Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. In dieser Woche stammen sie von der ukrainisch-deutschen Schriftstellerin Katja Petrowskaja.
"Sie beschreibt eine Situation nicht nur, sie wendet sie mit vielen Bewegungen hin und her, und dann wird sie emotional. Sie kann im selben Moment lachen und äußerst dezidiert sein, wirkt mit ihren feinen Gesichtszügen konzentriert, angespannt wie eine Feder und überwach" - das sagt unser Kritiker Hemut Böttiger über die in Kiew geborene und in Berlin lebende Autorin Katja Petrowskaja.
Sie stammt aus einer jüdischen Familie; "sowjetisch, russisch, jüdisch" nennt sie als ihre Einflüsse. Von 1987 bis 1992, in der Zeit des großen Umbruchs, studierte die 1970 Geborene im entlegenen estnischen Tartu, wo Professoren wie Juri Lotman "einen nichtideologischen Raum entwickelten". Als sie 1993 in Moskau weiterstudieren wollte, galt sie plötzlich als Ukrainerin und war Bürgerin eines anderen Staates.
Die Gewinnerin des Bachman-Preises 2013 ist häufig in ihrer Geburtsstadt Kiew, zuletzt war sie dort Anfang des Monats - zu Weihnachten und Jahreswechsel. Beides findet in der Ukraine Anfang und Mitte Januar statt. Sie hat aus Kiew ihre "Originaltöne" mitgebracht, in denen sie ein Bild der Stadt zeichnet, das über die üblichen Bilder in den Nachrichten hinausgeht.
Die beiden Ufer der Stadt
Ehrfurcht erfasst Katja Petrowskaja, wenn ihr Blick auf den majestätischen Fluss Dnjepr fällt, der Kiew in zwei Hälften trennt. In der Reihe "Originalton" porträtiert die Autorin ihre Geburtsstadt - Eindrücke jenseits der Nachrichtenberichterstattung.
Seit Jahren wohnen meine Eltern auf der linken Seite des Dnjepr. Die Altstadt von Kiew befindet sich auf der hügeligen rechten Seite, man fährt nur fünf Stationen mit der Metro, der U-Bahn. Lewobereschnaja, Hydropark, Dnjepr, Arsenalnaja, Khreschtik. Jedes Mal, wenn ich von der flachen linken Seite, wo die großen, erst nach dem Krieg entstandenen Bezirke sich befinden, Richtung Altstadt fahre, ergreift mich ein Gefühl, das früher vielleicht Pilger gespürt haben. Ehrfurcht, ich glaube, es ist Ehrfurcht. Unerklärbar, wenn man nicht sieht, was ich sehe, aber jedem klar, dem sich der Blick auf diesen riesigen majestätischen Fluss öffnet, die lange Metrobrücke, die Hügel und die goldenen Kuppeln von Lawra, dem ersten heiligen Kloster der Kiewer Rus, dem Raum, den man früher als "russisch" zu bezeichnen pflegte.
Ich steige in Leworeschnaja ein. Man sagt auf Ukrainisch: oberezno-liwobereschna, Achtung – Linkeuferseite. Hier befinden sich viele hässliche moderne Gebäude, Post, Messezentrum, Einkaufsmall. Dort, wo heute das Hotel Tourist steht, war– noch in meiner Kindheit – ein Dorf. Ich fuhr mit der U-Bahn zur Schule und schaute aus dem Fenster auf weiße Hütten und Ziegen, umkesselt von mehrstöckigen Häusern und großen Straßen. Nächste Station Hydropark, eine Insel, von verschiedenen Armen des Dnjepr geschaffen, ein Park, Vergnügungsgelände mit goldenen Stränden und großen Wiesen.
Und dann die Brücke. Ich habe gezählt, drei tausend Mal bin ich in jede Richtung gefahren. Jedes Mal, wenn ich auf dieser Brücke bin, verwandle ich mich in einen kleinen Pilger. So ist vielleicht Kiew entstanden. Man sah diese Hügel und dachte: hier werden wir wohnen.
Aber dieses schöne Kiew verschwindet allmählich. Neben dem Kloster Lawra steht eines der hässlichsten und größten Monumente der sowjetischen Epoche, Mutter Heimat, 102 Meter groß, das letzte Geschenk von Brezhnew, 6 Meter höher als Glockenturm von Lawra. Nun sind mehrere Wohnhäuser um Lawra herum zu sehen. Jahrhunderte lang war es verboten, auf den Hügeln zu bauen. Die neuen Mächte halten nichts von dem Verbot. Station Dnepr, jetzt fahren wir in den Tunnel, nächste Station Arsenalnaja. Arsenal – ein Rüstungswerk, die Geschichte des Kiewer Proletariats und vieler Revolutionen. Und dann Kreschatik, das Zentrum, ich steige aus und gehe zum Maidan.