Kerstin Hensel: "Regenbeins Farben". Novelle
Luchterhand Verlag, München 2020
252 Seiten, 20 Euro.
Aus der Trauerumklammerung lösen
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Drei Frauen pflegen die Gräber ihrer Männer. Abwechslung kommt auf, als sich ein Witwer zu der kleinen Friedhofsgesellschaft gesellt. Ein Roman, der aufs Schönste Tragik und lebensbejahende Komik verbindet.
Der zentrale Handlungsort in Kerstin Hensels Novelle "Regenbeins Farben" ist der Nordfriedhof, wo sich – Grabpflege ist der Grund – in schöner Regelmäßigkeit drei Witwen treffen. Als Vierter gesellt sich der Witwer Eduard Wettengel zu Karline Regenbein, Lore Müller-Kilian und Ziva Schlott.
Die 1961 in Karl-Marx-Stadt geborene Hensel erzählt, wie sich ihre nach neuem Lebensglück greifenden Protagonisten aus der von den Toten ausgehenden Trauerumklammerung zu lösen versuchen. Wenn auch unterschiedlich, haben die Toten ihre Hinterbliebenen über den Tod hinaus im "Griff".
Bereits auf den ersten Seiten der Novelle bringt Hensel das Dasein realer Erdenschwere in Beziehung zum luftig Leichten. Denn über den in der Nähe eines Flugplatzes gelegenen Friedhof fliegen immer wieder Düsenmaschinen hinweg.
Mit dem Tod gehen Hensels Frauenfiguren ganz unterschiedlich um. Karline Regenbein, die 49-jähriger Malerin, findet Trost in der Kunst. Lore Müller-Kilian, die seit Jahren ihren siebzigsten Geburtstag verschiebt, führt das sorgenfreie Leben einer reichen Fabrikantenwitwe. Und Ziva Schlott, eine Kunstprofessorin weit in den Achtzigern, war und blieb eine dem Tod trotzende Wissenschaftlerin.
In der Ehe nur Beiwerk
Zwar erwies sich der Tod als Zäsur, aber mit dem Leben abgeschlossen haben die drei Frauen dennoch nicht. Unter Verweis auf unterschiedlichste Frühlingssymbole beschreibt Hensel lust- und humorvoll, wie die mit den Gräbern ihrer Ehemänner beschäftigten Witwen aufschauen, wenn sie den das Grab seiner Frau besuchenden Galeristen Eduard Wettengel bemerken. Sie suchen seine Nähe, registrieren Auffälligkeiten seiner Garderobe, drängeln sich, um wahrgenommen zu werden, in den Vordergrund und sind tief getroffen, wenn ihnen Zuwendungsunterschiede auffallen.
Mit ihrem sehr feinen Sprachgefühl gelingt Hensel die Beschreibung von Situationen, in denen die sich von ihren Männern lösenden Witwen nun ihrerseits beherzt nach dem flotten Mittfünfziger greifen. Alle Figuren, bis hin zu den Verstorbenen, werden biographisch sehr genau geerdet.
Schneidend schlägt in das Leben der Jüdin Ziva Schlott die Geschichtspeitsche, Trauerwölfe lassen Karline nicht los und Lore beginnt zu begreifen, dass sie in ihren Ehen stets nur schönes Beiwerk war. Unter Verwendung von spöttischem, gelegentlich ins friedhofsschwarze gesteigertem Humor gelingt es Hensel, die Lebensgeschichten ihrer Figuren zu erschließen, wobei sie ein untrügliches Gespür dafür besitzt, wann der Tragik nur mit lebensbejahender Komik begegnet werden kann.
Diskreter Dialog mit Goethe
Oben und unten, die Erde auf der einen und der mit Sehnsüchten vollgepackte Himmel auf der anderen Seite: Für das bewegte Leben, in dem der Einzelne nach seinem ganz persönlichen Glück sucht, wird in Hensels stilistisch ausgefeilten Buch auf das Jojo verwiesen: Wie an einer Schnur bewegt sich das Leben zwischen oben und unten, wobei der Faden auch die Lebenden mit den Toten verbindet.
Eingeschrieben ist diesem an Lebenserfahrungen reichen Buch ein eigener, sehr diskret geführter Dialog mit Goethes "Wahlverwandtschaften". In Goethes Klassiker strebt der mit Charlotte in einer vermeintlich glücklichen Beziehung lebende Eduard nach dem absoluten Glück, das er nur bei Ottilie zu finden glaubt. Er muss sich zwischen zwei Frauen entscheiden.
Hensel verlagert das bei Goethe von Eduard ausgehende Begehren auf die Frauenfiguren, die um den männlichen Protagonisten werben. Vom Glück aber scheint Eduard so viel zu wissen, dass er es bei keiner der ihn begehrenden drei Frauen zu finden glaubt. Eine Anspielung, die gerade deshalb besonders reizvoll ist, weil sie in diesem sehr lesenswerten Buch eher beiläufig miterzählt wird.