Meinung zu Impfungen

Kinder sind keine Verfügbarkeitsmasse

Die Hände eines Arztes füllen eine Spritze auf, im Hintergrund ist ein Junge mit Munschutz und freier Schulter zu sehen.
"Kinder in die Pflicht zu nehmen, weil Erwachsene sich drücken, ist unanständig", meint Rüdiger von Kries. © imago / Westend61
Ein Kommentar von Rüdiger von Kries · 29.11.2021
Die ständige Impfkommission muss entscheiden, ob auch Fünf- bis Elfjährige geimpft werden dürfen. Falls ja, muss der Nutzen für die Kinder größer als das mögliche Risiko sein. Beides ist sorgfältig abzuwägen, sagt STIKO-Mitglied Rüdiger von Kries.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die kindliche Entwicklung erfolgt im Dialog mit der Umgebung. Wird mit Kindern nicht gesprochen, sprechen auch sie nicht. Entscheidend für die Reifung des Kindes zur sozialen Persönlichkeit ist Teilhabe am sozialen Leben. Kinder wurden im Rahmen der von der Politik getroffenen Maßnahmen zur Einschränkung der SARS-2 Viruszirkulation erst eingesperrt – u. a. Spielplatzverbote – dann ausgesperrt – begrenzter Zugang zu Kindergarten, Schule und Freizeiteinrichtungen. So nimmt es nicht Wunder, dass bei Kindern Defizite, gesundheitliche Schäden und psychische Störungen zugenommen haben: weniger Sprachkompetenz, mehr Adipositas und sogar mehr Suizidversuche.
Nun mag man einwenden: Sie wurden vor SARS-2 Infektionen geschützt. Zwingend notwendig war dies zum Kindeswohl nur bedingt. Bis Mai 2021 hatten sich circa zehn Prozent der Kinder mit SARS-2 infiziert. Bei diesen etwa 1,4 Millionen SARS-2 Infektionen bei Kindern gab es bei gesunden Kindern nur wenige schwere Erkrankungen. Durch ein – noch – hervorragendes System stationärer pädiatrischer Versorgung konnten fast alle diese Kinder erfolgreich behandelt werden. Diese gilt für die typischen COVID-Komplikationen wie auch für die wirklich schwere COVID-Folgeerkrankung PIMS.

Fünf- bis Elfjährige erkranken selten schwer

Besonders selten waren die schweren COVID-Erkrankungen bemerkenswerterweise bei den fünf- bis elfjährigen Kindern. Genau für diese gibt es jetzt einen wirksamen Impfstoff. Dies ist eine gute Nachricht für Kinder mit Grunderkrankungen, bei denen schwere COVID-Verläufe deutlich häufiger sind und solche, die mit besonders gefährdeten Menschen, die selber nicht geimpft werden können, zusammenleben. Für diese Kinder ist die Impfung wahrscheinlich ein Segen – auch wenn die Risiken des Impfstoffs bei Kindern bislang unzureichend bekannt sind. 
Bei den gesunden fünf- bis elf-jährigen Kinder mit SARS-2 Infektionen musste weniger als ein Kind auf 50.000 Infizierte wegen einer COVID-Erkrankung intensivmedizinisch behandelt werden. Einer generellen Impfempfehlung in dieser Altersgruppe steht derzeit ein noch nicht abschätzbares Risiko der Impfung gegenüber. Ein verantwortlich entscheidendes Beratungsgremium – die STIKO – kann derzeit, bei noch fehlenden Daten zu seltenen Impfrisiken, die generelle Impfung für gesunde Kinder in dieser Altersgruppe noch nicht empfehlen. Leider fordern dies einige polternde Politiker mit dem Anspruch, es besser zu wissen.

Es gab noch keine Nutzen-Risiko-Abwägung

Kinder haben seit Ausbruch der COVID-Pandemie durch die einschneidenden Maßnahmen zur Einschränkung der Virusausbreitung Schaden erlitten. Mit der Forderung einer sofortigen generellen Impfempfehlung für fünf- bis elf-jährige Kinder – ohne dass eine verantwortliche Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgt ist – kann weiterer Schaden für Kinder nicht ausgeschlossen werden.

Das Argument „sofortige generelle Impfempfehlung für fünf- bis elfjährige Kinder“ als notwendiger Schutz ungeimpfter Erwachsener zieht nicht: Für diese gibt es ausreichend Corona-Impfstoffe mit einer eindeutig positiven Nutzen-Risikobilanz.

Impfrisiko ist ethisch kaum vertretbar

Klar, eine generelle Impfung für fünf- bis elf-jährige Kinder würde die Verbreitung des SARS-2 Virus vermindern. Weniger Verbreitung nutzt allen – vor allem aber den Erwachsenen, die in der Tat häufiger schwer erkranken. Dafür aber gesunde Kinder, die von der Impfung selber kaum profitieren, einem derzeit noch unklaren Impfrisiko auszusetzen, ist ethisch kaum vertretbar. Impfung zum Wohle anderer ist vertretbar, wenn es für diese anderen keine Möglichkeit zum Selbstschutz gibt. Kinder in die Pflicht zu nehmen, weil Erwachsene sich drücken, ist unanständig.
Bei einer COVID-Impfung für alle fünf- bis elf-jährigen Kinder sollten wir sehr sicher sein, dass die Risiken deutlich niedriger als der Nutzen sind. Derzeit sind wir das nicht. Nicht zu schaden ist ein Grundprinzip ärztlichen Handelns. Dies gilt erst recht in der Prävention. Kinder sind Kinder und nicht „Verfügbarkeitsmasse“ einer Pandemie-Politik. 

Rüdiger von Kries leitet an der LMU München die Abteilung für Epidemiologie im Kindes- und Jugendalter. Der Facharzt für Kinderheilkunde ist seit 2001 Mitglied der ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut. Er ist als Gutachter für nationale und internationale Forschungseinrichtungen tätig und hat über 300 Publikationen in Peer Reviewed Journals veröffentlicht.

Ein älterer Herr mit Brille und kurzen Haaren.
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