Martin Feifel liest Young-Ha Kim: "Aufzeichnungen eines Serienmörders"
Ungekürzte Lesung der Originalausgabe des Cass Verlags, Der Diwan Hörbuchverlag,
Spielzeit ca. 195 Minuten, 3 CDs, 20 Euro
Im Krieg gegen diese Welt
04:42 Minuten
Ein 70-jähriger Serienmörder verliert sein Gedächtnis - davon erzählt der Koreaner Kim Young-ha in "Aufzeichnungen eines Serienmörders". Der Schauspieler Martin Feifel hat den Krimi nun souverän als Hörbuch eingesprochen.
"Der Mensch ist ein Häftling, eingekerkert in einem Gefängnis namens Zeit. Ein demenzkranker Mensch ist ein Häftling, eingekerkert in einem Gefängnis, das immer schneller immer kleiner wird. Bis man keine Luft mehr bekommt."
Byongsu Kim ist 70 Jahre alt und ein Serienmörder. Mit der Diagnose Demenz. Er hat Angst, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren und kämpft mit allen Mitteln gegen das Vergessen.
"Ich habe mir ein Diktiergerät gekauft, das man zum Sprachenlernen verwendet, einen Voicerekorder. Ich trage ihn wie eine Kette um den Hals. Bevor ich etwas tue, spreche ich ins Gerät, selbst bei den einfachsten Sachen. Dann erledige ich, was ich erledigen will. Wenn ich mittendrin nicht weiterweiß, drücke ich die Wiedergabetaste und höre ab, was ich eben aufgenommen habe. Dann versuche ich es erneut."
Und er macht Aufzeichnungen und Notizen. Getötet hat er zum ersten Mal als Jugendlicher, mit 16 Jahren. Sein erstes Opfer war sein prügelnder Vater, den er mit einem Kopfkissen erstickt.
Hörbuch allein mit Erzähler
"Meine anderen Morde waren nur Refrains des ersten. Jedes Mal, wenn ich wieder Blut an den Händen hatte, lag der Schatten meines ersten Mordes auf mir. Am Ende meines Lebens aber werde ich alle meine Untaten vergessen haben. Ich werde jemand sein, der sich nicht zu vergeben hat, nicht einmal vergeben könnte. Der hinkende Ödipus erlangt im Alter Erleuchtung und wird zu einem weisen Menschen; ich dagegen werde zum Kind. Zu einem Gespenst, das niemand zur Verantwortung ziehen kann."
Diese Hörbuch-Produktion setzt allein auf den Erzähler, ohne Musikeinspielungen oder andere akustische Elemente. Und das vollkommen zu Recht, denn mehr als die Stimme des Schauspielers Martin Feifel braucht es hier auch gar nicht: Er spricht diesen alten Mann, seine leise Verzweiflung und sein Ringen, bei klarem Verstand zu bleiben, so überzeugend, dass man fast Mitleid mit dem Serienmörder bekommt. Obwohl er keinerlei Reue zeigt über seine Taten:
"Ich führte meinen eigenen Krieg gegen diese Welt. Ich tötete, floh und versteckte mich. Dann tötete ich wieder, floh und versteckte mich. Damals gab es weder DNA-Tests noch Überwachungskameras, nicht einmal das Wort ‚Serienmord‘ war geläufig. Mehrere Dutzend zwielichtig erscheinende Personen und Geisteskranke wurden als Tatverdächtige verhaftet und von der Polizei gefoltert. Einige gestanden sogar."
Fantasien eines verwirrten Demenzkranken
Mit dem Töten hat er eigentlich schon vor Jahrzehnten aufgehört. Er lebt ganz unscheinbar als Gedichte schreibender Tierarzt in einem Dorf. Nur seine Adoptivtochter Unhi liegt ihm wirklich am Herzen. Um sie vor einem Frauenmörder zu schützen, der in der Gegend sein Unwesen treibt, plant er einen letzten Mord. Und droht darüber vollkommen den Verstand zu verlieren, weil ihm immer mehr der Zugriff auf sein Leben entgleitet. Im Laufe dieser mehr als dreistündigen Erzählung wird immer unklarer, was wirklich passiert ist und was die Fantasien eines verwirrten Demenzkranken sind.
"Im Fernsehen bringt man auch etwas über Unhi. ‚Der Tod von Unhi Kim, die sich stets so fürsorglich um alte, demente Menschen kümmerte, hat ihre Kolleginnen und Kollegen zutiefst erschüttert.‘ Was ist mit all den Gesprächen, die ich mit Unhi geführt habe? Habe ich das etwa alles erfunden? Ausgeschlossen. Phantasie kann nie so lebendig sein wie die Realität."
Bis zum Schluss und darüber hinaus lässt einen dieses Hörbuch nicht los. Natürlich, weil der Text an sich stark ist, aber auch weil hier beides passt: die Vorlage und die souveräne Interpretation durch den Schauspieler Martin Feifel.