Khaled Alesmael: "Selamlik"

Schwulsein in Damaskus

Cover des Romans "Selamlik": ein collagenartig gestalteter Männerkopf in schwarz vor türkisfarbenem Hintergrund
Klaled Alesmael erzählt von den erotischen Freiräumen, die schwule Männer im Vorkriegssyrien fanden: sehr offen, aber keineswegs schwülstig. © Albino Verlag / Deutschlandradio
Von Marko Martin |
Was heißt es, ein homosexueller Mann im diktatorischen Vorkriegssyrien zu sein? Davon erzählt der nach Schweden geflohene Autor Khaled Alesmaelder in seinem autobiografisch grundierten Roman "Selamlik": präzis, kristallin und mit verblüffender Ruhe.
Geheimdienstbüttel schleichen durch die Straßen der syrischen Stadt Aleppo und kontrollieren sogar die Mimik der Menschen. Eine Szene aus dem diktatorischen Assad-Staat, doch spielt sie bereits im Juni 2000, als der angeblich derart vom Volk geliebte Hafis starb, der Vater des gegenwärtigen Gewaltherrschers Baschar.
Anstatt jedoch wie verordnet ostentativ zu trauern, ärgert sich der junge Ich-Erzähler in Khaled Alesmaels autobiografischem Roman "Selamlik" vor allem darüber, dass nun für eine ganze Woche das Studentenwohnheim geschlossen sein wird. Dort hatte er, der gerade für seinen Englischkurs einen Roman des (homosexuellen) britischen Schriftstellers E.M. Forster liest, bereits schüchtern Bekanntschaft mit einem Medizinstudenten geschlossen, dem er dann seine eigene sexuelle Initiation verdanken wird.

Refugium für gleichgeschlechtlichen Sex

"Selamlik" ist der Name des traditionell den Männern vorbehaltenen Teil des Hauses, in dem ironischerweise seit jeher sogar die Chance besteht, ein Refugium zu finden für gleichgeschlechtlichen Sex, mitunter sogar für eine Art Liebe, die sich allerdings nie öffentlich manifestieren darf – offiziell ist man schließlich Ehegatte und Familienvater oder zumindest auf dem Weg dahin.
Es ist die große Stärke dieses Autors, der 2014 aus Syrien fliehen musste und inzwischen schwedischer Staatsbürger ist, dass er seine nie verschämt, doch keineswegs schwülstig beschriebenen erotischen Abenteuer einzubetten weiß in den hoch ambivalenten Alltag einer säkular-faschistischen Diktatur. Diese hatte bis zum Ausbruch der Revolution im Jahr 2010 zahlreichen auswärtigen Beobachtern als "stabil" gegolten, wobei gleichzeitig viele im Westen so gar nichts wussten von den existierenden, doch stets gefährdeten Freiräumen im Land. Umso erstaunter war man 2015 darüber, unter den aus Syrien Geflüchteten so viele gut ausgebildete und gleichzeitig beinahe areligiöse Angehörige der Mittelschicht zu finden.
Auch der Ich-Erzähler kommt aus einer wohlhabenden Familie, so dass er an den klandestinen schwulen Orgien in den Damaszener Hammams ein wenig unbesorgter teilnehmen kann; im Fall einer Denunziation beim Geheimdienst würde ihn wahrscheinlich der prominente Familienname schützen. Wer sich vor dem Krieg in Syriens Hauptstadt umgesehen und Bekanntschaft gemacht hat mit jenem auch im Roman beschriebenen Netz aus wachsamer Empathie und geradezu wütender Lebensfreude, wird bestätigen können, dass in Khaled Alesmaels in Schweden hochgelobtem Debütroman ganz und gar nichts exhibitionistisch übertrieben ist.

Flucht vor dem IS aus dem Haus seiner Familie

Vor allem diejenigen, die hierzulande noch immer das vermeintlich "weltliche", in Wahrheit jedoch massenmörderische Assad-Regime gegen den religiös fundierten Terror des IS ausspielen, könnten aus diesem mit geradezu verblüffend ruhiger Stimme erzählten Roman etwas über die wahren Realitäten des Landes lernen – Realitäten dabei durchaus im Plural.
Denn so wie der junge Mann beim Ausbruch der zuerst friedlichen, doch sogleich blutig niedergeschlagenen Anti-Assad-Revolution voller Schrecken aus dem Haus seiner Familie fliehen muss, um den Häschern des Regimes nicht in die Hände zu fallen, so grauenhaft ist wenig später dann auch die virtuelle Wiederbegegnung mit diesem Haus: Auf seinem Smartphone sieht er, was nach der Eroberung des Stadtteils durch den IS geschehen ist – die zu Propagandazwecken gefilmte Enthauptung eines Nachbarjungen, wobei der Mörder dabei ausgerechnet den rot eingebundenen Koran der Mutter des Ich-Erzählers in den Händen hält.

Khaled Alesmal hat seine eigene Stimme gefunden

Doch wie von all dem erzählen – inklusive der (homo)sexuell konnotierten Geschichten um all die Schlepper und Geflüchteten in Istanbul – wenn dann auch in der vermeintlich schützenden Asylbewerberunterkunft in Schweden Vorsicht geboten ist: Wem kann der junge Mann trauen, wer von den anderen ist womöglich ein geflohener Assad- oder auch IS-Sympathisant, und was verbirgt sich wirklich hinter dem sich gegenseitig aufreizenden Gerede um schwedische Frauen?
Khaled Alesmael aber hat seine eigene Stimme gefunden: präzis und kristallin, ohne jeglichen lyrischen und Metaphern-Überschwang. Wer diesen Roman gelesen hat, wird wohl in Zukunft nie wieder derart pauschal von "den Flüchtlingen", respektive politisch korrekt "den Geflüchteten" schwadronieren, sondern Menschen entdecken in all ihrer Komplexität. Etwas Größeres kann Literatur kaum leisten.

Khaled Alesmael: "Selamlik"
Übersetzt von Christine Battermann und Joachim Bartholomae
Albino Verlag, Berlin 2020
252 Seiten, 24 Euro

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