Kinder psychisch kranker Eltern

Mamas Monster und Papas Alkohol

Kinder psychisch erkrankter Eltern leben oft zwischen mangelnder Fürsorge und viel zu viel Verantwortung.
Kinder psychisch erkrankter Eltern leben oft zwischen mangelnder Fürsorge und viel zu viel Verantwortung. © picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte
Von Dorothea Brummerloh |
Drei bis vier Millionen Mädchen und Jungen leben in Deutschland mit psychisch erkrankten Eltern. Die Kinder führen ein Leben zwischen mangelnder Fürsorge und viel zu viel Verantwortung. Von den behandelnden Psychiatern werden sie meist übersehen - mit fatalen Folgen.
An einem Tisch sitzen drei Jungen mit ihrer Mutter und ihrem Besuch. Sie spielen Karten, eine interaktive UNO-Version, bei der ein Roboter mit witzigen Sätzen durchs Spiel führt.
"Du bist an der Reihe."
Es geht lustig zu am Tisch. Jeder möchte das nächste Spiel gewinnen. Da wird auch mal geschummelt, da werden Karten unterm Tisch versteckt, die man partout nicht haben will.
Marios* Mutter lacht. Das konnte sie nicht immer, sagt Mario, als er später in seinem Kinderzimmer sitzt. Seine Mutter wollte irgendwann einfach nur noch im Bett bleiben und gar nichts mehr machen. Der Junge weiß, es ist nicht weiter schlimm, wenn man müde ist. Aber:
"Nee, man ist nicht müde. Man ist einfach sehr krank."
Belehrt der Neunjährige und schüttelt dabei ein wenig den Kopf.
"Also es ist ganz komisch, dann das Gefühl. Man kann einfach nicht aufstehen. Das ist so eine Krankheit. Die heißt Depression. Ich habe auch so ein Buch darüber. Also da steht: Das ist Mamas Monster. Da steht da drinnen, dass das so ein Monster ist, dass die dann in Gefecht hält und sie keine Lust mehr hat, etwas zu machen, die arbeitet nicht mehr und so was."
Und genau wie in diesem Buch musste seine Mama gegen dieses Monster kämpfen, erklärt Mario mit ernster Miene. Er sitzt dabei auf einem Spielteppich, inmitten von bunten Legosteinen, hält ein kleines Auto in der Hand, dreht an dessen Rädern, dreht noch einmal, fährt mit dem Auto kurz hin und her, ehe er weiter spricht.
"Meiner Mutter – der ging es auch richtig schlecht. Aber sie hat trotzdem noch etwas gemacht, sonst würde hier nie irgendetwas in diesem Laden passieren, ich hätte nichts zu essen gekriegt und so was alles. Sie musste ja etwas machen, sonst würde nix in Gang gehen und so hat sie es einfach gemacht, richtig aus ihrem Körper heraus. Das hat viel Kraft gekostet."
Mario nickt beim Erzählen mit dem Kopf, als müsste er die Kraft seiner Mutter noch einmal anerkennen. Seine Eltern, vor allem aber seine Mutter, sprechen offen über die psychische Erkrankung.
"Weil, ich denke, dann kann man das besser verstehen und was man versteht, davor hat man keine Angst. Und das letzte was ich möchte ist, das meine Kinder mit Angst aufwachsen. Er ist ja morgens auch einer, der etwas länger braucht, um in Gang zu kommen. Und dann habe ich ihm erklärt, wenn du depressiv wärst, dann ist das noch zehnmal schlimmer, da überhaupt hoch zu kommen. Kannst du dir das vorstellen? Er war ja schon fünf und ich fand es dann schon wichtig, dass er weiß, was es war und warum Mama jetzt so anders ist."
Mario weiß auch, dass es notwendig sein kann, ins Krankenhaus zu gehen. Dort bekommt man Tabletten. Auch das hat ihm seine Mutter erklärt, als sie in eine Klinik zur Therapie ging. Aber, meint der Junge fast verschwörerisch, und rückt dabei etwas näher heran. Da gäbe es manchmal ein Problem:
"Ich glaube, man merkt das gar nicht selber. Ich glaube, das merkt erst der andere… Die benehmen sich, als wenn sie nicht ein normaler Mensch wären, als wenn die ganz komisch sind, als wenn die anders sind, als wenn die dann zum Beispiel ein Kuchen sehen, obwohl da gar keiner ist."
"Ich stelle mir vor, dass die Seele den ganzen Körper durchfließt"
Mario weiß jetzt, dass die Seele seiner Mutter krank ist. Und diese Seele – die beschäftigt ihn sehr.
"Aber ich weiß eben nicht, wo die Seele genau steht? Ich stelle mir die Seele so vor, dass die Seele so ganz klein ist, dass man die nicht sieht und dass man die auch nicht mit einem Riesenmikroskop sieht. Dass sie so klein ist und durch den ganzen Körper durchfließt, dass die Seele eben einen steuert, dass die eben alles macht, wie man ist und dass die die Gefühle auch ein bisschen angibt und dass die eben unsichtbar ist."
Schätzungen zu Folge leben drei bis vier Millionen Kinder und Jugendliche zusammen mit einem zeitweise oder dauerhaft psychisch erkrankten Elternteil. Vater oder Mutter haben zum Beispiel Depressionen oder Psychosen, leiden an Schizophrenie oder an Wahnvorstellungen. Die Erkrankung der Eltern beeinträchtigt das Leben der Kinder. In welchem Maß, das hängt nicht nur von Schwere und Verlauf der Krankheit ab.
Die Hamburger Psychologin Silke Wiegand-Greve hat in Studien gezeigt, dass es für die seelische Gesundheit der Kinder wichtig ist, die Wahrheit über die Eltern und deren Erkrankung zu kennen. Verschweigen nützt nichts. Was die Kinder sich in ihrer Fantasie zusammenreimen, sei schlimmer als die Realität, so Wiegand-Greve. So erst mache die Krankheit auch die Kinder krank. Frauke Behrens, Fachärztin für Kinder-und Jugendpsychiatrie, rät ebenfalls, offen mit der Erkrankung von Vater oder Mutter umzugehen:
"Für die Kinder ist es eher hilfreich, wenn die Krankheit einen Namen bekommt, wenn die Kinder lernen, zu unterscheiden, was gehört zur Krankheit und was ist eben auch vielleicht einfach etwas, was man nicht darf, was zur normalen Erziehung gehört. Und das ist für die Wahrnehmung der Kinder sicherlich sehr, sehr wichtig, dass sie wissen, dass es sich um eine Krankheit handelt. Ich denke, ein anderer Bereich ist, dass es in unserer Gesellschaft nach wie vor sehr stark negativ behaftet ist, eine psychische Erkrankung zu haben, so dass viele auch Angst haben vor Stigmatisierung, vor Ausgrenzung, wenn das bekannt wird, vor Nachteilen, die ihn dadurch entstehen könnten."
Die Mutter bürstete Franzis Haare stundenlang
Franzi*:"Und dann hatten wir immer so überall ganz viele Plastiktüten (knistert) mit Klamotten drin, damit alles luftdicht abgeschlossen war."
Eine junge Frau führt durch die Wohnung und erinnert sich an ihre Kindheit: an die Plastiktüten mit ihrer Kleidung, die immer eingefroren wurde, an stundenlanges Bürsten ihrer langen Haare. Im Zimmer der 19-jährigen Franzi* liegt auf dem Bett ein Kuscheltier.
Franzi: "Was ist denn das für ein Tier? Ein Heuler. Ein Seerobbenbaby. Den habe ich zu meinem ersten Geburtstag bekommen und plötzlich durfte ich den nicht mehr haben. Und deswegen ist es heutzutage so, wenn ich sehe, dass er nicht hier ist, dass ich dann schon wieder irgendwie Panik bekomme."
Es war Franzis Mutter, die kein Kuscheltier duldete.
Franzi: "Sie dachte halt immer, wir hätten Läuse und es hat den ganzen Alltag sehr beeinflusst. Weil sie hat auch sehr viel Geld ausgegeben dadurch, dass sie dann so einen Dampf-Staubsauger kaufen musste, damit wir alle Tierchen wegdampfen. Meine ganzen Klamotten wurden immer gewaschen, eingefroren. Ich durfte nichts doppelt anziehen. Ich musste jeden Tag einen Zopf tragen und wurde mit Haarspray richtig doll eingesprüht. Sie hat mir jeden Abend die Haare ausgekämmt bis um drei Uhr nachts und sonst wie spät. Und sie hat dann auch Depressionen bekommen, weil sie hat sich ausgegrenzt gefühlt. Sie dachte, dass alle Leute so mit dem Finger auf sie zeigen und sagen, sie ist eklig, sie hat Läuse, sie ist unhygienisch."
Auch Franzis Mutter kämpfte wie Marios Mama gegen Monster. In dem Fall gegen winzig kleine, die für niemanden anderen sichtbar waren als für sie. Kinder- und Jugendpsychiaterin Frauke Behrens kennt solche und ähnliche Geschichten aus ihrem Praxisalltag:
"Zu manchen Krankheitsbildern gehört es dazu, dass es keine oder nur wenig Fähigkeiten gibt zu erkennen, dass es sich um eine Krankheit handelt wie zum Beispiel bei wahnhaften Erkrankungen. Da sind ja die Betroffenen der festen Überzeugung, dass das, was sie erleben und wahrnehmen, der Wirklichkeit entspricht."
Franzi: "Sie ist überhaupt nicht auf logische Argumente eingegangen. Wir haben sehr viel dafür getan, dass sie es einsieht, dass da nichts ist. Wir haben sehr viele Gespräche geführt. Wir haben sogar mit einem Arzt gesprochen, der auf diese ganzen Kleintiere spezialisiert war. Mit dem hat sie gesprochen und niemanden geglaubt. Niemanden."
Ihre Mutter sagte den Läusen den Kampf an. Leider hatte sie darüber hinaus keine Zeit und auch keine Kraft mehr, sich um die alltäglichen Dinge zu kümmern. Franzis Vater arbeitete damals auswärts, kam nur am Wochenende nachhause. Das Mädchen ist auf sich allein gestellt.
Franzi: "Ich hätte gerne so ein leichteres Leben gehabt mit 14, ich hätte das lieber mehr genossen. Ich bin schnell erwachsen geworden, was auch seine Vorteile hat, dass ich jetzt ziemlich selbständig bin. Ich habe zu Hause den ganzen Haushalt gemacht, alles: unsere ganze Wäsche, gekocht habe ich auch."
Experten nennen diese Verhalten "Parentifizierung". Das Wort setzt sich zusammen aus dem lateinisch "parentes" für Eltern und "facere" für machen. Es ist die Umkehr der Rollen zwischen Eltern und ihrem Kind. Ein Leben also in viel zu großen Schuhen.
Behrens: "Wenn jetzt eine Mutter depressiv erkrankt ist oder auch an einer Psychose, an einer Schizophrenie erkrankt ist, kann sie oft nicht mehr die Aufgaben erfüllen, die Mütter üblicherweise erfüllen. Also die Sorge zu tragen, ist Nahrung da? Ist die Wohnung aufgeräumt? Werden die jüngeren Geschwister geweckt und zur Schule geschickt? All diese Dinge. Kann sein, dass die Ältesten oder Mädchen häufig diesen Job übernehmen und versuchen, so gut wie sie es eben können, auszufüllen."
Franzi: "Das ist so ein alltägliches Kümmern, was man automatisch macht. Das merkt man meistens, wenn man uns beide zusammen sieht, dass ich eher die bin, die sagt los, machen wir das und das, hast du das schon erledigt? Wie sieht es damit aus? Wir haben da die ziemlich die Rollen getauscht. Und ich habe dann eher die Mutterrolle übernommen als das sie Mutter für mich war."
Die eigenen Bedürfnisse blieben auf der Strecke
Ihre eigenen Bedürfnisse nach Zuwendung und Geborgenheit blieben dabei auf der Strecke. Franzi erzählt, dass sie trotzdem versucht hat, alles so perfekt wie möglich zu machen. Es sollte um Gottes Willen niemand etwas davon mitbekommen, was zuhause schief lief.
Franzi: "Ich wollte sie immer in Schutz nehmen. Ich wollte, dass niemand über sie denkt, dass sie ausgegrenzt werden sollte oder dass irgendjemand das erfährt. Und ich wollte nicht, dass die Leute das dann so wissen und das ist dann so als Stadtgespräch irgendwie rum geht. Ich wollte sie in dem Punkt halt immer wirklich in Schutz nehmen. Da ging es gar nicht unbedingt um mich."
Behrens: "Wenn Kinder viele Ressourcen haben, lernen sie damit umzugehen und lernen auch sich in der Außenwelt ganz normal zu bewegen, - das nicht nach außen zu tragen. Sie funktionieren. Aber in der Innenwelt gibt es schon natürlich Brüche, viele Fragen, die offen bleiben, Traurigkeit, Einsamkeit, Unverstanden-Sein."
Unsicherheit, Desorientierung und Scham gehörten zu Franzis Leben. Und immer wieder Angst, Angst, dass sich der Zustand der Mutter verschlechtert.
Franzi: "Sie war nicht durchgängig krank. Sie hatte immer so ein paar Monate, wo alles besiegt so war, dass es sich auch ein bisschen normal eingespielt hat und da kommen auch wieder so Körperkontakt und alles. Aber ich und mein Vater hatten immer die Angst, ja okay, es könnte ja sein, dass es morgen einfach wiederkommt und dann fängt alles wieder von vorne an."
Ihr Vater habe gesehen, wie es ihr ging, erzählt Franzi. Gemeinsam hätten sie nach Lösungen gesucht.
Franzi: "Und ich war früher der Meinung, ich will das nicht mehr. Können wir nicht einfach jetzt da weg? Mein Vater ist für die Situation, er ist immer sehr ruhig geblieben und hat gesagt, Franzi, wenn wir jetzt gehen, dann ist deine Mutter verloren. Sie kommt alleine nicht klar. Sie braucht dich. Sie war mal ziemlich fixiert darauf, dass es mir gut geht und es ist natürlich dann eine Ironie, dass es mir durch ihre Krankheit nicht mehr so gut ging. Aber wenn wir von ihr weggegangen wären, dann wäre sie noch tiefer in das Loch gesunken."
In der Schule hat niemand gemerkt, dass etwas nicht stimmt
Mit der Notfallnummer vom psychiatrischen Notdienst ausgerüstet, hat das Mädchen weiter funktioniert. In der Schule hat all die Jahre niemand gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Einmal hat wohl ein Lehrer nachgefragt. Franzi, die es gewohnt war, eine perfekte Fassade aufrecht zu halten, wiegelte einfach ab.
Franzi: "Ja, es ist gerade ein bisschen schwierig zu Hause, aber geht schon. Ich habe es auch immer viel runtergespielt, weil ich nicht darüber reden wollte und weil ich nicht so deswegen im Mittelpunkt stehen wollte oder sonstiges."
Erst als Franzi zusammenbrach, ließ sich die Mutter endlich behandeln. Eine Einweisung ins Krankenhaus gegen ihren Willen war nach dem "Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten" nicht möglich. Das geht nur bei Selbst- und Fremdgefährdung, doch die muss ein Vormundschaftsrichter bestätigen.
Und so müssen Kinder und Jugendliche oft Gewaltausbrüche, selbstverletzendes Verhalten oder auch Wahnvorstellungen solange aushalten, bis sich ihre Eltern endlich behandeln lassen. Franzis Mutter tat das allerdings nur kurz. Dann ging der Kampf gegen die Läuse wieder los.
Beim Übertritt ins Gymnasium konnte Franzi die Maskerade nicht mehr aufrecht halten. Sie fand endlich den Mut, ging zum Klassenlehrer und unterbrach die Schule für ein Jahr. In dieser Zeit ging die junge Frau selbst zur Therapie, damit nicht auch bei ihr die kleinen Krabbeltiere Großes auslösen.
Franzi: "Es macht mir schon Angst, dass manche Krankheiten durch so eine Kleinigkeit ausgelöst werden können und dass sich der Mensch dann komplett anders verhält. Also ich finde das schon ziemlich gruselig, was die Psyche mit manchen Leuten macht."
Wie schaffen es Kinder und Jugendliche solche Lasten zu tragen?
Behrens: "Sie schaffen das oft dadurch, dass sie sich zurückziehen, dass sie keine Kontakte haben zu Gleichaltrigen, dass sie niemand zu sich nach Hause einladen, dass sie versuchen so gut sie das können unauffällig zu sein. Sowohl in der Schule versuchen nicht aufzufallen, als sie auch zu Hause sehr bemüht darum sind, die Dinge so herzurichten, dass von außen erst einmal niemand auf die Idee kommt, dass da etwas nicht stimmt. Oft dauert es lange, lange Zeit bis die Kinder sich trauen überhaupt jemanden anzusprechen oder jemanden davon zu berichten, was sie erleben. Die Kinder haben natürlich auch Existenzängste, weil sie sich sicher nicht vorstellen können, wenn die Mutter jetzt ganz zusammenbricht, wie soll es dann weitergehen?"
***
Ein Mann trinkt aus einer Flasche Whisky.
Lisas Vater warf im Suff mit einer Glasflasche nach ihr.© picture alliance / ZB
Lisa* ist 16 Jahre alt. Problemlos würde sie allerdings auch in einen Kinofilm ab 18 kommen. Die junge, propere Frau hat einen festen Händedruck und eine angenehm dunkle Stimme. Man kann sich nicht vorstellen, dass sie sich schnell vor irgendetwas fürchtet. Aber Lisa kennt Angst nur zu gut.
Lisa: "Dass man Angst hatte, nach Hause zu kommen. Angst hatte, bei einer Freundin zu übernachten, weil man dachte, heute Abend wird er ein Messer ziehen und meiner Mutter etwas antun. Oder man hat einfach Angst jemanden mit ihm alleine zu lassen, aber auch Angst mit ihm allein zu Hause zu sein. Das war das Schlimmste, dass man Angst hatte zu Hause zu sein."
Das Leben ihres Vaters drehte sich im Grunde genommen nur um zwei Sachen: Tabletten und Alkohol. Anfänglich hatte sich der suchtkranke Vater noch im Griff, erzählt die Schülerin. Doch er veränderte sich psychisch mehr und mehr.
Lisa: "Als ich vier war, hat er zum ersten Mal nach mir geworfen mit einer gefüllten Glasflasche, die dann hinter mir an der Wand zersprungen ist. Später fing das dann an, dass er dann auch mal mit Stühlen und Tischen um sich geworfen hat und irgendwann hat er meine Handgelenke genommen und die so fest zusammengequetscht, dass die teilweise zwei, drei Wochen blau waren. Dann hat er mich die Treppe runter geschmissen."
Das Mädchen ertrug die Schläge, versteckte die blauen Flecke hinter langen Pulli-Ärmeln oder Halstüchern. Sie fand sogar noch Kraft für ihre kleine Schwester. Wenn es wieder mal arg zuging im Haus, ist sie zu der sechs Jahre Jüngeren ins Zimmer gegangen, hat einfach den Fernseher lauter gestellt, in der Hoffnung, dass sie so nichts mitbekommt. Einen Grund brauchte der Vater für seine Ausbrüche nicht.
Lisa: "Er hat einen gesucht und wenn er keinen gefunden hat, dann hat er sich einen eingebildet und dann war er so fest davon überzeugt, dass man dann selber irgendwann glaubte, dass man das gemacht hat, weil das Psychoterror war."
Lisa war viel unterwegs, floh förmlich aus dem Elternhaus - am liebsten auf den Fußballplatz. Dort bolzte sie mit anderen Mädchen, war normaler Teenager. Zu Hause war sie nur …
Lisa: "… du Fotze, du Miststück, du Dreckstück. Wenn wir bei meiner Mama lagen, meine Schwester und ich, einen Film geguckt haben, dann kam der hoch und hat dann immer mit dem Finger auf uns gezeigt und gesagt: Du bist schuld."
Die Kinder können ihre eigenen Gefühle nicht mehr richtig wahrnehmen
Kinder und Jugendliche mit einem psychisch erkrankten Elternteil achten oft nur auf die Gefühle ihrer Eltern. Ihre eigenen können sie irgendwann nicht mehr richtig wahrnehmen. Lisa glaubte, sie sei ein schwacher Mensch, der sich verprügeln lässt.
Lisa: "Ich habe immer gedacht, ich müsste mich eigentlich wehren. Aber in dem Moment war ich dann zu schwach, um irgendetwas zu machen."
Behrens: "Kinder brauchen, um selber überleben zu können, funktionsfähige Eltern. Wenn Eltern oder Mütter, die psychisch erkrankt sind, jetzt bestimmte Dinge nicht schaffen, reagieren die Kinder oft so, dass sie selber vermuten, dass sie irgendetwas nicht gut genug gemacht haben, dass sie quasi schuld sind, um die Stabilität in der Familie aufrechterhalten. Es fällt Kindern oft sehr schwer, die Schuld bei dem Verursacher zu lassen."
Isabell* möchte sich nicht zu Hause verabreden, sie lässt sich abholen.
In diesem Café ist es zwar nicht ruhig, aber man kann von der Mutter ungestört reden. Die junge Frau ist 18 Jahre alt, wirkt aber eher wie 14, fast zerbrechlich. Isabells Mutter hat die gleiche Erkrankung wie die Mutter von Mario, lässt sich aber nicht behandeln.
Isabell: "Also sie hatte noch nicht so richtig Therapie. Sie hatte schon mal versucht, Tabletten zu nehmen. Aber da waren so komische Nebenwirkungen und das mochte sie nicht – hat Sachen gehört, die nicht da waren und so was."
Und so muss die 18-Jährige die Launen der Mutter eben ertragen: Ist sie manisch, dann fällt ihr jede Menge ein. Dann ist richtig was los bei ihnen zu Hause. In der depressiven Phase sitzt Mama einfach nur auf dem Küchenstuhl, raucht und starrt Löcher in die Luft, erzählt das Mädchen. Sie trägt ihre Wollmütze schräg auf dem Kopf. Das wirkt irgendwie cool und vielleicht auch etwas älter. Das alles täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Isabell Angst um ihre Mutter hat.
Isabell: "Aber ich weiß auch, dass sie nicht irgendetwas machen würde, weil sie weiß, dass wir sie brauchen und das gibt mir eigentlich auch Sicherheit. Aber ich weiß auch, wie es ist, wenn man am Ende ist. Selbstmord. Ich glaube schon, dass man darüber nachdenkt, dass sie auch darüber nachdenkt, so etwas zu tun in irgendwelchen schweren Situationen. Aber ich bin mir eigentlich zu 100 Prozent sicher, dass sie so etwas nicht machen würde."
Isabell zieht beim Reden immer wieder die Ärmel ihres Shirts weit über ihre Handgelenke, damit man die Narben an ihren Unterarmen nicht sieht. Die junge Frau ist inzwischen selbst psychisch erkrankt, leidet an Depressionen. Über die Krankheit der Mutter hat – wie auch bei Franzi und Lisa – weder ein Arzt noch ein Therapeut oder sonst irgendjemand mit ihr gesprochen, sagt Isabell.
Isabell: "Also ich finde, dass Kinder oder Jugendliche einfach von der Krankheit mehr wissen müssen, weil ich denke, dann würde das auch anders aussehen im Alltag. Die Kinder würden verstehen, was mit den Eltern los ist und würden sich zum Beispiel nicht fragen ob sie selber daran schuld sind, dass Eltern so reagieren wie sie reagieren, wenn sie diese Krankheit haben."
Die Kinder werden von der Psychiatrie nicht angemessen versorgt
Behrens: "Ich glaube, die Tendenz ist leider immer noch so, dass oft in der Erwachsenen-Psychiatrie nicht wahrgenommen wird, dass Kinder da sind, die möglicherweise nicht angemessen versorgt werden. Ich glaube, dass eigentlich Partner, Ehepartner, dass die Versorgung von Angehörigen insgesamt sicherlich schon besser geworden ist. Aber die von den Kindern noch nicht."
Sagt Frauke Behrens, Fachärztin für Kinder-und Jugendpsychiatrie. Und sie ist mit ihrer Einschätzung nicht allein. Auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V. kritisiert die unzureichende Unterstützung dieser Kinder. Zwar gibt es lokale Projekte und ehrenamtliche Initiativen, aber das genügt nicht.
Experten verschiedenster Fachrichtungen, die betroffene Kinder behandeln, haben im vergangenen Jahr auf die Mängel in der Versorgung aufmerksam gemacht und die sogenannte Neuköllner Erklärung verabschiedet. Darin fordern sie ein breites Spektrum an Hilfen – wie Erziehungsberatung, familienunterstützende Maßnahmen oder psychotherapeutische Unterstützung – und mehr Zusammenarbeit.
Die Mühlen im politischen Betrieb mahlen allerdings langsam: Außer einigen Anhörungen vor Ausschüssen des Bundestages ist nichts passiert. Erschwerend kommt nach Meinungen von Experten hinzu, dass sowohl die Jugend- und Familienhilfe als auch das Gesundheitswesen gefordert sind. Man müsste also bereichsübergreifend arbeiten. Doch es mangelt an Kooperation der Beteiligten. Und: Kinder haben keine wirkmächtige Lobby.
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In dieser Kinder- und Jugendpsychiatriepraxis treffen sich einmal im Monat 9- bis 13-Jährige mit ihrer Therapeutin Petra Bähre. Es ist eine Therapiegruppe, wie sie auch in der Neuköllner Erklärung gefordert wird. Hier gibt es Antworten auf fast alle Fragen, nichts ist peinlich oder gar doof. Hier wird erklärt, warum man nicht mehr Irrenanstalt sagt und noch jeder Menge andere Aufklärung geleistet.
Bähre:"Was ist denn überhaupt die Seele? Jeder Mensch hat eine Seele, eine Psyche - was ist denn wenn die erkrankt? Was gibt es für verschiedene Krankheiten? Wie können die sich auswirken? Aber dann auch Aufklärungsarbeit in dem Bereich eben, dass die Kinder wissen, die Erwachsenen können sich aber jemanden suchen, wo sie Hilfe bekommen – sprich einen Therapeuten, eine Klinik, medikamentöse Einstellung."
Zu Petra Bähre kommen Kinder auf Rat der behandelnden Kinder- und Jugendpsychiater, aber auch über Mund-zu-Mund-Propaganda. Es hat sich herumgesprochen, dass es hier im niedersächsischen Wunstorf eine solche Gruppe gibt, in der sich die Mädchen und Jungen mal alles von der Seele reden können. Diese Kinder brauchen Hilfe – möglichst bevor ihr Leiden sichtbar wird, erklärt die Therapeutin, präventiv sozusagen, um selber weniger psychische Auffälligkeiten zu entwickeln.
Behrens: "Und den Kindern hilft am meisten, wenn die eine Person an ihrer Seite haben, die sie in ihrem normalen Alltag unterstützt und ihnen als Regulativ hilft: Was ist eigentlich eine normale Wahrnehmung und was ist möglicherweise eine krankhafte Wahrnehmung?"
Wie Kinder und Jugendliche Lebenssituationen mit psychisch erkrankten Eltern bewältigen, hängt von vielen Faktoren ab. Aber gerade diese gesunden Bezugspersonen sind für die Kinder ein Rückhalt, den sie dringend brauchen. Daneben sind ein stabiles Umfeld und ausreichende Unterstützung notwendig, damit sie ein normales Leben führen können. Dazu gehört auch manchmal eine Therapie, so wie bei Franzi.
Franzi: "Mir ging es darum, dass ich das Verhältnis zu meiner Mutter wieder ein bisschen normalisieren kann, weil wir haben in dieser Zeit die Rollen getauscht… ich bin sehr früh erwachsen geworden und mir ging es in der Therapie vor allem darum, dass sich das Verhältnis wieder normalisiert… Wir verstehen uns im Moment wirklich gut und holen das praktisch alles nach, dass wir zusammen auf dem Sofa liegen und irgendwelche Serien gucken oder halt solche Kleinigkeiten. Ich habe das Gefühl, jetzt bin ich doch mal eher mehr die kleine Tochter als ich es früher irgendwann war."
Viele betroffene Kinder sind selbst psychisch auffällig
Lisa, Isabell, Mario und Franzi sind von der Erkrankung ihrer Eltern mitbetroffen und brauchen ebenfalls Hilfe. Das ist für die Psychiaterin Frauke Behrens längst eine Binsenweisheit. Vielfach werden diese Kinder und Jugendlichen leider immer noch nicht wahrgenommen und auch nicht angemessen unterstützt. Fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen psychisch kranker Eltern sind selbst psychisch auffällig - das muss sich ändern.
Behrens: "Ich denke, viele von diesen Kindern oder Jugendlichen sind später sicherlich in der Lage ein normales Leben zu führen. Wenn Sie ausreichend Ressourcen hatten, wenn genügend Ressourcen dagewesen sind, dass sie an ihre eigene Leistungsfähigkeit auch glauben können, dass sie an ihrer Selbstwirksamkeit glauben können, dass sie merken, sie sind in der Lage Beziehungen aufzubauen, Beziehungen zu halten, dass sie sich selber in ihrem selbst weiter entwickeln können - das sind ganz wichtige Voraussetzungen."
* Die Namen der Protagonisten wurden auf Wunsch geändert.
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