Gottfried Schweiger arbeitet zu Fragen der politischen Philosophie am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Seine Forschungsthemen sind u.a. Armut, Migration und Kindheit. Schweiger ist Herausgeber der "Zeitschrift für Praktischen Philosophie" und betreibt den Philosophieblog "Praefaktisch". Sein jüngstes Buch "Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie" ist bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen.
Unfair, leidvoll, schädlich und vermeidbar
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Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat es wieder bestätigt: Kinderarmut im reichen Deutschland ist ein Massenphänomen. Die Coronakrise wird es noch verschärfen. Der österreichische Philosoph Gottfried Schweiger will sich damit nicht abfinden.
Natürlich gibt es echte Kinderarmut auch in Deutschland oder Österreich, selbst wenn das in der Öffentlichkeit immer wieder angezweifelt wird: In Deutschland leben laut Statistik 1,7 Millionen Kinder in Armut, in Österreich 320.000. Die COVID-19-Pandemie und der durch sie ausgelöste wirtschaftliche Abschwung und die steigende Arbeitslosigkeit werden das Problem in den nächsten Jahren verschärfen.
Kinderarmut hängt eng mit sozialer Ungleichheit zusammen, aber sie ist nicht bloße Ungleichheit im Sinne einer neutralen Differenzierung. Es ist wichtig, zu verstehen, dass es hier darum geht, dass arme Kinder nicht einfach weniger besitzen als ihre Altersgenossen, sondern zu wenig haben, um ein ausreichend gutes Leben zu führen.
Armut macht krank und grenzt aus
In Armut aufzuwachsen ist unfair, leidvoll und schädlich. In einer Geldgesellschaft, wo man fast alles kaufen muss, heißt Armut zwangsläufig weniger Dinge zu haben und weniger tun zu können. Da hilft die Beschwichtigungsformel, dass man die wichtigen Dinge im Leben nicht kaufen könnte, rein gar nichts.
Es macht nicht nur keinen Spaß in einer schimmligen Wohnung zu leben oder hin und wieder im Sozialmarkt einkaufen zu müssen oder Hilfe bei den Tafeln zu suchen, sondern das macht auch krank, traurig, depressiv und grenzt aus.
Die Schließungen von sozialen Einrichtungen und Schulen im Zuge der COVID-19-Pandemie hat diese Kinder besonders hart getroffen, da sie zu Hause oft nicht ausreichend Platz oder Unterstützung vorfinden und es droht, dass bestehende Bildungsungleichheiten dadurch zugenommen haben.
Kinderarmut ist ein sozial erzeugtes Phänomen
Kinderarmut ist keine Krankheit, die einen unvermittelt trifft oder eine Naturkatastrophe. Kinderarmut ist ein sozial erzeugtes und stabilisiertes Phänomen – es müsste keine Kinderarmut geben, zumindest nicht in der Form, wie sie heute auch in reichen Ländern wie Deutschland oder Österreich verbreitet ist.
Eben weil Kinderarmut nicht sein muss, ist es paradox, dass sie so achselzuckend geduldet wird und es nur so wenige (politische) Anstrengungen gibt, sie nachhaltig zu beseitigen.
Die effektive Bekämpfung von Kinderarmut wäre auch sinnvoll, um Erwachsenenarmut und intergenerationelle Weitergabe von sozialen Benachteiligungen zu verhindern. Kinder, die in armen Verhältnissen aufwachsen, haben schlechtere Chancen in Bildung und am Arbeitsmarkt und "vererben" später ihren sozialen Status an ihre eigenen Kinder.
Konkrete Lösungsvorschläge
Dazu zwei ganz konkrete Lösungsvorschläge: Die Einführung einer Kindergrundsicherung und/oder eines Elterngehaltes. Beide zielen darauf ab, ausreichend Mittel für das Aufwachsen ohne Armut zur Verfügung zu stellen und würden bestehende Familienförderungen – wie das deutsche Kindergeld oder die Familienbeihilfe in Österreich – ersetzen.
Die Kindergrundsicherung zielt darauf ab, dass für jedes Kind ein ausreichend hoher Geldbetrag von ungefähr 600 Euro pro Monat zu Verfügung gestellt wird – entweder pauschal an alle Kinder oder ausschleifend angepasst an die Höhe des Einkommens der Eltern.
Die Kindergrundsicherung stellt das Kind in den Mittelpunkt und fragt danach, wie viele ökonomische Ressourcen ein Kind benötigt, um ein ausreichend "gutes" Leben zu führen. Die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten, auf deren Konto das Geld auftaucht, treten "nur" als Verwalter auf, die dieses Geld im Sinne ihrer Kinder ausgeben sollen.
Es wäre aber durchaus nicht nötig, dass der Staat hier kontrolliert, wie die Eltern das Geld für ihre Kinder verwenden. Das wird bei bestehenden Familienförderungen ja auch nicht getan.
Modell eines "Elterngehalts"
Das Modell eines "Elterngehalts" hingegen bezieht sich auf den Anspruch, dass Erziehungs- und Fürsorgearbeit eine anstrengende und zeitraubende Tätigkeit ist. Dass diese eine große emotionale Komponente hat – also üblicherweise auch mit Freuden verbunden ist und weitgehend frei gewählt ist – steht dem nicht entgegen, da ja auch viele andere ökonomische Arbeiten diese Kriterien erfüllen.
Es wäre vermutlich fair, wenn diese Erziehungs- und Fürsorgearbeit mindestens auf dem Niveau von leitenden Angestellten bezahlt werden würde. Das könnte sich unsere reiche Gesellschaft durchaus leisten, wir müssen es nur wollen.