"Kinder haben eine andere Bedeutung als im Westen"

Shalini Randeria im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Das starke Bevölkerungswachstum Indiens sieht die Ethnologin Shalini Randeria nicht als Problem. Die Forderung des Westens, den Populationsanstieg zu stoppen, findet sie falsch. Im Gegenteil, der Westen müsse seinen Lebensstil, seinen Energiekonsum selbst ändern.
Matthias Hanselmann: Alle Welt schaut auf China als dem Bevölkerungsriesen. Mit 1,35 Milliarden Menschen ist China auch zurzeit das bevölkerungsreichste Land der Erde – noch, denn Indien ist wegen des stärkeren Bevölkerungswachstums auf dem Weg, China zu überholen. Schon heute leben fast 18 Prozent der Menschheit in Indien.

Für Politiker und Bevölkerungswissenschaftler, die das Wachstum der Weltbevölkerung stoppen wollen, ist das eine besorgniserregende Entwicklung. Wir haben mit Shalini Randeria gesprochen. Sie ist ordentliche Professorin für Ethnologie an der Universität Zürich und zurzeit unter anderem Mitglied des Senats der deutschen Forschungsgemeinschaft DFG. Meine erste Frage an Frau Randeria war: Wie sieht es denn zurzeit aus mit der Entwicklung der indischen Bevölkerung?

Shalini Randeria: Die indische Bevölkerung wächst, Indien wird in einigen Jahren das bevölkerungsreichste Land auf der Welt sein, sie wird China überholen, sie indische Bevölkerungsgröße. Das hat zwei Gründe: Auf der einen Seite liegt es an einer bestimmten Altersstruktur, Alterspyramide. Die Bevölkerungsteile, die in jungen Jahren, also im reproduktiven Alter, wie man sagt, sind, sind verhältnismäßig groß, und das heißt, auch wenn sich das Bevölkerungswachstum im Vergleich zu früher und damit auch die Fruchtbarkeitsrate, auch im Vergleich zu früher, sich verlangsamt haben, wird die Indische Bevölkerung trotzdem wegen dieser Altersstruktur in den nächsten Jahren noch wachsen.

Hanselmann: Früher oder später wird natürlich dann die Frage sein: Wie wirkt sich die Bevölkerungsdichte auf die Lebensverhältnisse der Menschen in Indien aus? Immer mehr Menschen auf dem gleichen Raum - wächst die Armut, wächst die Zerstörung der Natur?

Randeria: Nein, also es gibt keinen unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und Armut. Holland ist zum Beispiel eines der am dichtesten besiedelten Gebiete auf der Erde. Afrika oder große Teile von Afrika sind am dünnsten besiedelt. Und das heißt: Wie man an diesen zwei Beispielen relativ schnell erkennen kann, gibt es überhaupt keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und entweder Armut oder auch Umweltzerstörung.

Also wir in Europa zerstören auch dünn oder relativ dünn besiedelt oder wie Holland sehr dicht besiedelt, wir alle mit unserem Konsum zerstören die Umwelt - nicht nur lokal, sondern auch weltweit viel mehr als irgendjemand in einem Bergdorf in Indien oder im Slum in Bombay oder in einem Dorf in Bangladesch.

Hanselmann: Sie sprechen das Thema Konsum an: Man hat ja den Eindruck, dass sich alle Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien, das westliche Konsummodell zum Vorbild machen. Wir haben aber einen sehr hohen Ressourcenverbrauch. Sie haben es eben gesagt, wir konsumieren extrem viel, wir sind an einen sehr hohen Lebensstandard gewöhnt. Ist Indien nicht letztlich doch auch auf dem Weg dort hin?

Randeria: Indien ist sicherlich auf dem Weg zum Wirtschaftswachstum und auch zu einem verschwenderischen Lebensstil - westliche Prägung, also diese fundiert natürlich weltweit -, ist einerseits durch kapitalistische Wirtschaftsverhältnisse, das einzige Modell, das zur Zeit praktiziert wird, auf der anderen Seite auch durch Medien und Werbung und Filme wird auch versucht, diesen Lebensstil als das Wünschenswerte, das einzige Nachahmenswerte darzustellen, und mit Erfolg. Und das heißt, wir haben sicherlich ein Problem, wenn alle Menschen auf der Welt so leben wie wir. Aber das bedeutet lange nicht, dass der Großteil der indischen Bevölkerung in absehbarer Zukunft so leben werden kann wie wir, auch wenn sie es möchten.

Hanselmann: Mit anderen Worten: Man muss von vornherein darauf achten, dass die Ressourcen geschont werden, dass zum Beispiel auch das Bevölkerungswachstum nicht zu krass ist, was die ...

Randeria: Nein, wir müssen von vornherein darauf achten, dass wir hier im Westen, Sie und ich, unseren Lebensstil ändern, nicht das Bevölkerungswachstum in Indien drosseln, weil die Armen in Indien verbrauchen kaum etwas im Vergleich zu dem, was Sie und ich täglich verbrauchen. Also man muss sich die Größenordnung so vorstellen: Die Stadt New York verbraucht an einem Tag so viel Strom wie der ganze Kontinent Afrika. Das heißt, das Bevölkerungswachstum in Afrika kann so hoch sein, wie es will. Es führt nicht zum selben Energiekonsum.

Hanselmann: Das ist ein drastischer Vergleich, den Sie eben gebracht haben. Machen Sie sich denn Hoffnungen, dass man in den Industrienationen tatsächlich zu solchen Einsichten kommt und sagt: Wir sparen, damit die sogenannte dritte Welt sozusagen besser vorankommt?

Randeria: Das weiß ich nicht, das ist auf einer Seite eine pädagogische Aufgabe, bildungspolitische, auf der anderen Seite ist das eine politische Frage. Und so lange wir alle mit dem Finger Richtung Indien und China zeigen und sagen, sie sollen ihr Bevölkerungswachstum bremsen, weil wir die falsche Problemdiagnostik haben, solange natürlich wird sich hier auch wenig ändern. Wir müssen einfach die Finger Richtung uns selber zeigen und sagen: Welchen Beitrag kann ich leisten? Nicht: Welchen Beitrag soll jemand anderes leisten?

Hanselmann: Wird denn in Indien überhaupt etwas dafür getan, sagen wir nach chinesischem Vorbild, wo ja die Ein-Kind-Familie staatlich verordnet ist, wird denn etwas dafür getan, dass weniger Kinder zur Welt kommen?

Randeria: Ja, die indische Regierung versucht seit Jahren mit mehr oder weniger sanftem Zwang das Bevölkerungswachstum zu reduzieren, Propaganda im großen Stil, bildungspolitisch große Regierungsinitiativen, sanfter Zwang im Sinne von positiven finanziellen Anreize, wenn jemand - also meistens ist das dann die Ehefrau - sich sterilisieren lassen würde, kriegt die Familie Vergünstigungen, Geld bis hin zu in den zwei Jahren der Notstandsgesetzgebung unter Indira Gandhis Regierung 74, 76 gab es auch fast chinesische Verhältnisse - über 500 Millionen Männer, die mit Polizei zwangssterilisiert wurden. Also die indische Regierung versucht alles, um Bevölkerungswachstum zu drosseln.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Shalini Randeria, indische Ethnologin der Universität Zürich. Frau Randeria, wie wichtig sind denn Familie und Kinderwunsch heute in Indien?

Randeria: Familie und Kinder sind ganz, ganz wichtig. Also man kann sich in Indien, glaube ich, niemand kann sich ein Leben ohne Familie und ohne Kinder vorstellen. Praktisch alle Leute sind verheiratet, Männer wie Frauen, alle wünschen sich Kinder. Früher hat man sich mehr Kinder gewünscht als heute, also als Wunschzahl werden Sie überall in der städtischen Mittelschicht ein, zwei Kinder hören, auf dem Land bei ärmeren Familien werden Sie größere Wunschzahlen hören, teilweise der Tatsache verschuldet, dass die Kinder nicht oft überleben. Die Säuglingssterblichkeit ist extrem hoch, eigentlich, wenn man das Bevölkerungswachstum verlangsamen will, dann müsste man Mutter- und Säuglingssterblichkeit reduzieren, anstatt drastische Bevölkerungskontrolle zu machen. Die Leute haben ...

Hanselmann: Wenn Sie sagen, die Unterschicht muss mehr Kinder bekommen, um Überleben zu können, dann tut sich ja da doch ein Abgrund auf, das bedeutet, hier müsse doch bessere Versorgung der Menschen her, Hygiene und Gesundheitsvorsorge, soziale Absicherung und so weiter. Denn es kann ja nicht angehen, dass in der Unterschicht immer mehr Kinder geboren werden, um sich sozial abzusichern, und damit die Bevölkerung erst recht explodiert.

Randeria: Aber die Bevölkerung explodiert nicht. Erstens bin ich sehr, sehr allergisch gegen diesen Ausdruck. Das sind Menschen! Die explodieren nicht. Und zweitens, die Bevölkerung wächst, Menschen bekommen Kinder, weil sie diese Kinder möchten, oder sie bekommen welche, weil sie darauf bauen müssen, dass ihre Kinder sie im Alter versorgen, wenn man einen fehlenden Sozialstaat hat, dann ist man auf die Kinder angewiesen bei Krankheitsfall, im Alter. Man hat weder Rente noch Krankenversicherung.

Das heißt, man ist ökonomisch auf Kinder angewiesen, emotional haben Kinder einen großen Stellenwert, einfach auch in der Werteskala haben Kinder einfach eine andere Bedeutung als im Westen. Es wäre völlig undenkbar, kinderlos sein zu wollen und zwei Hunde zu haben oder drei Autos. Es ist eine andere Vorstellung von einem guten Leben.

Aber Kinder sind nicht gleich Kinder. In Indien wie in China gibt es eine sehr, sehr starke Söhnepräferenz, und das heißt, man muss auch im Kopf behalten, dass, wenn man wie in China mit diesen drastischen Mitteln versucht, das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen, ein Nebeneffekt - ungewollt von der Regierung, aber ein Nebeneffekt ist - das weibliche Föten abgetrieben werden. In Indien auch. Und das heißt, man kriegt einfach eine Geschlechterasymmetrie, die auch nicht unproblematisch ist.

Aber Sie sprachen vorhin von sozialstaatlichen Maßnahmen, also was könne man tun oder müsste man nicht tun, dass die Armen andere Möglichkeiten haben, ihre Zukunftschancen zu sichern und nicht nur über Kinderreichtum. Und sicherlich, Indien hat ein sehr gutes Beispiel, den Bundesstaat Kerala im Süden Indiens, ein fast über 40 Jahre von einer gewählten kommunistischen Regierung regierter Bundesstaat, der 60 Prozent der Staatsausgaben investiert in Bildung und Gesundheit, und die Fertilitätsrate in Kerala ist genau so hoch wie in Mitteleuropa.

Hanselmann: Wäre Kerala ein Modell für ganz Indien?

Randeria: Kerala wäre sicherlich ein Modell für ganz Indien. Man müsste dann 60 Prozent des Staatshaushaltes in Bildung und in Gesundheit investieren, man müsste für eine bessere Einkommensverteilung sorgen, bessere Infrastruktur auch. In Kerala, die Straßen sind zum Beispiel und Transportmittel sind extrem gut, und dadurch sind Krankenhäuser sehr gut zugänglich. Fast 90 Prozent aller Babys in Kerala werden in Krankenhäusern geboren, und dadurch natürlich, diese Säuglingssterblichkeit viel niedriger als in Nordindien.

Hanselmann: Shalini Randeria, Ethnologieprofessorin, über die Bevölkerungsentwicklung ihres Heimatlandes Indien, und wie gehört zum Schluss mit einem durchaus positiven Beispiel. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de
Wie das Welternährungsprogramm die Folgen des Bevölkerungswachstums einschätzt
Forscher: Mehr Bildung mindert Geburtenrate
Hohe Geburtenraten vor allem in armen Ländern
Mehr zum Thema