"Kiezdeutsch ist informelle gesprochene Sprache"

Heike Wiese im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Heike Wiese von der Uni Potsdam beschäftigt sich mit dem Kiezdialekt. Die neudeutschen Sprachblüten hätten türkische Fremdwörter integriert. Dadurch, dass viele Sprecher mehrsprachig sind, sei die Kiezsprache ein sehr dynamischer Dialekt.
Liane von Billerbeck: "Sik tir Lan, üsch mach düsch Messer!" Was Unkundige als deutsch-türkischen Straßenslang abtun – jetzt hätte ich mich auch verhauen hier – ist längst Gegenstand von Forschung in der Sprachwissenschaft: Kiezdeutsch oder etwas komplizierter ausgedrückt Multiethnolekt, so heißt das Phänomen, das aus Deutschlands Großstädten mit hohem Migrantenanteil stammt.

Feridun Zaimoglu, der Autor, hat diesen neudeutschen Sprachblüten in seinem Roman "Kanak Sprak" ein literarisches Denkmal gesetzt. Wir wollen uns in unserer Reihe vor dem 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland jetzt ganz wissenschaftlich mit diesem Kiezdialekt befassen im Gespräch mit der Expertin, mit der Sprachwissenschaftlerin Professor Heike Wiese von der Uni Potsdam, die auch bei uns zu Gast ist. Herzlich willkommen!

Heike Wiese: Hallo!

von Billerbeck: Üsch mach düsch Messer oder machst du rote Ampel – Frau Wiese, was ist ihr liebster Satz auf Kiezdeutsch?

Wiese: Sicher nicht solche Beleidigungen wie "Üsch mach düsch Messer". Solche Beleidigungen sind, glaube ich, bekannt, weil man mit Kiezdeutsch bestimmte aggressive Jugendliche verbindet, das halte ich aber für völlig falsch. Also Lieblingssätze habe ich ganz viele. Vorgestern habe ich etwa auf dem Spielplatz, als ich mit meinen Kindern in Kreuzberg unterwegs war, was gefunden: Da hatten sich welche in Kritzeleien verewigt.

Das war "Ingo und Inga, Love, Friends and Fun, Dschanem, ich liebe dich". Das heißt, das fand ich fantastisch. Die haben mit Englisch gespielt, die haben ein türkisches Wort eingebracht, Dschanem, meine Seele, mein Leben, meine Seele, mein Liebling. Was ich sehr interessant finde an Kiezdeutsch, ist, dass es ein ganz deutscher Dialekt ist, eigentlich keine Mischsprache, aber türkische Fremdwörter integriert und einfach dadurch, dass viele Sprecher mehrsprachig sind, ein sehr dynamischer Dialekt ist.

von Billerbeck: Muss man eigentlich Türkisch sprechen, um das untersuchen zu können, also müssen Sie da türkisch genau so gut können wie Deutsch?

Wiese: Nein, kann ich auch nicht so gut. Man muss auch nicht Türkisch sprechen, um das sprechen zu können. Meine Kinder sprechen das genau so wie Kinder, die nur deutschen Hintergrund haben, wie Kinder, die kurdisch-deutschen Hintergrund haben, arabisch-deutschen Hintergrund – Kiezdeutsch erklärt sich sehr gut aus dem Deutschen heraus. Viele Sprecher können auch Türkisch und wechseln vielleicht manchmal ins türkische, das würde ich dann aber nicht mehr Kiezdeutsch nennen.

von Billerbeck: Was passiert denn nun eigentlich sprachwissenschaftlich gesehen? Sie haben gesagt, es ist eine sehr dynamische Sprache.

Wiese: Ja, die Sprecher von Kiezdeutsch oder sagen wir, Jugendliche in Wohngebieten wie Kreuzberg zum Beispiel, in denen sehr viele mehrsprachig sind, die wissen ja von Kindesbeinen an, dass man alles immer auf mindestens zwei, drei, vier Arten sagen kann. Das heißt, die sind sehr viel toleranter gegenüber sprachlicher Variation, sehr viel offener für Innovation. Das heißt, was da passiert, sind nicht nur neue Fremdwörter wie Lan, oder was sie noch erwähnt hatten walla, oder sowas, sondern auch neue grammatische Merkmale, neue Wortstellung: Gestern, ich war am Hermann-Platz oder so, ne? Das könnten wir im Standard nicht, konnten wir im Deutschen früher mal vor ein paar hundert Jahren, inzwischen geht das nicht mehr. In Kiezdeutsch geht das wieder.

von Billerbeck: Das hat jetzt nicht mit Blödheit zu tun, sage ich mal.

Wiese: Nein, sondern mit einem guten Gefühl für Informationsstrukturierung. Das ist eigentlich eine bessere Art, etwas zu sagen, dass man erst sagt, wo und wann, etwas stattfindet – morgen, danach, gestern –, dann um wen es geht – ich, du, und so weiter – und dann, was passiert. Das ist eine bessere Abfolge der Informationen in diesem Fall in dem Beispiel.

von Billerbeck: Als es standardmäßig im Deutschen passieren würde ansonsten?

Wiese: Da dürfen wir das nicht, genau. Würden wir auch gerne, geht nicht. Wir müssen entweder erst gestern sagen oder erst ich, aber danach muss immer das Verb kommen. Wie gesagt, im 15. Jahrhundert ging das. Da haben Sie so Beispiele wie: Danach die edle Königin fuhr nach Ofen. Das ist eine Stadt in Ungarn. Das bringt uns Kiezdeutsch wieder in diesem neuen Dialekt.

von Billerbeck: Woran liegt denn das, dass wir das verloren haben?

Wiese: Das sind grammatische Gründe, historische Gründe, es hat sich so entwickelt, dass häufig ein Element immer nur vorne stand, und das wurde dann irgendwann zur festen Regel. Einfach da das sehr oft vorkam, war irgendwann die Regel so: Es muss so sein, dass nur ein Element vor dem Verb steht. Dann hat man diese Flexibilität nicht mehr. Die verliert sich dann, wenn das ganze so systematisch auftritt, dass man quasi das als feste Regel hat.

von Billerbeck: Ist das eine Sprache, die vor allem zwischen Deutsch und Türkisch gebaut wird, oder eben auch mit anderen Sprachen in Städten mit hohem Migrantenanteil, also Arabisch, Italienisch, Russisch, Polnisch, was wir sonst noch zu bieten haben?

Wiese: Ja, es ist ja keine Sprache, es ist ein Dialekt des Deutschen, ein ganz deutscher Dialekt, der sich entwickelt da, wo viele mehrsprachige Jugendliche sind. Das sind auch keine Migranten, die sind alle in Deutschland geboren, das sind Deutsche. Die sind aber mehrsprachig aufgewachsen. Welche Sprachen involviert sind, ist unterschiedlich, es kommt am Ende immer etwa dasselbe bei raus, nämlich ein Dialekt, der gut ins Deutsche passt, hier aber dynamischer ist. Wir haben das zum Beispiel auch in anderen europäischen Städten – Kopenhagen, Stockholm, London –, wo ganz andere Sprachen mitspielen und sich aber ganz ähnliche Muster entwickeln.

von Billerbeck: Also dann im Dänischen oder im Englischen?

Wiese: Genau, oder im Schwedischen, im Norwegischen, Finnisch wird neuerdings untersucht.

von Billerbeck: Welche Rolle spielen denn die neuen Medien bei der Entwicklung dieser Sprache – also ich sage jetzt mal SMS et cetera –, wo ja auch eine sehr ökonomische, kurze, prägnante Art der Information vorherrscht?

Wiese: Kiezdeutsch ist nicht ökonomisch, kurz und prägnant. Kiezdeutsch ist genau so komplex und elaboriert wie das Standarddeutsche und wie jeder Dialekt des Deutschen. Die Medien wie SMS, Chat und so weiter haben auf die gesprochene Sprache eigentlich sehr wenig Einfluss. Kein Mensch spricht so, wie er SMS schreibt.

von Billerbeck: Zum Glück!

Wiese: Das würde man ja nicht mehr verstehen. Genau, das hat einen bestimmten Ort, das ist gut auf dem Handy, aber so spricht man nicht mit Freunden.

von Billerbeck: Wie sind Sie eigentlich zu diesem Thema gekommen? Weil Sie in Kreuzberg, in Berlin-Kreuzberg wohnen, wo ein hoher Migrantenanteil ist?

Wiese: Genau. Ein hoher Anteil von mehrsprachigen Jugendlichen vor allem auch. Migranten sind die Großeltern.

von Billerbeck: Ja.

Wiese: Die sind wirklich eingewandert. Ja, ich saß einmal im Bus, damals noch 129, jetzt der M29, und habe Jugendliche gehört und fand das spannend, was für neue grammatische Strukturen die benutzen, und wollte das gerne meinen Studierenden nahe bringen, und auch bei den Studenten sozusagen mehr Interesse an der Grammatik entwickeln durch so ein konkretes Beispiel.

Kiezdeutsch hat sich dann als so faszinierend herausgestellt, dass es mich überhaupt nicht mehr losgelassen hat und jetzt zu meinem größten Arbeitsgebiet geworden ist.

von Billerbeck: Wie unterhalten Sie sich dann mit den Jugendlichen? Also sie sind ja nicht Ihre Generation.

Wiese: Genau.

von Billerbeck: Wenn Sie mit denen sprechen können, sprechen die mit Ihnen dann auch Kiezdeutsch oder sprechen die dann Hochdeutsch?

Wiese: Die sprechen Standarddeutsch. Ich bin viel zu alt für Kiezdeutsch. Das sprechen Jugendliche untereinander, das ist für uns auch ein methodisches Problem: Wie kriegen wir eigentlich Kiezdeutschdaten? Wenn ich einen Jugendlichen anspreche, verfällt der sofort ins Standarddeutsche. Wir geben den Jugendlichen …

von Billerbeck: Und, wie machen Sie es?

Wiese: … Aufnahmegeräte mit und sagen: Nehmt euch mal gegenseitig auf, nachmittags, wenn ihr mit euren Freunden sprecht, und gebt uns dann diese Aufnahmen.

von Billerbeck: Und das verändert es auch nicht, die Sprache, dass sie dann wissen, sie haben jetzt ein Gerät dabei und das hört dann hinterher jemand ab?

Wiese: Zum Teil sicher, aber das ist meistens nach ein, zwei Minuten vergessen. Die Jugendlichen wissen auch, wir zeigen denen vorher, wie sie auch wieder was löschen können. Die entscheiden selber, was sie uns geben, sagen wir, es wurde plötzlich viel zu privat.

von Billerbeck: Nun hört man ja immer, dieses Kiezdeutsch greife um sich, es sei gar die Sprache der Zukunft, und es sei einfacher als das Standarddeutsch. Stimmt das?

Wiese: Nein. Wir haben viele Verkürzungen, die wir in der gesprochenen Sprache nun mal haben, aber genau so auch – zum Beispiel habe ich eben gesagt "hab’n", nicht haben. Ich würde schreiben "haben", spreche "hab’n", …

von Billerbeck: Sie leben ja auch in Berlin.

Wiese: … nein, aber das kommt auch in anderen Dialekten vor. Das heißt, Kiezdeutsch ist informelle gesprochene Sprache, und da haben wir immer einige Verkürzungen – wir haben aber auch einiges mehr in Kiezdeutsch, was wir im Standard nicht haben. Zum Beispiel neue Markierungen für bestimmte Merkmale, Fokus, Marker und so weiter. Um sich greifen: Es verbreitet sich möglicherweise, kann ich nicht abschätzen, es gibt dazu überhaupt keine Untersuchung, das ist vielleicht nur ein Eindruck. Kiezdeutsch ist ein neuer Dialekt, das heißt, es beeinflusst das Standarddeutsche nicht. Das …

von Billerbeck: Es existiert nebenher?

Wiese: … es ist einfach zusätzlich, genau. Also ob wir nun Hessisch, Bayrisch und Standarddeutsch oder Hessisch, Bayrisch, Kiezdeutsch und Standarddeutsch haben, das ist dem Standarddeutschen sozusagen egal.

von Billerbeck: Wie hat denn die Sprachwissenschaft darauf reagiert? Sie sind Sprachwissenschaftlerin, aber was haben die Kollegen gesagt, als sie gesagt haben, das will ich untersuchen, das ist mein Arbeitsgebiet, das interessiert mich?

Wiese: Fanden die spannend. Am Anfang wurde es in erster Linie von Soziolinguisten untersucht, die das schon lange vor mir spannend fanden, sich aber eher dafür interessierten: Wer spricht das überhaupt mit wem in welchen Situationen? Als wir dann zeigen könnten, dass hier auch grammatisch sehr viel passiert, haben sich natürlich sehr viele dafür interessiert.

von Billerbeck: Das ist ja nur ein vergleichsweise junger Zweig der Sprachwissenschaft. Was wollen Sie demnächst untersuchen? Was interessiert sie da ganz konkret?

Wiese: Im Moment interessieren uns neben den grammatischen Merkmalen von Kiezdeutsch besonders die Einstellungen gegenüber Kiezdeutsch. Hier findet man häufig ganz negative Einstellungen. Viele Leute kennen wirklich nur solche Sachen wie ich mach dich Messer. Wir möchten einfach untersuchen: Ist das so ähnlich wie die Einstellung gegenüber anderen Dialekten, die ja oft auch sehr negativ sind?

von Billerbeck: Feridun Zaimoglu hat ja mit seinem Buch "Kanak Sprak" da also, ja, so einen Pflock eingeschlagen, würde ich mal sagen. Trifft das, dieser Begriff Kanak Sprak, oder sorgt der dafür, dass es solche Vorurteile gegenüber Kiezdeutsch gibt?

Wiese: Das Buch war ja keine Dokumentation, sondern …

von Billerbeck: Literatur …

Wiese: … Literatur, genau, das heißt, es ging um Kunst. Ich denke, erstens geht es nicht um eine eigene Sprache, zweitens ist Kanake ein sehr negativer Begriff, der drittens für Ausländer ist. Kiezdeutsch hat nichts mit Ausländern zu tun, das sind alles Inländer, die sind hier geboren und mit dem Deutschen aufgewachsen, ich halte das für einen falschen Begriff dafür.

von Billerbeck: Wie waren die Reaktionen, das noch zum Schluss gefragt, von den Jugendlichen, die diesen Dialekt sprechen, dass da jetzt eine Sprachwissenschaftlerin aus Potsdam kommt und sagt, ich will euch erforschen?

Wiese: Die finden das toll. Also im Dezember kommen Jugendliche aus drei Kreuzberger Schulen zu uns an die Uni, die sind begeistert, dass sich jemand für sie interessiert, ohne direkt abzuwerten, nur weil sie einen anderen Dialekt sprechen.

von Billerbeck: Im Gegenteil: Aufzuwerten. Sie sind ein Fall für die Wissenschaft.

Wiese: Genau. Also die finden das selber auch spannend. Wer mehrsprachig ist, der hat ja ganz andere Kompetenzen, er interessiert sich viel mehr für Sprache, spricht über Sprache, denkt viel mehr über Sprache nach, und die machen mit Feuereifer mit.

von Billerbeck: Heike Wiese war das. Die Sprachwissenschaftlerin von der Uni Potsdam untersucht das Kiezdeutsch. Danke fürs Kommen!

Wiese: Gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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