Dem „doom and gloom“ aktueller Debatten zum Trotz: Friedrich Kießling und Christoph Safferling schlagen in ihrem Buch einen eher optimistischen Grundton an. Die allerorten geführte Diskussion über die Krise der Demokratie wenden sie ins Positive und fragen: Was müssen wir ändern, um unser freiheitlich-pluralistisches Gemeinwesen zu bewahren? Oder besser noch: es „neu zu beleben“, wie es im Untertitel des Buches heißt. Auf der Suche nach Antworten blicken die Autoren zunächst einmal zurück auf mehr als 200 Jahre deutsche Demokratiegeschichte.
„Zu einem nicht unerheblichen Teil gelang den Westdeutschen der Start in die demokratische Zukunft mit Bausteinen, die ihnen aus der eigenen Geschichte bekannt waren und an die auch die alliierte Entnazifizierung anknüpfen konnte. Vermutlich liegt darin sogar die wichtigste Erklärung dafür, dass die Demokratiegründung erfolgreich war. Sie gelang nicht gegen, sondern mit der eigenen Tradition, die nun für die neue Zeit fruchtbar gemacht wurde.“
Erste demokratische Gehversuche
Die Demokratie ist den Deutschen nicht in den Schoß gefallen, betonen Kießling und Safferling immer wieder. Erste demokratische Gehversuche erkennen sie schon in den frühen parlamentarischen Ansätzen ab 1815. Damals wurden in Bayern, Württemberg und Baden gewählte Abgeordnetenkammern eingerichtet. Und die heizten ihren Monarchen ordentlich ein. Ein Beispiel aus dem Großherzogtum Baden:
„Zunächst lief für den Großherzog in Karlsruhe alles nach Plan. Die beiden Kammern der neuen ‚Ständeversammlung‘ wurden nicht nur von ihm einberufen, huldvoll verkündete der Monarch bei der nach höfischem Protokoll vollzogenen Eröffnung auch, dass er die ‚Wünsche‘ seines Volkes, die nun durch das Parlament zu ihm gelangen wüden, ‚gerne anhören und, wann sie geprüft sind, erfüllen‘ werde. Doch schnell stellte sich heraus, dass es die Abgeordneten ernst meinten und ihre Anliegen keineswegs als ‚Wünsche‘ verstanden wissen wollten.“
So zog besagter Großherzog im Streit um die Zusammensetzung der Abgeordnetenkammer 1820 den Kürzeren. Ein erstes Sternstündchen der Demokratie. Als eines von vielen weiteren, teils überraschenden Beispielen – neben Marksteinen wie der Paulskirchenverfassung oder der Gründung der Weimarer Republik – nennen die Autoren auch die intensiv geführten Debatten im deutschen Reichstag ab 1900:
„Harsche Kritik an Regierung und Kaiser waren beileibe kein Tabu, am politischen Gegner in den anderen Parteien erst recht nicht. Der parlamentarische Stil unterschied sich manchmal gar nicht so sehr von dem heutigen. Es lohnt sich – die Protokolle sind alle online abrufbar –, etwa Debatten über den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika nachzulesen oder zu den zahlreichen politischen Affären der Zeit, die sich nicht selten um Kaiser Wilhelm II. und seinen Führungsstil drehten.“
Demokratische Herausforderungen
Ähnliche Vorboten der Demokratie sehen Kießling und Safferling in den Bereichen Pressefreiheit, Rechtsstaat, Bürokratie, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Damit suggerieren sie keinesfalls, der Weg in die Demokratie sei nach dem Grauen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges vorgezeichnet gewesen. Im Gegenteil: Auch nach Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 war die „Denazifizierung“ der Gesellschaft noch lange nicht abgeschlossen. Zudem stellten Protestbewegungen, RAF-Terrorismus, Öl-Krise und der Streit um die atomare Nachrüstung der NATO immense Herausforderungen dar. Die Botschaft der Autoren lautet daher: Es lohnt sich, um die Demokratie zu ringen.
„Dies bedeutet aber erstens, sich vor grundsätzlichen Debatten und Streit nicht zu scheuen, und zweitens, die Diskussion auf der Grundlage einer klaren demokratischen Wertegrundlage zu führen, die nicht verlassen werden darf.“
Politische Partizipation als Zukunftsaufgabe
Allerdings: Wenn die Demokratie heute wieder zum „Streitfall“ wird, das sehen die Autoren selbstverständlich auch, hat sich die Ausgangslage drastisch gewandelt. Drei Kernthemen beschreiben Kießling und Safferling hier als entscheidend:
„Erstens die anhaltende Kommunikationsrevolution, in deren Mittelpunkt die neuen Medien stehen, zweitens die Dynamik von Globalisierung und Internationalisierung sowie drittens eine umfassende, mit den beiden ersten Punkten eng verbundene demokratische Repräsentationskrise.“
Dennoch fällt das Kapitel „Wege auch der Krise“ recht abstrakt aus. Vom Vertrauen in die demokratischen Prozesse ist da die Rede, davon, politische Erfolge selbstbewusst wahrzunehmen, die Erinnerungskultur neu zu denken, gesellschaftliche Ziele mutig zu priorisieren, den Föderalismus zu stärken. Doch bleibt das alles recht blass. Am konkretesten werden Kießling und Safferling mit ihren Ausführungen zur zwingend notwendigen Medienerziehung in den Schulen oder neuen Formaten der politischen Partizipation:
„Soll ein Gewerbegebiet gebaut werden, soll eine Stadtumlandbahn Städte und Dörfer miteinander verbinden, kann die Artenvielfalt auf den Äckern verbessert werden? [...] Mehr demokratische Mitbestimmung auf lokaler und regionaler Ebene würde sicher helfen, die Prozesse auf Bundesebene und die dortige repräsentative Demokratie eher zu akzeptieren.“
Nicht alles in diesem schlanken Bändchen ist neu. Doch die Idee, neben „Bier und Brot, Philosophie und Physik, Musik und Militär“ vielleicht auch die Demokratie auf die Liste deutscher „Klassiker“ zu setzen, ist erfrischend. Die Quintessenz: Demokratien fallen nicht vom Himmel, der Streitfall ist der Normallfall. Und dieser Streit muss mutig ausgetragen werden.