Es ist ein zentraler Indikator von Armut in unserem Land, wenn sich eine Familie nicht mindestens einmal im Jahr eine Woche Auszeit außerhalb der eigenen Wohnung leisten können – um sich zu vergnügen oder zu erholen. Das muss gar nicht die teure Flugreise sein, das kann auch eine Reise ins nächste Bundesland sein.
Kinderarmut
In vielen Familien fehlt nicht nur das Geld für einen Urlaub, sondern auch für neue Schuhe. © picture alliance / CHROMORANGE / Andreas Poertner
Wenn das Geld nicht einmal für eine Woche Urlaub reicht
09:06 Minuten
Statt Ferien am Meer bleibt nur der Spielplatz um die Ecke: Jedes fünfte Kind lebt in Armut, den Familien fehlt das Geld für Urlaub. Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen fordert eine Sozialpolitik, die das Wohl der Kinder in den Blick nimmt.
Für viele Kinder sind die Sommerferien die schönste Zeit des Jahres. Sechs Wochen Freiheit: ausschlafen, solange man will, endlich mal wieder einen großen Freizeitpark besuchen und – die Krönung – Urlaub mit der Familie am Meer oder in den Bergen.
Für etwa jedes fünfte Kind in Deutschland fallen die Pläne für die Sommerferien allerdings sehr bescheiden aus, weil sich ihre Eltern eine Reise, und seien es auch nur ein paar Tage, schlicht nicht leisten können. Tatsächlich wachsen rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen hierzulande in armen Verhältnissen auf.
Nicht einmal eine kleine Erholungsauszeit
Das bedeutet für die kommenden Wochen Balkon oder Bolzplatz statt Adria oder Alpen. Und für viele erlaubt das magere Familienbudget als Belohnung für ein langes Schuljahr nicht mal das ersehnte neue Paar Sommersneakers.
Gäbe es nicht hier und da Jugendfreizeiteinrichtungen der Kirche oder gemeinnütziger Vereine und Verbände, die Ferienprogramme auf die Beine stellen, und gäbe es nicht die Möglichkeit, mit dem 9-Euro-Ticket zu Oma und Opa oder für einen Tag an die Ostsee zu fahren, wären die Ferienwochen für manche noch trauriger und einsamer.
Kinder wissen, um was sie nicht bitten dürfen
Die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen, Professorin an der Goethe Universität Frankfurt am Main, beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Situation solcher Familie. Sie sei beeindruckt und berührt davon, welch feines Gespür die Kinder oft schon in jungen Jahren für die beschränkten Möglichkeiten ihrer Eltern entwickelt hätte – und von sich aus gar nicht mehr um etwas bäten.
Dabei gehe es gar nicht so sehr um den übersteigerten Drang, möglichst oft und weit verreisen zu müssen, sondern um Grundlegendes, betont die Forscherin:
Diese Situation werde derzeit – und schon zuvor durch die Coronakrise – vermutlich noch verschärft: Wer schon vorher unter Armut gelitten habe, den würden nun Inflation und stark steigende Energiekosten noch zusätzlich in eine schwierige Lage bringen.
Sorgen um die Zukunft
Das Thema beschäftige sie sehr, sagt Andresen: „Was mich sehr umtreibt, sind Meldungen von Kindern und Jugendlichen in Befragungen, dass sie sich große Sorgen um ihre persönliche Zukunft machen.“ Kinder in Armut seien eindeutig „mit mehr Sorgen und konkreteren Ängsten konfrontiert“ und müssten dies aushalten können.
Die Wissenschaftlerin hält es deshalb für eine der wichtigsten und dringlichsten Maßnahmen, die aktuelle Sozialpolitik stärker an den Bedarfen, an den Rechten und am Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen auszurichten. Es gebe bereits genug profunde Forschung, die zeige, was Kinder für ein gutes und sicheres Aufwachsen benötigten.
Die Bundesregierung tue deshalb gut daran, die Kindergrundsicherung und in diesem Zusammenhang eine Grundberechnung des Existenzminimums voranzutreiben.
(mkn)