Kinder in Indien

Die Mädchen vom Müllberg

Ein Mädchen sammelt Abfälle auf einem Müllberg vor Delhi.
Ein Mädchen sammelt Abfälle auf einem Müllberg vor Delhi. © Deutschlandradio / Laura Salm-Reifferscheidt
Von Laura Salm-Reifferscheidt |
Müll ist wertvoll – überall auf der Welt. Aber während der Müll hierzulande ins Recycling gelangt, klettern in Ländern wie Indien Menschen auf Müllberge, um das Wertvollste herauszufischen. Oft sind Kinder beim Sammeln dabei - so auch Saruna, Anjum und Jasmin, drei Mädchen aus Delhi.
Anjum: "Einmal sind ganz viele Haargummis abgeladen worden, und ein Lastwagen voll von Dutts, Shampoo, Ölen ... alles Mögliche. Alle sind gekommen, um sich was rauszusuchen ... es gab sogar Nagellack ..."
Mühelos steigt Anjum den steilen Hang hinauf, während sie gestikulierend von all den wunderbaren Dingen erzählt, die hier manchmal zu finden sind. Ihre beiden Freundinnen Saruna und Jasmin sind dicht an ihrer Seite.
Anjum: "Kaugummis, Schokolade ... große Autos kommen, um das abzuladen. Wir finden dann Schokolade und Kaugummis, Süßigkeiten und große Schachteln mit Keksen. All das fällt nachts von den LKWs runter."

Plastiksäcke, leere Getränkekartons

Saruna, Anjum und Jasmin gehen weiter, immer bergauf. Ihre silbernen Fußkettchen klimpern im Takt ihrer Schritte. Ihre gelben, pinken und grünen Kopftücher und Salwar Kamiz - traditionelle Outfits aus weiten Hosen und langen Hemden - sind fröhliche Farbflecken vor dem trostlosen braunen Hintergrund. Immer wieder hebt eines der Mädchen etwas vom Boden auf: einen Plastiksack, einen rostigen Nagel, leere Getränkekartons, eine Glühbirne. Ihre Fundstücke lassen sie in großen Säcken verschwinden, die sie über ihre Schultern geworfen haben.
Saruna: "Von hier sieht man nichts. Aber von da oben sieht man die ganze Welt. Du allein bist dann der Mittelpunkt der Erde. Dann bist du ganz groß und alles andere erscheint so klein."
Oben angekommen, breitet Saruna ihre Arme weit aus. So, als ob sie die ganze Welt umarmen möchte. Tief unter ihr und bis zum Horizont erstreckt sich die Millionenmetropole Delhi. Die Straßen, Häuser und Autos der indischen Hauptstadt sind von hier oben winzig klein. Die Welt da unten ist Saruna, Anjum und Jasmin aber fremd. Ihr Reich ist der Berg auf dem sie stehen.

Wachsende Müllberge

Es ist ein Berg aus Müll, der jeden Tag etwas größer wird. Zurzeit soll er eine Höhe von 40 Metern und ein Ausmaß von 160.000 Quadratmetern haben. Hier in Bhalaswa, im Norden Delhis, landet, was in der Stadt achtlos weggeworfen wird. Vor uns liegt eine kleine Plastikstatue der Gottheit Ganesha, der Torso einer Schaufensterpuppe, eine Handtasche mit kaputtem Reißverschluss, ein Zimmerspringbrunnen, ein linker roter Damenschuh, ein Sack voller Spritzen mit angetrocknetem Blut, die Gedärme und ein Bein einer Ziege, Orangenschalen. Der Gestank von Verwesung ist atemberaubend.
Saruna: "Ich heiße Saruna, bin 15 Jahre alt. Ich gehe gern zur Schule ..."
Anjum: "Ich bin Anjum und zwölf Jahre alt ... Jasmin ist die Tochter einer meiner Tanten, Saruna die einer anderen Tante."
Jasmin: "Mein Name ist Jasmin. Ich bin 13 Jahre alt. Alle leben mit ihren Vätern und Müttern. Nur ich nicht. Das mag ich nicht."
Jasmins Eltern sind weggezogen, sie lebt bei der Tante. Soweit die Teenager zurückdenken können, haben sie zusammen Müll gesammelt. Sie sind nicht nur Cousinen, sondern auch beste Freundinnen, erzählt Saruna.
Saruna: "Wo immer ich hinging, habe ich Anjum mitgenommen. Gleich ums Eck ist ein Park, dort haben wir gespielt und auch Müll gesammelt. Nachdem wir den Müll verkauft haben, haben wir immer gespielt. Wir haben uns von klein auf geliebt."

Schreibzeug wird gesammelt

Jasmin kann sich ein Leben ohne ihre beiden Cousinen gar nicht vorstellen. Die 13-Jährige ist zart gebaut, hat einen weichen Mund und eine kleine Stupsnase. Im Gegensatz zur resoluten Saruna und zur verträumten, etwas tollpatschigen Anjum, ist Jasmin zurückhaltend und schüchtern.
Jasmin: "Meine Freundinnen Saruna und Anjum halte ich ganz nah an meinem Herzen."
Saruna greift gezielt in einen Haufen leerer Chipstüten, zieht eine längliche Blechdose heraus und öffnet diese vorsichtig. Sie ist prall gefüllt mit Buntstiften, Kugelschreibern und anderem Schreibzeug.
Saruna: "Das behalte ich. Und wenn wir dann zum Unterricht gehen, kann ich damit arbeiten. DAMIT mache ich Zeichnungen. Mit diesem Messer spitze ich meinen Stift und schreibe dann damit. Wenn ich einen Fehler mache, dann kann ich es mit diesem Radierer wegmachen. Und DAMIT schreibe ich Zahlen bis 100 und DAS gebe ich meiner Schwester."

Zahlreiche Hunde auf dem Müllberg

Zum Schulunterricht schaffen es die Cousinen allerdings nur selten. Sie müssen Geld nach Hause bringen. Ihre Eltern, ebenfalls Müllsammler, sind auf das Zusatzeinkommen der Kinder angewiesen. Zusammen verdient die achtköpfige Familie am Tag rund 100 bis 150 Rupien, also etwa zwei Euro.
Saruna: "Ich fühle mich schlecht wegen des Mülls. Ich will keinen Müll sammeln. Aber dann denke ich, wie soll ich mir denn sonst etwas kaufen. Seitdem ich nicht mehr als Tagelöhnerin arbeite, habe ich immer nur Müll gesammelt. Ich kenne sonst nichts anderes."
Unzählige Rudel von Hunden patrouillieren auf der Ebene, ganz oben auf dem Müllberg. Einer von ihnen bellt die Mädchen an. Saruna kontert mit einem Steinwurf. Überall sind Kühe und Ziegen, die gemächlich vor sich hin kauen - an Plastiktüten und alten Klamotten. Schweine suhlen sich in schwarzen Lacken. Über den Köpfen der Mädchen kreisen hunderte Greifvögel.
Auch zahlreiche Hunde sind auf dem Müllberg vor Delhi.
Auch viele Hunde sind auf dem Müllberg anzutreffen. © Deutschlandradio / Laura Salm-Reifferscheidt
Sie spähen nach frischen Schlachtabfällen und stechen vom Himmel herunter, sobald sie etwas entdecken. Winzige gelbe und schwarz-weiße Singvögel zwitschern ihre Melodien. Gegen den Lärm der vollbeladenen Lastwagen, die alle paar Minuten den Berg hinaufkriechen, kommen ihre Stimmen jedoch nicht an. Die Trucks wirbeln feinen Staub auf und tauchen die Szenerie in ein sanftes, unwirkliches Licht.
Saruna: "Einmal kam ein Truck voller Mäuse. Die Hälfte von ihnen ist ins Wasser gefallen, die andere Hälfte davongelaufen. Wir haben unsere Säcke mit den Mäusen gefüllt und sie dann mit nach Hause genommen ... Die haben noch gelebt. Sie hatten rote Augen und sie waren sehr süß. Es hat so viel Spaß gemacht, mit ihnen zu spielen. Die beißen nicht."

Leichenteile im Müllsack

Das breite Lächeln in Sarunas kantigem Gesicht verschwindet, als sie von einem anderen Fund erzählt. Vor einiger Zeit fiel ein zugeknoteter Müllsack von einem Laster. Vielversprechend, fand Saruna und rannte - so schnell sie konnte - hin, um den Sack vor all den anderen Müllsammlern zu erwischen.
Saruna: "In dem schwarzen Sack waren eine Hand und der Kopf eines Menschen. Ich dachte, der Kopf würde aus dem Sack springen und mich erwürgen. Ich bin schreiend davon gelaufen."
Anjum lächelt nur über die Geschichte ihrer Cousine. Die Leichenteile waren wahrscheinlich bloß Abfall von einem Krankenhaus, meint sie.

Ein Teich mitten im Müllberg

Jasmin hält ein kleines Stoffkissen hoch, das an einem Lederband um ihren Hals hängt. Es ist ein Schutzamulett, das sie von ihren Cousinen geschenkt bekommen hat. Vor Verletzungen hat es sie jedoch noch nicht bewahrt. Sie zeigt auf eine Narbe unter ihrem Auge. Sie ist gestürzt und dabei sind Glasstücke in ihrer Wange stecken geblieben. Die Wunde musste sogar genäht werden. Auch Anjum und Jasmins Gesicht, Arme und Hände sind von lauter feinen Narben gezeichnet.
Anjum bleibt abrupt stehen. Sie schiebt mit ihrem Fuß etwas Müll beiseite und patscht die Sohle ihres Flipflops auf die Oberfläche einer Pfütze, die unter den ganzen Tüten versteckt ist. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es eher ein riesiger verzweigter Teich ist, der - so sagen die Mädchen - bis tief in das Innere des Müllberges reicht.
Anjum: "Einmal bin ich da reingefallen. Diese drei haben mich mit viel Mühe wieder rausgezogen. Ich bin da drinnen ohnmächtig geworden. Seitdem habe ich solche Angst davor."

Es stinkt bestialisch

Der Gestank ist bestialisch. Das Wasser blubbert unheimlich vor sich hin. Es ist Methangas vom gärenden organischen Abfall, der ungetrennt von anderem Müll hier abgeladen wird. Vor allem im Sommer, wenn die Temperaturen auf mehr als 40 Grad steigen, kommt es zu spontanen Explosionen und Bränden, die wochenlang nicht gelöscht werden können.
Baggerfahrer: "Der Müll selbst ist am gefährlichsten. Er produziert den Gestank und dieses Wasser hier. Das ist kein Wasser mehr, das sind Chemikalien. Wenn es deine Haut berührt, wird diese schwarz und verbrennt. Es ist schädlich. Das Wasser ist eine Art Säure. Es stinkt. Wir können hier nur arbeiten, wenn wir unser Gesicht bedecken."

Überall sind Frauen, Männer und Kinder sehen

Joginder ist Baggerfahrer. Er plättet die große Ebene, um Platz für noch mehr Müll zu schaffen. Sein gestreiftes Hemd, seine beige Hose und sein weißes Tuch, das er über Mund und Nase gebunden hat, sind blitzsauber. Auf seinem Kopf sitzt ein roter eleganter Herrenhut. Joginder zeigt auf die drei Mädchen. Sie tragen weder Hut noch Mundschutz.
Baggerfahrer: "Diese Kinder folgen uns. Sie sind immer um uns rum. Da fragt man sich, was man tun kann. Entweder mache ich meine Arbeit oder ich schicke sie weg. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn sie hier sind. Wir wollen ihnen ja nicht aus Versehen wehtun. Aber sie hören nicht auf uns. Das wird immer schlimmer. Wir haben da ein echtes Problem."
Überall, wo man auf der großen Ebene hinsieht, sind Frauen, Männer und Kinder unterwegs, die Müll sammeln. Die Jüngsten sind gerade einmal fünf oder sechs Jahre alt. Die einen arbeiten mit Magneten, um Metalle zu finden. Andere packen Stoff und Kleider zu Bündeln zusammen, wieder andere haben sich auf Ziegelsteine und Baumaterial spezialisiert.
Eine alte Frau pickt ausgekämmte Haarnester aus dem Müll. Saruna, Anjum und Jasmin füllen ihre Säcke überwiegend mit Kunststoff und Eisen. Alles hier hat seinen Wert. Für ein Kilo altes Eisen bekommt man 8 Rupien, für unbenutztes Eisen 15 und für Plastik 6 Rupien. Am meisten gibt es für Haare. Dafür bekommen die Sammler bis zu 1000 Rupien pro Kilo. Das sind etwa 14 Euro. Daraus werden dann Extensions und Perücken gemacht.

Das Sammeln auf Kipplastern ist gefährlich

Nur die Mutigsten, meist Jungs nicht älter als zehn Jahre, springen auf die fahrenden Lastwagen auf, um die wertvollsten Stücke zu ergattern. Die anderen Sammler rotten sich hinter den Kipplastern zusammen. Noch während die triefende Masse von der Laderampe rutscht, hacken sie mit ihren Sicheln darauf ein, zerren das Beste heraus. Viel Zeit bleibt nicht, dann kommt schon der nächste Truck. Die drei Cousinen aber trauen sich nicht so nahe an die Laster ran. Anjum deutet mit ihrem Kinn auf eine Stelle ein Stück die Staubstraße hinunter, auf der die Lastwagen entlangrasen.
Anjum: "Meine Freundin Koki und ich waren auf dem Weg runter. Sie sagte, 'Anjum, ich habe Durst!' Also sagte ich ihr, sie solle Wasser holen gehen. Da kam gerade ein Karren daher. Der Mann, der den Karren fuhr, hieß Ladoo. Ladoo sagte, er würde sie dort absetzen, wo sie Wasser holen kann. Siehst du diese Schlaglöcher in der Straße? Ein Lastwagen und der Karren sind dort zusammen geprallt. Koki ist vom Karren gefallen und der Lastwagen ist über sie drübergefahren."
Das ist vier oder fünf Jahre her. Der Anblick hat Anjum nie wieder losgelassen.
Anjum: "Ihr ganzes Gesicht war zerstört, sie lag zertrümmert am Boden. Sie hatte Blut im Haar und sich in die Hose gemacht. Der Unfall war so schlimm, dass alle, die es gesehen haben, in Ohnmacht gefallen sind. Alle kamen, um sie in ein Krankenhaus zu bringen. Aber keines wollte sie aufnehmen. Sie sagten, sie sei doch schon tot. Warum sollten wir sie aufnehmen? Ich habe danach jede Nacht von ihr geträumt. Ich sah den Geist meiner Freundin und vermisste sie."
Jasmin, Sangita, Saruna und Anjum (von links) auf dem Müllberg vor Delhi
Jasmin, Sangita, Saruna und Anjum (von links) auf dem Müllberg © Deutschlandradio / Laura Salm-Reifferscheidt
Vom Rand des Müllberges zeigt Jasmin auf etwas unten in der Ebene, zwischen zwei viel befahrenen breiten Straßen.
Jasmin: "Seht ihr die Moschee da? Da werden alle begraben. Wenn jemand von uns stirbt, werden wir da begraben."
Auch Koki ruht auf diesem Friedhof.

Der Geruch von Fäulnis

Direkt am Fuß des Müllbergs, nicht weit vom Friedhof entfernt, liegt die Siedlung, in der die Mädchen wohnen. Es ist ein Gewirr aus engen Gassen mit kleinen Ziegelhäusern, offenen Abwasserkanälen und hängenden Stromkabeln. Der Gestank von Fäulnis hängt auch hier schwer in der Luft. Überall Fliegen.
Wie eine schwarze Welle wälzt sich der Schwarm von einer Oberfläche zur nächsten. Frauen hocken vor ihren Türen, lösen Kichererbsen aus. Kühe schieben sich vorbei. Mädchen waschen Babys in bunten Plastikeimern. Jungs hängen herum, in der Hoffnung von den vorbei spazierenden Schülerinnen beachtet zu werden.
Die Cousinen bleiben stehen. Ein paar Kinder umringen einen Mann mit zwei zerzausten Affen. Die Tiere machen Rollen vorwärts und rückwärts, robben mit einer Plastikpistole auf dem Boden herum, setzen Sonnenbrillen auf und legen sich Blumenketten um den Hals.
Der Mann ist einer der letzten Affenbändiger hier. Früher gab es viele davon - Gaukler, Tanzbärenhalter und Schlangenbeschwörer. Die Siedlung ist sogar nach ihnen benannt: Qualandar. Das waren Nomaden aus dem Norden Indiens, die davon gelebt haben, mit ihren Tieren bei Hochzeiten und Festen aufzutreten.

Der Müllberg als Einnahmequelle

Doch der Mann und seine Affen werden nur noch selten zu Feiern bestellt. Die Tierschutzauflagen sind streng geworden und die Menschen hocken heute sowieso lieber vorm Fernseher, sagt er. Genau wie den anderen Bewohnern der Siedlung bleibt auch ihm nur der Müllberg als Einnahmequelle.
Nach der Vorführung mahnt Anjum ihre Freundinnen zur Eile. Sie müssen nach Hause. Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden gerade hinter dem Müllberg. Wenn es dunkel wird, ist der Berg für die Mädchen tabu.
Gulshana: "Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, ein paar Mal. Tote Frauen wurden gefunden. Eine war sogar aus unserer Siedlung. Niemand geht da rauf, alle haben Angst. Seht mal, von hier sieht man nichts mehr ..."

Beinbruch beim Müllsammeln

Anjums Mutter sitzt vor der offenen Feuerstelle auf dem flachen Dach ihres kleinen, gepflegten Ziegelhauses und kocht das Abendessen. Aufgeregt fuchtelt sie dabei mit ihrem Küchenmesser durch die Luft, als sie von den nächtlichen Gefahren auf dem Müllberg erzählt.
Die ganze Familie hat sich versammelt. Mit den beiden Cousinen Saruna und Jasmin sind sie zu zehnt. Einige der Kinder drängen sich auf der Liege um die Großmutter. Die schmale, zierliche Frau hat sich vor drei Jahren beim Müllsammeln ein Bein gebrochen. Sie kann seitdem kaum mehr gehen.
Anjum und ihre kleine Schwester Sangeeta stimmen ein Lied an, immer wieder tanzt eines der Mädchen dazu.
Jamshed: "Diese Zeiten sind für die Gebildeten und ich bin Analphabet. Also immer wenn ich versuche, woanders einen Job zu finden, habe ich keine Chance. Dann komm ich wieder hierher und sammle Müll."
Jamshed ist Anjums Vater. Er ist ein sanfter, höflicher Mann Ende dreißig. An die Wand gelehnt sieht er dem Treiben seiner Familie zu. Er erzählt von seinen Eltern, die irgendwann in den 1980er-Jahren aus einem benachbarten Bundesstaat nach Delhi kamen. Ihre Felder waren durch eine Überschwemmung zerstört worden.

Die Halde soll seit den 90ern geschlossen werden

Die Regierung siedelte die geschädigten Familien in einen morastigen Dschungel am Rande von Delhi um. Über die Jahre schufen sie daraus bewohnbares Land, bauten die Infrastruktur auf – Strom, Wasserpumpen, Ziegelhäuser, befestigte Gassen. Den Müllberg gab es damals noch nicht.
Jamshed: "Wir haben hier früher Kohle gefunden und verkauft. Dann kamen die ersten Lastwagen. Wir dachten, die würden etwas bauen und wir würden da Arbeit finden. Aber die haben nur den Müll abgeladen."
Das war Mitte der 1990er-Jahre. Vor sechs Jahren hatte die Müllhalde ihre Kapazität erreicht und sollte geschlossen werden. Da war der Berg schon 20 Meter hoch. Aus Mangel an Alternativen wird in Bhalaswa aber immer weiter Müll abgeladen. Die Auswirkungen für die Siedlungen rundherum sind verheerend.
Jamshed: "Manchmal gibt es kein fließendes Wasser. Andere Male ist das Wasser so schmutzig, dass die Kinder krank werden, wenn sie es trinken. Es gibt viele Moskitos. Wenn es regnet, dann wird das Abwasser hochgedrückt, dann kommen die Moskitos und stechen die Kinder. Sie bekommen Denguefieber. So viele Leute sterben hier jeden Monat daran. Menschen müssen hier unter den härtesten Umständen überleben."

Raus aus dem Müll als Ziel

Vor einem Jahr ist Jasmins Schwester Asiba an Denguefieber gestorben. Da war sie erst 14.
Jasmine: "Mein Vater hat so geweint, als meine Schwester gestorben ist. Alle haben schrecklich geweint. Sie ist um vier Uhr morgens gestorben. Wir brachten sie vom Krankenhaus hierher. Unsere Mutter hat mich umarmt und wir haben geweint. Das ganze Weinen hat sie fast umgebracht. Meine Eltern sind zurück nach Punjab gegangen, nachdem meine Schwester uns verlassen hat. Sie sind nie wieder hierher zurückgekommen. Für sie fühlt es sich schrecklich an, hierher zurückzukommen."
Abfälle werden auf einen Müllberg vor Delhi bebracht - und Menschen suchen nach Wertvollem.
Abfälle werden auf einen Müllberg vor Delhi bebracht - und Menschen suchen nach Wertvollem.© Deutschlandradio / Laura Salm-Reifferscheidt
Seit dem Tod ihrer Schwester ist Jasmin allein und wohnt im Haus von Anjums Familie. Sie wacht nachts oft auf und weint, weil sie ihre Schwester so vermisst. Anjum, die neben ihr schläft, tröstet sie dann immer.
Jasmine: "Ich habe geträumt, dass meine Schwester, ich und alle anderen zusammenspielen. Sie ist wieder da, wir feiern und verteilen Süßigkeiten an alle. Anjums große Schwester, umarmt sie und sagt 'Asiba ist wieder da!'. Sie macht Fotos, wir spielen. Es ist so lange her, dass ich meine Schwester im Traum gesehen habe."

Auf der Suche nach einem Bräutigam

Angeli sitzt neben ihrer Mutter vor der offenen Feuerstelle, knetet Teig für Fladenbrot und klopft dieses flach. Das Mädchen sieht ihrer Schwester Anjum ähnlich, hat ein ebenso hübsches rundes Gesicht und dunkle Augen.
Sie ist nur etwas kleiner und fülliger. Heute besucht Angeli die Koranschule - wie die meisten Familien in der Siedlung sind auch die Khans Muslime. Und sie bereitet sich auf einen wichtigen Moment in ihrem Leben vor. Die 14-Jährige soll verheiratet werden. Ihre Eltern sind auf der Suche nach einem passenden Bräutigam. Ihre Mutter hat schon eine genaue Vorstellung von ihm:
Gulshana: "Er sollte gut zu ihr sein und in der Lage sein, sie zu ernähren und ihr Kleidung zu kaufen. Und er sollte sie nicht zum Müllsammeln schicken. Das macht sie schon bei ihrer Mutter und wenn sie das auch bei ihrem Mann machen muss, dann wird sie das verfluchen und sagen, es sei ihr Schicksal ihr ganzes Leben lang Müll zu sammeln."

Stigma Armut

Bei den ersten Treffen mit den Familien potentieller Schwiegersöhne, verheimlichen Angelis Eltern immer die Tatsache, dass sie vom Müllsammeln leben.
Gulshana: "Wir haben über Kontakte einen Jungen gefunden. Wir haben die Familie schon getroffen, aber die wissen noch nicht, dass wir so arm sind. Sobald sie das herausfinden, werden sie sich zurückziehen."
Die Familie musste bereits einige Absagen einstecken.
Gulshana: "Die Leute sagen zu mir, dass meine Tochter wunderschön ist, also warum all die Sorgen um die Mitgift? Aber die Eltern der potentiellen Anwärter sagen, dass wir nichts haben. Warum sollten sie also unsere Tochter für ihren Sohn auswählen."

Ersparnisse für den Hochzeitsschmuck

Im Moment haben die Eltern nicht einmal genug Ersparnisse, um ihrer Tochter zumindest ein oder zwei Armreifen zu kaufen, die sie dann bei ihrer Hochzeit tragen kann. Auch Jamshed, Angelis und Anjums Vater, macht sich große Sorgen um die Zukunft seiner Töchter. Für ihn war es jedes Mal ein großer Schock, als seine Frau wieder eine Tochter gebar. Zu seiner Erleichterung kamen nach drei Mädchen, schließlich noch zwei Jungs auf die Welt.
Jamshed: "Da sind drei Töchter und zwei davon sind noch jung. Ich mach mir Sorgen, um ihre Heirat. Jedes Mal, wenn ich esse, dann kommt mir dieser Gedanke und dann bring ich nichts mehr runter. Wenn man eine Tochter hat, dann ist es die Pflicht der Eltern diese in einen besseren Haushalt zu schicken; sie einem Mann zu übergeben, mit dem sie glücklich ist. Wir sind arme Leute und wir haben unser Leben bis jetzt gemeistert. Aber für meine Kinder fängt das Leben erst an. Ich will nicht, dass meine Kinder dasselbe durchmachen müssen wie ich. Ich will ihnen einfach eine gute Ausbildung ermöglichen und sie in einen guten Haushalt schicken. Doch da kommt uns die Armut in die Quere."

Ehe als Ausweg

Raus aus dem Müll, das ist das Ziel. Und der einzige Weg, dies zu erreichen, ist die Heirat mit einem Mann, der NICHT vom Müllsammeln lebt. Anjum will mit ihren gerade einmal zwölf Jahren von all dem nichts wissen. Auf die Frage, ob sie denn selber einmal heiraten möchte, antwortet sie nur mit einem vehementen Kopfschütteln. Der Gedanke, dass ihre ältere Schwester und auch ihre Cousinen bald verheiratet werden, macht ihr bloß Angst.
Anjum: "Es wird sich leer anfühlen, wenn wir nicht mehr miteinander reden können, selbst wenn wir oft streiten. Ich frage mich, was mit mir passieren wird, wenn sie weg ist. Meine Mutter hat gestern gesagt, dass auch ich eines Tages gehen werde. Sie hat uns Schwestern dann umarmt und angefangen zu weinen."
Ob Anjum und ihre Cousinen jemals den Müllberg hinter sich lassen können, hängt einzig und allein vom Status und von der Gunst ihres zukünftigen Ehemanns ab. Was sie hinter dem Müllberg erwartet, das wissen sie nicht. Woher auch. Sie haben ihre Siedlung nie verlassen.

Laura Salm-Reifferscheidt
Laura Salm-Reifferscheidt© privat

Autorin Laura Salm-Reifferscheidt: "Mich hat am meisten beeindruckt, wie würdevoll die Menschen in diesen Umständen leben. Ich war nach einem Tag im Müll total verdreckt, die Mädchen sahen in ihren bunten Kleider immer noch frisch und sauber aus."

Mehr zum Thema