Perspektivenwechsel auf den Vietnamkrieg - Khuê Pham wurde als Kind vietnamesischer Migranten in Berlin geboren. Lange wollte die Journalistin sich nicht mit ihren Wurzeln beschäftigen. Lesen und hören Sie hier auch unser Gespräch mit der Autorin.
Kein Bock auf Little Saigon
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In ihrem Debütroman erforscht die Journalistin Khuê Phạm die Geschichte einer viet-deutschen Familie: Aus drei klug gewählten Perspektiven erzählt sie vom Leben zwischen den Kulturen und findet neue Antworten auf die Frage: Wo kommst du her?
Ausländer und Deutsche: Als Khuê Phạm in den 90er-Jahren in Berlin aufwächst, gibt es in amtlichen Statistiken nur diese beiden Kategorien. Für eine Person wie sie – geboren in Deutschland, Eltern aus Vietnam – "gab es keinen Platz". So erinnert sich Icherzählerin Kiều in Phạms autobiografisch inspiriertem Debütroman "Wo auch immer ihr seid".
Für die "Zeit"-Journalistin ist es nach ihrer Co-Autorinnenschaft für das Sachbuch "Wir neuen Deutschen" von 2012 das zweite Mal, dass sie die Migrationsgeschichte ihrer Familie bearbeitet – diesmal fiktionalisiert. Ihr Roman basiert auf Recherchen in Vietnam, Kalifornien, Kambodscha und langen Interviews mit Verwandten.
Aus Kiều wird Kim
Am Anfang des Buches wünscht sich die Icherzählerin nichts mehr, als in Deutschland dazuzugehören. Also legt Kiều ihren vietnamesischen Vornamen ab und nennt sich Kim – einfacher auszusprechen, auch für sie selbst, denn Vietnamesisch spricht sie nur wenig.
Der 30-jährigen Restaurantkritikerin ist ihre Familie peinlich: die pingeligen Eltern, die so viel Wert darauf legten, dass die Tochter Klavier spielen lernt und nur Bestnoten nach Hause bringt, und erst recht die vielen Verwandten in Ho-Chi-Minh-Stadt und Little Saigon in Kalifornien, die sie seit Jahren nicht gesehen hat.
Welche traumatischen Erfahrungen diese Onkel, Tanten, Großeltern im Vietnam-Krieg gemacht haben, davon ahnt Kiều nichts. Bis eines Tages eine Facebook-Nachricht aus Amerika sie erreicht: Die Großmutter liegt im Sterben; zur Testamentseröffnung sollen sich alle Familienmitglieder versammeln.
Widerwillig begleitet Kiều ihre Eltern ins kalifornische Little Saigon. Am Ende dieser Reise wird ein Familiengeheimnis gelüftet – und Kiềus Verhältnis zu ihrem vietnamesischen Erbe wird sich grundlegend verändern.
Flucht vor dem Vietcong
Kiềus Ich-Perspektive ergänzen zwei Erzählstränge aus der Vergangenheit: Ihren Vater Minh begleitet der Roman Ende der 60er-Jahre, als er Vietnam verlässt, um in West-Berlin Medizin zu studieren. Und 1979 versucht sein Bruder Son, über Kambodscha aus seinem inzwischen vom Vietcong eroberten Land zu fliehen.
Die Brüder finden sich damit auf unterschiedlichen Seiten des Konflikts wieder: Während Son in den Amerikanern die gescheiterten Retter seiner Heimat sieht, hat sich Minh in West-Berlin der Studentenbewegung angeschlossen, die den Vietcong unterstützt. Davon erzählt Khuê Phạm teils spannend wie in einem Thriller – und macht deutlich: Eine gute und eine böse Seite gab es im Vietnam-Krieg nicht.
Postmigrantische deutsche Literatur
Es sind die historischen Kapitel, in denen der Roman den stärksten erzählerischen Sog entfaltet: Klug hat die Autorin sie mit der Ich-Geschichte in der Gegenwart verwoben. Überraschungen, die auf der sprachlichen Ebene fehlen, bietet der Plot in der zweiten Hälfte reichlich, als Kiều beginnt, die Frage nach dem "Wo kommst du her?" für sich selbst neu zu deuten.
Ihre Spurensuche "nach all denen, die vor mir kamen", ist ein bereichernder Beitrag zur postmigrantischen deutschen Literatur. Was Khuê Phạm zu sagen hat über transgenerationale Traumata, Heimatverlust und Identitätsfindung braucht den Vergleich mit Werken von Shida Bazyar, Sharon Dodua Otoo oder Saša Stanišić nicht zu scheuen.
Khuê Phạm: "Wo auch immer ihr seid"
Btb Verlag, München 2021
304 Seiten, 22 Euro