Kerstin Preiwuß: „Heute ist mitten in der Nacht“

Poetik der Angst

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Cover des Buchs "Heute ist mitten in der Nacht" von Kerstin Preiwuß
© Deutschlandradio / Berlin Verlag

Kerstin Preiwuß

Heute ist mitten in der NachtBerlin Verlag, Berlin 2023

192 Seiten

22,00 Euro

Von Miriam Zeh |
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Angst hat viele Gesichter. Sie zeigen sich angesichts privater Verluste und politischer Krisensituationen. Die Lyrikerin und Autorin Kerstin Preiwuß verbindet beide Sphären klug und sensibel zu einer emotionalen Landkarte Deutschlands.
Angst kann dumpf sein und lähmen. Sie kann in Gefahrensituationen als helle Panik aus einem schießen wie Blut an einer empfindlichen Stelle des Körpers. Angst führt auf die falsche Fährte oder erweist sich als hellsichtige Eigenschaft. „Sezier also die Angst“, fordert Kerstin Preiwuß in ihrem Essayband „Heute ist mitten in der Nacht“. Und sie folgt ihrem selbstgesetzten Aufruf prompt.

Angst in Variationen

In biografischen, sprachphilosophischen und politischen Denkstücken, in Lektüren und Gedichten identifiziert sie die Angst in ihren verschiedenen Variationen als vorherrschendes Gefühl der vergangenen zwei Jahre. Das gilt für ihr persönliches Leben genauso wie für das öffentliche. Beide Sphären verbindet Preiwuß klug und sensibel, ohne sie gegeneinander aufzuwiegen.
Vielmehr ergänzen sich der Vergewaltigungsversuch, dem sie in ihrer Jugend nur knapp entkommen ist, der Tod ihres Vaters oder die Wahrnehmungen von Coronapandemie und Ukrainekrieg zu einer emotionalen Landkarte Deutschlands. Mehr noch: Für sie als Autorin, die nie über sich selbst schreiben wollte, wird die private Krise erst in der entsprechenden Weltlage artikulierbar: „In dem Moment, wo sich eigenes Unglück und allgemeine Katastrophe decken, ist das Unglück auf paradoxe Art nicht mehr privat, sondern wird mittelbar, denn an der Katastrophe leiden alle.“

Sehnsucht und Panik

Eine lineare Struktur darf man von diesem Band nicht erwarten. „Heute ist mitten in der Nacht“ versammelt neue und bereits veröffentlichte Texte, die in sich in Anlass und Form unterscheiden.
Darunter aber sind Angstanalysen, die Augen öffnen: Wo sich die Angst in Preiwuß‘ Rostocker Schulzeit in den 80er-Jahren nach einem sowjetischen Soldaten sehnte, weint sie wenige Jahrzehnte später bei der Live-Schalte zum Euromaidan. „Vielleicht, weil du aus einem Land kommst, in dem eine Revolution auch zugelassen wurde, und nun zusiehst, wie einem Land eine Revolution gelang, die nicht zugelassen wurde“. Wo ihre Stimme heute vor Panik vibriert, wenn sie die skatende Tochter vor dem herannahenden Bus warnt, hört sie auch die eigene alleinerziehende Mutter rufen. „Das Schlimme an der Angst ist, dass man ihr mehr vertraut als sich selbst und jedem zujubelt, der ihr recht gibt.“

Hass aus Angst

Und wo Angst sich in Hass und Verachtung spaltet, erkennt sie Preiwuß als Fratze wieder, etwa beim rassistischen Anschlag in Rockstock-Lichtenhagen oder in aktuellen Berichten aus Kriegs- und Katastrophengebieten, die in Selbstdarstellung kippen: „Guten Morgen aus dem Untergang, ein bisschen Einordnung von mir für dich, wir alle, wir alle.“
Kerstin Preiwuß gräbt nach der letzten Wahrheit, die in Worten steckt. Was sie gefunden hat, wird sich vielleicht erst mit zeitlichem Abstand vollständig entfalten - wie die Arbeiten einer naturwissenschaftlichen Zeichnerin aus der Schweiz, von der Preiwuß erzählt. Sie kartografiert unzählige Wanzen aus der Nähe von Atomkraftwerken, nur um nach Generationen um Generationen womöglich minimale Deformationen festzustellen. Mit dieser lyrischen Dokumentation der alltäglichen Angst in den frühen 2020er-Jahren mag es ähnlich sein. Doch jetzt schon zeigt die Lektüre: Es lohnt sich immer, den Dichterinnen und Dichtern zuzuhören – gerade in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen.
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