Jeder, der schon mal mit Osteuropäern zu tun hatte oder im sogenannten Osteuropa gewesen ist, hat diesen Unterschied bemerkt. Diese komische, oft komplett unzeitige und deplatzierte Fähigkeit der Osteuropäer, sich zu freuen oder zu feiern. Auf dem Kreschtschatik in Kiew ist es beinahe dunkel. Kleine Gruppen sind überall zu sehen, irgendwo wird fotografiert, viele flanieren. Es sind die endlosen Winterferien.
Es ist so glatt und rutschig, dass ich mich sofort an die Winter meiner Kindheit erinnere – damals war es noch kälter und immer glatt. Man musste stets auf die Füße schauen und nie nach vorne, es war so eine Art körperliche und seelische Erniedrigung. Blick nach unten. Jetzt glänzt der Asphalt wie glatt poliertes Parkett, die Menschen rutschen aus, aber machen dabei lustige Tanz-Bewegungen, als wären sie zum Winter-Ball unter den freien Himmel geladen.
Müde geworden im tragischen 2014
Hier und dort stehen Straßen-Musikanten und spielen, manche Volksmusik, andere Jazz, alte Rockmusiker, aber da, wo man tanzen kann, sind die Mengen am größten. Eine Frau, die alleine gekommen ist - kein Mann oder Kind schützen sie -, tanzt mit ihrer vollen Tasche, fast selbstvergessen und hat offensichtlich Spaß. Wenn ich so eine in Berlin sehen würde, würde ich sofort denken, sie sei verrückt.
Dann bricht ein Opa in wilden Tanz aus, ukrainischen Hopack auf dem Eis, ein gefährlicher feuriger Tanz, er zieht seinen kleinen Enkel mit, der springt mit - ein schönes Pärchen. Dann schließen sich Frauen über 60 an. Alle klatschen, lachen und geben ihre Bestellungen beim Musikanten ab. Um so einen fröhlichen und offenen Zustand zu erreichen, braucht man in Deutschland mindestens drei Bier, und das auch meistens ohne Garantie. Aber vielleicht sind die Menschen hier so müde geworden, in diesem verrückten und tragischen 2014, dass sie feiern möchten, einfach nur richtig feiern, nichtsdestotrotz.
Wird das neue Jahr besser?
Dreihundert Meter weiter liegt der Maidan. Die Menschen bewegen sich langsam, die Kerzen sind hier für die Getöteten aufgestellt. Friedhofs-Stimmung. Der Tannenbaum, der Dutzende Jahre jedes Jahr hier aufgestellt wurde, steht nun neben der Sophien-Kathedrale. Hier konnte man nicht feiern. Am Abend ist eine Versammlung der Swoboda-Partei-Anhänger angekündigt. Ein Passant sagt, ein dritter Maidan werde kommen: das Volk gegen die Oligarchen. Ich höre den Ankündigungen zu und gehe zum Sophien-Kloster, wo die Bäume mit glitzernden Tauben geschmückt sind. Es war ein verrücktes Jahr. Ob das neue nun besser wird?
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. In dieser Woche stammen sie von der ukrainisch-deutschen Schriftstellerin Katja Petrowskaja:
"Sie beschreibt eine Situation nicht nur, sie wendet sie mit vielen Bewegungen hin und her, und dann wird sie emotional. Sie kann im selben Moment lachen und äußerst dezidiert sein, wirkt mit ihren feinen Gesichtszügen konzentriert, angespannt wie eine Feder und überwach" - das sagt unser Kritiker Hemut Böttiger über die in Kiew geborene und in Berlin lebende Autorin Katja Petrowskaja.
Sie stammt aus einer jüdischen Familie; "sowjetisch, russisch, jüdisch" nennt sie als ihre Einflüsse. Von 1987 bis 1992, in der Zeit des großen Umbruchs, studierte die 1970 Geborene im entlegenen estnischen Tartu, wo Professoren wie Juri Lotman "einen nichtideologischen Raum entwickelten". Als sie 1993 in Moskau weiterstudieren wollte, galt sie plötzlich als Ukrainerin und war Bürgerin eines anderen Staates.
Die Gewinnerin des Bachman-Preises 2013 ist häufig in ihrer Geburtsstadt Kiew, zuletzt war sie dort Anfang des Monats - zu Weihnachten und Jahreswechsel. Beides findet in der Ukraine Anfang und Mitte Januar statt. Sie hat aus Kiew ihre "Originaltöne" mitgebracht, in denen sie ein Bild der Stadt zeichnet, das über die üblichen Bilder in den Nachrichten hinausgeht.