Kettwig und die Gebietsreform

Wundenlecken an der Ruhr

Fachwerkhäuser in der malerischen Altstadt von Kettwig, das 1975 nach Essen eingemeindet wurde − gegen den Widerstand vieler Bürger.
Fachwerkhäuser in der malerischen Altstadt von Kettwig, das 1975 nach Essen eingemeindet wurde − gegen den Widerstand vieler Bürger. © dpa / picture alliance / Horst Ossinger
Von Moritz Küpper |
Sechs Städte in Nordrhein-Westfalen wollten sich nicht mit der Eingemeindung in umliegende Kommunen abfinden − sie begehrten auf und gründeten den "Kettwiger Kreis". Namensgeber Kettwig kämpfte für seine Unabhängigkeit von Essen, doch der Erfolg blieb aus.
Hans-Jürgen Storch sitzt am Märchen-Brunnen. Für den 57-Jährige ist das der Treffpunkt im Dorf. So nennt er Kettwig. Essen-Kettwig, so heißt es offiziell. Aber:
"Kettwig! Also Essen, muss runterschlucken. Ich bin durch und durch Kettwiger und kein Essener. Da kräuseln sich mir die Haare. Mit Essen habe ich keine Heimatgefühle…"
Storch ist zum Einkaufen ins Zentrum gekommen, er trägt ein rotes Polo-Hemd, an dessen Kragen das Stadtwappen von Kettwig gesteckt ist. Er ist so etwas wie der Chronist des Stadtteils, der einst eine eigene Stadt war. Auf seiner Website lässt er die Geschichte der eingemeindeten Stadt hochleben, in seinen Büchern erinnert er an alte Tage: "Kettwiger Nostalgie", heißt eines – und Storch hat es mitgebracht.
Die Bilder im Buch zeigen, wie die Straßen einst verliefen. Storch selbst wohnt ein wenig außerhalb des Zentrums, in einem Neubaugebiet:
"Das hat man damals auch gebaut, um die Einwohnerzahl zu erhöhen und der Eingemeindung zu entgehen."
Alles musste größer, schöner, höher werden
Doch die Maßnahme verpuffte. Am 1. Januar 1975 wurde die Stadt Kettwig trotz massiven Widerstands der Bevölkerung im Rahmen der Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen aus dem Kreis Düsseldorf-Mettmann in die Stadt Essen eingemeindet – und teilte damit das Schicksal vieler anderer kleiner Städte. So weit, so gut, doch Jahre später flammte der Widerstand nochmals auf:
"Der Kettwiger Kreis ist ja hervorgegangen aus, ich will mal so sagen, den lockeren Überlegungen nach 1975: Was können wir machen?"
Jost Benfer sitzt in seinem Haus in Wattenscheid. Bochum-Wattenscheid, wie es eben seit 1975 heißt. Der Jurist, einst bei der Polizei tätig, trägt ein blau-weißes Hemd und eine Brille mit einem schmalen, goldenen Rand. Einst kämpfte Benfer für die Souveränität von Wattenscheid – ebenfalls vergeblich:
"Das war ja auch die Zeit der Gigantomanie: Alles musste größer, schöner, höher werden."
Erinnert er sich an den Trend der Eingemeindung, der dann politisch umgesetzt wurde. Er, der Gegner, hatte jedoch einen anderen Verdacht:
"Diese großen Städte, diese riesengroßen Städte, die man ja angedacht hatte, führten natürlich dazu, dass die Besoldung der Beamten in diesen Städten exorbitant stieg mit dem 1. Januar 1975."
Beweisen kann Benfer es nicht, doch der Verlust der Heimat, er ließ in sechs Städten den Wunsch wachsen, es noch einmal zu versuchen, unabhängig zu werden. Auch Jahre später. Am 22. Juni 1983 gründete sich der "Kettwiger Kreis": Neben dem Namensgeber und Wattenscheid waren Rheydt bei Mönchengladbach, Porz bei Köln, Hohenlimburg und Rheinhausen dabei. Aus den einzelnen Bewegungen wurde eine landesweite Initiative:
"Ja, und dann begann eine anstrengende, aber auch unglaublich interessante politische Arbeit."
... die Benfer im Jahr 2009 aufgeschrieben hat: "Rückgemeindung. Sechs Städte begehren auf", so heißt es. Auf 103 Seiten hat Benfer die Jahre von 1983 bis 1990 dokumentiert: Protestveranstaltung, Podiumsdiskussionen und Politikergespräche, Reparaturversuche und Gutachten – doch das Ergebnis blieb am Ende gleich: Es passierte nichts. Als Benfer im Jahr 1990 als unabhängiger Landtagskandidat für die Bewegung in Wattenscheid antrat und nur 3158 Stimmen auf sich vereinen konnte, war die Bewegung gescheitert.
Über sieben Jahre haben die Versuche gedauert, doch, so Benfers Fazit im Rückblick, all die Hoffnungszeichen, all die Gesprächsbereitschaft der Politik waren trügerisch. Schlussendlich hatte es nie den wirklichen Willen gegeben, diesen einst umstrittenen Beschluss noch einmal anzurühren. Eine späte, aber dennoch schmerzhafte Erkenntnis:
"Es fing an zu dämmern, am Ende dieses Wegs. Und ganz besonders beim Schreiben dieses Büchleins. Sie denken dann natürlich auch mal nach: Warum ist Dir das denn nicht aufgefallen damals? Warum hast Du das denn nicht gesehen?"
Und so ist es nun ruhig geworden - um den "Kettwiger Kreis". Vor einigen Wochen erinnerte die "WAZ" noch einmal – anlässlich eines 30. Jahrestages – an eine Protestveranstaltung des "Kettwiger Kreises". Die Geschichte heilt alle Wunden, heißt es, wohl aber nicht bei Jost Benfer, in Wattenscheid – und auch nicht in Kettwig am Märchenbrunnen, bei Hans-Jürgen Storch. Denn auch 40 Jahren nach der Eingemeindung steht für den Kettwiger Stadtchronist fest:
"Das ist für mich, kann man sagen: Wir werden von denen verwaltet. Dass das meine Stadt ist, Essen, das kann ich nicht sagen. Das hat sich bei mir bis heute nicht verfestigt. Nee."
Offiziell ist es so. Daran konnten auch die Arbeit im "Kettwiger Kreis" nichts ändern.
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