Kidnapping im Weserbergland
Es ist eine der bekanntesten Volkssagen: die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln, der, als er von den Ratsherren um seinen Lohn geprellt wird, ihre Kinder mit seinem Flötenspiel aus der Stadt lockte. Welches Ereignis dieser Sage zugrunde liegt, darüber rätseln Historiker noch heute.
Es ist eine seltsame Begebenheit, die der Chronist, der Dominikaner Heinrich von Herford zu vermelden hat und die er auf das steife Pergament der Lüneburger Handschrift "Catena aurea" notiert:
"Am Johannistag im Jahr des Herrn 1284 trat ein schöner Jüngling in liebreizendem Gewande über die Brücke durch das Wesertor in die Stadt Hameln ein. Er begann auf einer silbernen Pfeife zu spielen, dass man es in der ganzen Stadt vernahm. Und alle Kinder, fast 130 an der Zahl, folgten ihm zum Osttor hinaus. So gingen sie fort, entschwanden und niemand konnte sie mehr ausfindig machen ..."
Der Bericht des Mönchs, im 15. Jahrhundert in sorgfältigem Latein abgefasst, ist die älteste Aufzeichnung der Sage vom Rattenfänger von Hameln. Zugetragen haben soll sie sich vor 725 Jahren, am Tag Johannis', also am 26. Juni 1284.
"Rattenfängerlied" (Hannes Wader):
"Fast jeder weiß, was in Hameln geschah vor tausend und einem Jahr, wie die Ratten außerdem alles fraßen, was nicht aus Eisen war..."
Um dieser schrecklichen Rattenplage Herr zu werden, nehmen die Hamelner Stadtväter das Angebot eines umherziehenden Flötenspielers an, die pelzigen Quälgeister zu beseitigen. Tatsächlich folgen die Nager, vom Klang der Flöte verführt, dem Spielmann, bis sie quiekend und glucksend in den Fluten der Weser versinken.
Doch die geizigen Ratsherren prellen ihren Retter um den verdienten Lohn und jagen ihn aus der Stadt. Der aber sinnt auf Rache: Mit seinem Spiel lockt er die Hamelner Kinder in einen Berg, wo sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Doch ist diese Sage kein hübsches Märchen, sondern ein düsterer Bericht von Geheimnis und Verführung, von Betrug, Verrat und Rache.
Welche historische Begebenheit der Erzählung zugrundeliegt, ist nicht eindeutig auszumachen. War es vielleicht die Auswanderung von Siedlern im Zug der Ostkolonisation im 13. Jahrhundert? Oder eine Anwerbung von Söldnern? Eine religiöse Massenekstase wie bei den "Tänzern von Colbek", von denen eine mittelenglische Chronik berichtet? Oder ein Ausbruch der Pest?
Der Hamelner Volkskundler und ehemalige Museumsleiter Dr. Norbert Humburg hält das durchaus für möglich:
"In Pestzeiten können Menschen 'verschwinden'. Man spricht nicht von der Pest, weil der Aberglaube behauptet, wenn man sie beim Namen nenne, komme sie erst recht. Also verschweigt man sie. Man verschweigt aber auch die Pesttoten, die ja nicht nach herkömmlichem Ritus auf den Kirchhöfen begraben, sondern irgendwo vor der Stadt verscharrt wurden. Das könnte ins Bild passen ..."
Der Spielmann als Sensenmann, der die Hamelner Kinder aus dem Leben reisst? Doch es müsste sich dann um einen kleineren und lokal begrenzten Ausbruch der Krankheit gehandelt haben, denn die große europaweite Pestepidemie ist erst ab Herbst 1348 dokumentiert.
Möglich ist aber auch, dass der Kern der alten Sage eine ferne Erinnerung an etwas ganz anderes ist: an den Kinderkreuzzug, bei dem im Frühsommer 1212 Tausende von deutschen und französischen Kindern ins Heilige Land aufbrachen, um - so hatten sie sich vorgenommen - das Heilige Land aus den Händen der Ungläubigen zu befreien.
Unter der Führung eines charismatischen Jugendlichen namens Nikolaus sammelte sich der Zug der deutschen Kinder in Köln. Bliebe zu fragen, ob es hier einen Anklang an den "schönen Jüngling" der "catena aurea" geben könne?
In seiner Chronik über die Ereignisse damals jedenfalls zitiert der Mönch Alberich von Troisfontaines einen - angeblichen - Augenzeugen namens Rupert, der berichtet habe:
"Im Zeichen des Kreuzes sind die Kinder nach Jerusalem aufgebrochen, um das Heilige Land zurückzuerobern. Ihre Eltern haben sie eingesperrt, und doch sind sie entkommen, um dem selbsternannten Messias Nikolaus, einer rättselhaften Figur, hinterdreinzulaufen..."
Hatte sich dieses tragische Geschehen, bei dem die meisten Kinder schon vor Erreichen der Mittelmeerküste starben oder später in die Sklaverei verkauft wurden, so ins kollektive Gedächtnis eingegraben, dass es in der Rattenfänger-Erzählung weiterlebte?
Oder ist es ganz schlicht die schaurige Erinnerung an einen Kindesentführer, eine Art Sekten-Guru, Pädophilen, Serienmörder?
"Rattenfängerlied" (Hannes Wader)
"Nun war wieder Ruhe in der Stadt Hameln, fast wie in einem Grab,
doch die Niedertracht blühte, die Ratsherren fassten eilig ein Schreiben ab,
das wurde der Stadtchronik beigefügt, mit dem Stempel des Landeherren,
und besagt, dass die Kinder vom Rattenfänger ermordet worden wären..."
Wir wissen es nicht. Wir wissen aber: Die Sage birgt in ihrem Kern die nachdrückliche Warnung vor den Verlockungen und Schmeicheleien eines galanten Verführers und - vor den Kräften des Bösen.
Der Historiker Wolfgang Hartung dazu:
"Es ist kein Zufall, dass dieser Rattenfänger ein Spielmann ist. Der Spielmann ist der Fremde schlechthin. Der Spielmann ist der Verführer, der heute kommt und morgen geht, der die Seelen der Menschen einfängt. Und der Spielmann verführt im Auftrag des Teufels die Menschen zum Tanz..."
"Am Johannistag im Jahr des Herrn 1284 trat ein schöner Jüngling in liebreizendem Gewande über die Brücke durch das Wesertor in die Stadt Hameln ein. Er begann auf einer silbernen Pfeife zu spielen, dass man es in der ganzen Stadt vernahm. Und alle Kinder, fast 130 an der Zahl, folgten ihm zum Osttor hinaus. So gingen sie fort, entschwanden und niemand konnte sie mehr ausfindig machen ..."
Der Bericht des Mönchs, im 15. Jahrhundert in sorgfältigem Latein abgefasst, ist die älteste Aufzeichnung der Sage vom Rattenfänger von Hameln. Zugetragen haben soll sie sich vor 725 Jahren, am Tag Johannis', also am 26. Juni 1284.
"Rattenfängerlied" (Hannes Wader):
"Fast jeder weiß, was in Hameln geschah vor tausend und einem Jahr, wie die Ratten außerdem alles fraßen, was nicht aus Eisen war..."
Um dieser schrecklichen Rattenplage Herr zu werden, nehmen die Hamelner Stadtväter das Angebot eines umherziehenden Flötenspielers an, die pelzigen Quälgeister zu beseitigen. Tatsächlich folgen die Nager, vom Klang der Flöte verführt, dem Spielmann, bis sie quiekend und glucksend in den Fluten der Weser versinken.
Doch die geizigen Ratsherren prellen ihren Retter um den verdienten Lohn und jagen ihn aus der Stadt. Der aber sinnt auf Rache: Mit seinem Spiel lockt er die Hamelner Kinder in einen Berg, wo sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Doch ist diese Sage kein hübsches Märchen, sondern ein düsterer Bericht von Geheimnis und Verführung, von Betrug, Verrat und Rache.
Welche historische Begebenheit der Erzählung zugrundeliegt, ist nicht eindeutig auszumachen. War es vielleicht die Auswanderung von Siedlern im Zug der Ostkolonisation im 13. Jahrhundert? Oder eine Anwerbung von Söldnern? Eine religiöse Massenekstase wie bei den "Tänzern von Colbek", von denen eine mittelenglische Chronik berichtet? Oder ein Ausbruch der Pest?
Der Hamelner Volkskundler und ehemalige Museumsleiter Dr. Norbert Humburg hält das durchaus für möglich:
"In Pestzeiten können Menschen 'verschwinden'. Man spricht nicht von der Pest, weil der Aberglaube behauptet, wenn man sie beim Namen nenne, komme sie erst recht. Also verschweigt man sie. Man verschweigt aber auch die Pesttoten, die ja nicht nach herkömmlichem Ritus auf den Kirchhöfen begraben, sondern irgendwo vor der Stadt verscharrt wurden. Das könnte ins Bild passen ..."
Der Spielmann als Sensenmann, der die Hamelner Kinder aus dem Leben reisst? Doch es müsste sich dann um einen kleineren und lokal begrenzten Ausbruch der Krankheit gehandelt haben, denn die große europaweite Pestepidemie ist erst ab Herbst 1348 dokumentiert.
Möglich ist aber auch, dass der Kern der alten Sage eine ferne Erinnerung an etwas ganz anderes ist: an den Kinderkreuzzug, bei dem im Frühsommer 1212 Tausende von deutschen und französischen Kindern ins Heilige Land aufbrachen, um - so hatten sie sich vorgenommen - das Heilige Land aus den Händen der Ungläubigen zu befreien.
Unter der Führung eines charismatischen Jugendlichen namens Nikolaus sammelte sich der Zug der deutschen Kinder in Köln. Bliebe zu fragen, ob es hier einen Anklang an den "schönen Jüngling" der "catena aurea" geben könne?
In seiner Chronik über die Ereignisse damals jedenfalls zitiert der Mönch Alberich von Troisfontaines einen - angeblichen - Augenzeugen namens Rupert, der berichtet habe:
"Im Zeichen des Kreuzes sind die Kinder nach Jerusalem aufgebrochen, um das Heilige Land zurückzuerobern. Ihre Eltern haben sie eingesperrt, und doch sind sie entkommen, um dem selbsternannten Messias Nikolaus, einer rättselhaften Figur, hinterdreinzulaufen..."
Hatte sich dieses tragische Geschehen, bei dem die meisten Kinder schon vor Erreichen der Mittelmeerküste starben oder später in die Sklaverei verkauft wurden, so ins kollektive Gedächtnis eingegraben, dass es in der Rattenfänger-Erzählung weiterlebte?
Oder ist es ganz schlicht die schaurige Erinnerung an einen Kindesentführer, eine Art Sekten-Guru, Pädophilen, Serienmörder?
"Rattenfängerlied" (Hannes Wader)
"Nun war wieder Ruhe in der Stadt Hameln, fast wie in einem Grab,
doch die Niedertracht blühte, die Ratsherren fassten eilig ein Schreiben ab,
das wurde der Stadtchronik beigefügt, mit dem Stempel des Landeherren,
und besagt, dass die Kinder vom Rattenfänger ermordet worden wären..."
Wir wissen es nicht. Wir wissen aber: Die Sage birgt in ihrem Kern die nachdrückliche Warnung vor den Verlockungen und Schmeicheleien eines galanten Verführers und - vor den Kräften des Bösen.
Der Historiker Wolfgang Hartung dazu:
"Es ist kein Zufall, dass dieser Rattenfänger ein Spielmann ist. Der Spielmann ist der Fremde schlechthin. Der Spielmann ist der Verführer, der heute kommt und morgen geht, der die Seelen der Menschen einfängt. Und der Spielmann verführt im Auftrag des Teufels die Menschen zum Tanz..."