Keuschheit als Innovationsmotor
Sexualität wurde in den vergangenen Jahrhunderten unterdrückt, dämonisiert oder auf die Fortpflanzung reduziert. Bis zur sexuellen Revolution der 60er Jahre war es ein weiter Weg. Der französische Historiker Robert Muchembled zeichnet in seinem Buch "Die Verwandlung der Lust" diese Entwicklung vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach.
Die letzten zwei Jahrhunderte haben einige Theorien über die menschliche Geschlechtlichkeit und Sexualität hervorgebracht – von Darwin und Freud bis hin zum neueren Feminismus. Dass auch Sex eine Geschichte hat und mit wechselnden Idealen und Ideologien verbunden ist, und folglich als Phänomen jenseits der rein körperlichen Funktionen untersucht werden kann, dürfte Konsens der historischen Wissenschaften sein. Der neuste Versuch in diese Richtung stammt aus der Feder des französischen Historikers Robert Muchembled. Seine "Geschichte der abendländischen Sexualität" behandelt die ganze Neuzeit zwischen dem 17. Jahrhundert und heute und konzentriert sich dabei auf Frankreich und England und – für die Gegenwart – die Vereinigten Staaten.
In diesem großen Bogen bringt Muchembled einiges unter und das Buch erzählt kompetent und mit großem Materialreichtum fast alles von dem, was die historischen und kulturgeschichtlichen Einzeluntersuchungen in den letzten Jahrzehnten zum Thema hervorgebracht haben. Von den derben Sitten und teilweise sehr freizügigen sexuellen Verhaltensweisen der Landbevölkerung im 17. Jahrhundert und den stets neuen obrigkeitlichen Versuchen, solches einzudämmen, über die Libertinage und Pornographie-Flut des 18. Jahrhunderts bis hin zum wiederum sehr repressiven gesellschaftlichen Umgang im weit gefassten "viktorianischen" Zeitalter, welches Muchembled praktisch von 1800 bis 1960 ansetzt. Und schließlich, seit der sexuellen Revolution, die göttliche und gottlose Jetztzeit, in der der Okzident in den vollständigen Genuss aller gewünschten Orgasmen kommt (der französische Originaltitel des Buches lautet "L’orgasme et l’occident"). Oder zumindest der europäische Teil des Okzidents, denn Muchembled sieht eine starke kulturelle Trennung zwischen einem sehr liberalen und säkularen Europa und dem von religiös-konservativen Werten maßgeblich bestimmen Amerika.
Muchembled erzählt über weite Strecken ansprechend die Geschichten, aus denen sich die Geschichte der geschlechtlichen Lust zusammensetzt, er fasst zusammen, was an historischen Studien vorliegt und er spannt einige interessante Bögen, etwa wenn er überall sehr plastisch die Doppelmoral aufzeigt, die über die Jahrhunderte hinweg der männlichen Hälfte der Gesellschaft sexuelle Privilegien sichert.
Eine neue Theorie der Sexualität formuliert der Autor jedoch nicht, obwohl das seine einleitenden Abschnitte suggerieren. Muchembled kündigt hier die These an, dass der Okzident als Ganzes nicht etwa seit der Christianisierung, sondern erst seit der Neuzeit in besonderem Maße die Sexualität unterdrückt und dass gerade diese Repression den besonderen Aufstieg Europas zur Vormachtstellung in dieser Zeit befördert habe. Schon Freuds Psychoanalyse hatte die Unterdrückung und die Sublimierung des Sexualtriebes nicht nur zur Erklärung der individuellen Neurosen herbeigezogen, sondern darin auch einen Motor für Kunst und Kultur gesehen. Vor diesem Hintergrund will der Autor auch das Spezifische des energischen Auftretens Europas in der Neuzeit erklären: von der sexuellen Frustration unverheirateter junger Männern direkt zu den Kolonialreichen.
So zumindest die theoretische Einleitung. Im Rest des Buches geht es dann nicht mehr ganz so grandios zu und Muchembled kommt auf seine doch arg groß angelegten zivilisationstheoretischen Thesen kaum mehr zurück. Belege ebenso wie Abgleiche – etwa mit der davorliegenden Zeit oder anderen Kulturräumen – bleibt er schuldig und das Buch wirkt dadurch eigenartig unkonzentriert. Noch nicht einmal seine Behauptung einer zunehmenden Unterdrückung der Sexualität über die Jahrhunderte versucht er ernsthaft zu untermauern, sondern zeigt vielmehr entlang der einzelnen Epochen ein buntes Bild von Lockerungen und Anspannungen der gesellschaftlichen Moral. Ein großer wissenschaftlicher Wurf ist das nicht, sehr wohl aber ein informatives und auch durchaus lustvoll zu lesendes Überblickswerk über Sitten und Sex zu anderen Zeiten.
Rezensiert von Catherine Newmark
Robert Muchembled: Die Verwandlung der Lust. Eine Geschichte der abendländischen Sexualität
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008
384 Seiten, 24,95 Euro
In diesem großen Bogen bringt Muchembled einiges unter und das Buch erzählt kompetent und mit großem Materialreichtum fast alles von dem, was die historischen und kulturgeschichtlichen Einzeluntersuchungen in den letzten Jahrzehnten zum Thema hervorgebracht haben. Von den derben Sitten und teilweise sehr freizügigen sexuellen Verhaltensweisen der Landbevölkerung im 17. Jahrhundert und den stets neuen obrigkeitlichen Versuchen, solches einzudämmen, über die Libertinage und Pornographie-Flut des 18. Jahrhunderts bis hin zum wiederum sehr repressiven gesellschaftlichen Umgang im weit gefassten "viktorianischen" Zeitalter, welches Muchembled praktisch von 1800 bis 1960 ansetzt. Und schließlich, seit der sexuellen Revolution, die göttliche und gottlose Jetztzeit, in der der Okzident in den vollständigen Genuss aller gewünschten Orgasmen kommt (der französische Originaltitel des Buches lautet "L’orgasme et l’occident"). Oder zumindest der europäische Teil des Okzidents, denn Muchembled sieht eine starke kulturelle Trennung zwischen einem sehr liberalen und säkularen Europa und dem von religiös-konservativen Werten maßgeblich bestimmen Amerika.
Muchembled erzählt über weite Strecken ansprechend die Geschichten, aus denen sich die Geschichte der geschlechtlichen Lust zusammensetzt, er fasst zusammen, was an historischen Studien vorliegt und er spannt einige interessante Bögen, etwa wenn er überall sehr plastisch die Doppelmoral aufzeigt, die über die Jahrhunderte hinweg der männlichen Hälfte der Gesellschaft sexuelle Privilegien sichert.
Eine neue Theorie der Sexualität formuliert der Autor jedoch nicht, obwohl das seine einleitenden Abschnitte suggerieren. Muchembled kündigt hier die These an, dass der Okzident als Ganzes nicht etwa seit der Christianisierung, sondern erst seit der Neuzeit in besonderem Maße die Sexualität unterdrückt und dass gerade diese Repression den besonderen Aufstieg Europas zur Vormachtstellung in dieser Zeit befördert habe. Schon Freuds Psychoanalyse hatte die Unterdrückung und die Sublimierung des Sexualtriebes nicht nur zur Erklärung der individuellen Neurosen herbeigezogen, sondern darin auch einen Motor für Kunst und Kultur gesehen. Vor diesem Hintergrund will der Autor auch das Spezifische des energischen Auftretens Europas in der Neuzeit erklären: von der sexuellen Frustration unverheirateter junger Männern direkt zu den Kolonialreichen.
So zumindest die theoretische Einleitung. Im Rest des Buches geht es dann nicht mehr ganz so grandios zu und Muchembled kommt auf seine doch arg groß angelegten zivilisationstheoretischen Thesen kaum mehr zurück. Belege ebenso wie Abgleiche – etwa mit der davorliegenden Zeit oder anderen Kulturräumen – bleibt er schuldig und das Buch wirkt dadurch eigenartig unkonzentriert. Noch nicht einmal seine Behauptung einer zunehmenden Unterdrückung der Sexualität über die Jahrhunderte versucht er ernsthaft zu untermauern, sondern zeigt vielmehr entlang der einzelnen Epochen ein buntes Bild von Lockerungen und Anspannungen der gesellschaftlichen Moral. Ein großer wissenschaftlicher Wurf ist das nicht, sehr wohl aber ein informatives und auch durchaus lustvoll zu lesendes Überblickswerk über Sitten und Sex zu anderen Zeiten.
Rezensiert von Catherine Newmark
Robert Muchembled: Die Verwandlung der Lust. Eine Geschichte der abendländischen Sexualität
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008
384 Seiten, 24,95 Euro