 Minuten
Manchmal braucht es den Blick von außen, um sich selbst zu verstehen. Für "Die Geschichte des Menschen" nutzt die Schriftstellerin Kerstin Decker eine Ratte als Sprachrohr und verkündet überraschende Einsichten und starke Meinungen.
Rattus rattus neigt zur Provokation: "Zum Tier hat es nicht gereicht, da wurdet Ihr Mensch", heißt es am Anfang dieses über 400 Seiten dicken Buches. Ein Wesen mit eingeschränkten Sinnen und Fähigkeiten, ganz abhängig von der Gruppe.
Und doch hat die Ratte ihr Schicksal mit dem des Menschen verknüpft: "Wir teilen den Tisch mit euch, genauer, wir sitzen darunter. Wir sind eure Nächsten".
Seit der Erfindung des Ackerbaus, durch die Frau übrigens, sitzt die Ratte in den Speichern, ist ganz nah dran, wenn auch meist unsichtbar. Und weil die beiden Arten den Lebensraum teilen, sind sie sich so ähnlich: "Wir sind beide Opportunisten, Kosmopoliten und Allesfresser."
Ungewohnte Perspektive von unten
Die Ratte wählt den Blick von unten auf die Geschichte. Die Landwirtschaft ernährt nicht nur die Ratten, sie führt auch zur Erfindung der Arbeit. "Ich ergänze: und der Möglichkeit, sie auf andere abzuwälzen". Mit Gleichheit war erst einmal Schluss.
Das Weltreich Rom ist aus Rattenperspektive vor allem wegen der Kanalisation relevant. Die Pest natürlich auch, weil die Ratten sie und damit den Untergang brachten. Bei der "Entdeckung" Amerikas waren Ratten mit an Bord und bekamen mit, wie die Ortsansässigen die bleichen Fremden für die eigenen Machtkämpfe instrumentalisierten. Bevor sie dann selbst unterjocht wurden.
Auch die Katakomben von Paris werden erwähnt, die Osterinsel, die Verstädterung der Welt, Überbevölkerung und die Frage, warum heute wenigen Reichen praktisch die ganze Welt gehört: "Kein Tier würde das hinnehmen", kommentiert die Ratte.
Viel Information auf wenigen Seiten
Geschichte und Gesellschaft so an der Natur zu messen ist überraschend. Leider ist Deckers Ratte allzu geschwätzig. Auf nur drei Seiten springt sie von Homer zu einer Fledermaus, von Nietzsche zum Rattenfänger von Hameln und fragt, ging es nicht um den Rattenfänger, wie langweilige Philologen behaupten, sondern vielmehr um Kinderkreuzzüge?
Beim Lesen dreht sich irgendwann der Kopf. Denn es gibt immer wieder unvermittelt Kommentare zum heute, zur Gendersprache etwa: "Euer Neudeutsch", heißt es da, "in ihm lassen sich noch Formulare ausfüllen, aber keine Gedichte mehr schreiben."
Das ist dann keine Außenperspektive mehr. Weniger Ratte, eher Kerstin Decker.
Eine gute Idee - eigentlich
Am Ende bleibt der Eindruck: Hier wurde eine wirklich gute Idee verschenkt. Ein straffes Lektorat hätte die Perlen fein auffädeln können, die Kerstin Decker an der Reibungsfläche zwischen Gesichte und Biologie entdeckt. Bis hin zu ihrer düsteren Zukunftsperspektive: "Kann sein, am Ende werden allein wir beide übrig bleiben, der Mensch und die Ratte, die beiden erfolgreichsten Säugetiere der Erde."