Übergewicht hat auch einen "sozialen Aspekt"
Bereits 15 Prozent der Kinder und Jugendliche sind zu dick. Ernährung ist auch eine "soziale Frage", stellt der Kinderarzt Thomas Fischbach fest. Zu überlegen sei, ob nicht besonders gefährdete Familien mit einem Präventionsgesetz gesundheitlich gefördert werden sollten.
Dieter Kassel: 60 Prozent der Erwachsenen in Deutschland sind übergewichtig, jeder vierte gilt sogar als adipös, also krankhaft fettleibig. Besonders beunruhigt allerdings viele auch die Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Da gibt es auch relativ neue Zahlen aus der sogenannten KIGGS-Studie, die besagen, dass 15 Prozent der Kinder in Deutschland auch schon starkes Übergewicht haben. Das ist einer der Gründe, warum heute 15 Ärzteverbände, Krankenkassen und Fachorganisationen der Bundeskanzlerin einen offenen Brief übergeben, in dem Maßnahmen gegen Fehlernährung gefordert werden. Einer der Übergeber ist der Präsident des Verbands der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland, Thomas Fischbach. Der ist jetzt schon unterwegs nach Berlin, er ist aber eigentlich niedergelassener Kinderarzt in Solingen. Ich habe deshalb vor der Sendung mit ihm geredet und angesichts dieser vielen Zahlen, die ja aber eigentlich nur Statistik sind, ihn gefragt, wie er denn dieses Problem in seiner eigenen Praxis erlebt.
Thomas Fischbach: Ich erlebe das Problem jeden Tag mehrfach. Mir kamen die 15 Prozent, die jetzt bei der zweiten Welle der KIGGS-Studie festgestellt worden sind, schon eher niedrig vor. Aber 15 Prozent wären ja allein trotzdem schon viel, denn unter diesen 15 Prozent sind ja auch noch circa sechs Prozent, die adipös, also das heißt, schwer, krankhaft übergewichtig sind. Wir sehen das ja schon jetzt in den Konsequenzen in unseren Praxen. Dicke Kinder, dicke Jugendliche mit einem Body-Mass-Index über 30, die heute schon eine diabetische Stoffwechsellage haben, was es früher überhaupt nicht gab. Hätte ich beispielsweise in meiner Facharztprüfung gesagt, es gäbe den Typ-2-Diabetes, also diesen sogenannten Altersdiabetes im Kinder- und Jugendlichenalter, wäre ich wahrscheinlich durchgefallen. Und heute ist es so, dass es dies gibt.
Es gibt natürlich einen großen Bereich der muskuloskelletalen Probleme, also Muskel- und Knockenerkrankungen, Plattfüße, Rückenschmerzen, Unbeweglichkeit. Aber es gibt auch noch hohen Blutdruck. Das wissen Sie alle, all das, was man so als Metabolisches Syndrom bezeichnet. Aber es hat auch noch eine andere Wirkung, nämlich eine psychosoziale, psycho-emotionale Wirkung. Viele dieser Kinder stehen am Rand, können nicht mitmachen, werden gehänselt, gemobbt und auch in ihrem psychischen Gedeihen, in ihrer psychischen Gesundheit übel traktiert und fürs ganze Leben gehandicapt.
"Eltern wissen nicht mehr, was sie machen können"
Kassel: Aber welche Reaktionen erleben Sie, wenn Sie den Kindern oder auch deren Eltern sagen, Ihr Kind ist nicht im klassischen Sinne krank, es ist einfach stark fehlernährt und übergewichtig – Sie müssen da was machen?
Fischbach: Da erleben Sie die unterschiedlichsten Wahrnehmungen, von Abwehr sowohl der Patienten selber als auch deren Sorgeberechtigten, also Stichwort "Mein Kind isst wie ein Vögelchen, natürlich trinkt er nur Wasser", bis hin schon zur Wahrnehmung einer großen Besorgnis und auch einer Not, wo Eltern auch nicht mehr wissen, was sie machen können, damit ihre Kinder tatsächlich wieder auf einen gesünderen Weg kommen.
Kassel: Das ist tatsächlich etwas, was mich wundert, weil in dieser Diskussion wird ja oft so geredet, bei Kindern und bei Erwachsenen, als müsste man einfach genauer noch darüber aufklären, welche Lebensmittel gesund sind und welche ungesund, wie viel Zucker sie enthalten, wie viel Fett et cetera. Ist es tatsächlich so, dass viele Menschen simpel nicht wissen, dass ein Softdrink in der Regel sehr ungesund ist, dass gewisse Fertiglebensmittel sehr viel Zucker enthalten – ist das wirklich noch in weiten Kreisen unbekannt?
Fischbach: Ja, da tut natürlich auch die Lebensmittelindustrie ihres dazu. Dass also eine Werbung stattfindet für Nahrungsmittel, die irreführend ist – ich erinnere mal an den Joghurt mit 0,1 Prozent Fett, was natürlich erst mal suggeriert, gerade, wenn die Leute "Fett" hören, das ist ja praktisch der Trigger für das Thema Übergewicht. Es wird verschwiegen, wie viel Zucker dann da drin ist. Letztlich und endlich kommt es natürlich auf die Gesamtenergiebilanz an. Die wird halt leider immer wieder verschwiegen, und das ist hier ein Problem.
"Anreiz für die Familien, gesündere Lebensmittel zu kaufen"
Kassel: Das heißt, wenn wir Forderungen hören zum Beispiel nach einer Lebensmittelampel, oder auch in anderer Form nach einfacheren, weniger missverständlichen und einfach verständlichen Deklarationen an Lebensmitteln, dann sagen Sie, das wäre schon mal ein wichtiger Schritt?
Fischbach: Ich denke mal, ob man das jetzt Lebensmittelampel oder wie auch immer nennt, andere Länder machen uns das ja vor. Wir brauchen einfach eine Unterstützung gesünderer Ernährung. Das kann aus unserer Sicht im Wesentlichen dadurch geschehen, dass es einen Anreiz für die Familien gibt, gesündere Lebensmittel auch zu kaufen und zu verwenden. Das heißt natürlich auch, und davor kann man die Augen nicht verschließen, die müssen erschwinglich sein. Das heißt, über die Preisgestaltung wäre so etwas nötig, Stichwort Steuerregelungen, wie sie andere Länder bislang schon getroffen haben, wären eine Möglichkeit. Und natürlich die Kennzeichnung eben eines Nahrungsmittels als gesund.
Kassel: Ich frage mich aber manchmal, wie sehr der Geschmack doch schon so trainiert ist, dass das nicht mehr funktioniert. Es gibt ja auch viele Fernsehsendungen und Beiträge, wo irgendwelche Dinge getestet werden im Zusammenhang mit diesem Thema, und da erlebt man oft, dass gesunde Lebensmittel mit einem normalen, natürlichen Zuckeranteil oder auch völlig ohne, von Menschen, die etwas anderes gewöhnt sind, einfach so empfunden werden, dass sie nicht schmecken.
Fischbach: So ist das.
Kassel: Wie kommt man denn dagegen an? Wenn Sie ein Kind haben, das sagt, mir schmeckt halt nur das, was ungesund ist, wie kommt man dagegen an?
Fischbach: Das ist völlig korrekt, was Sie sagen, Geschmack wird trainiert. Deshalb müssen wir sehr frühzeitig damit beginnen, im Grunde schon nach der Geburt. Wenn halt immer nur süße Dinge auf dem Teller oder im Baby und im Kleinkind landen, dann gewöhnt sich dieses Kind in der Tat an diesen süßen Geschmack. Denken Sie mal an die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zurück, da war Zucker nicht verfügbar. Lange gab es ja auch gar keinen wirklichen, da wurde irgendwie mit anderen natürlichen Mitteln der Geschmack verbessert. Wir müssen die Kinder dahin bringen, eben wieder auch nicht so stark gesüßte Nahrungsmittel als lecker zu empfinden. Das ist die Aufgabe der Eltern, die das Sorgerecht und die Sorgepflicht für ihre Kinder haben, und zwar von Anfang an.
"Verpflichtung gegenüber den Kindern"
Kassel: Nun hat aber die noch relativ neue Landwirtschafts- und Ernährungsministerin Julia Klöckner erst am letzten Wochenende in einem Zeitungsinterview sinngemäß gesagt, sie ist für Maßnahmen, sie ist natürlich für Gesundheit, aber wir leben in einem freien Land, und da kann man am Ende den Menschen nicht vorschreiben, was sie essen. Dem kann man ja eigentlich auch nicht widersprechen, oder?
Fischbach: Sagen wir mal so, ich meine, so frei ist unser Land ja nun weiß Gott auch nicht, dass Sie alles konsumieren dürfen zu jedem Zeitpunkt, wie es Ihnen gefällt. Das ist ja doch eine Mär. Denken Sie mal an Genussmittel und so weiter. Aber Eltern – ich will da noch mal an die Verantwortung appellieren. Was Erwachsene machen, ist in der Tat ihre Sache. Und wenn jetzt meinetwegen ein erwachsener Mensch auf Werbung reinfällt oder weil er einfach sagt, ist mir doch egal, ich will das essen, was ich essen will, da wäre ich der Letzte, der dem das vorschreiben will. Das kann man in der Tat nicht.
Aber Eltern haben eine Verpflichtung, eine Sorgeverpflichtung gegenüber ihren Kindern, und bei dieser Sorgeverpflichtung sehe ich auch die Ernährung einbezogen. Und es ist die Aufgabe der Eltern, ihren Kindern einen guten Start in ein gesundes Leben zu ebnen. Und da sehe ich die Freiheit dann schon zugunsten desjenigen, der dann letztlich Leidtragender ist, eingeschränkt.
Kassel: Ist die Neigung zum Übergewicht, sogar zur Fettleibigkeit, quasi vererbt, also jetzt gar nicht im genetischen Sinne. Ganz einfach, erleben Sie es oft, dass dicke Kinder auch dicke Eltern haben?
Fischbach: Ja, das ist so. Und wir wissen ja inzwischen natürlich auch, dass es bestimmte Familiaritäten gibt bis hin in die Biochemie des Organismus hinein. Das ist richtig. Sie kennen alle die Geschichten, der kann essen, was er will, der bleibt immer dünn, und andere gehen am Kuchen vorbei, die werden dick – das ist natürlich so in der Aussage auch nicht richtig, aber es gibt natürlich schon gewisse Veranlagungen. Ja, das ist so.
Kassel: Ich frage mich zum Schluss noch, wie groß der soziale Aspekt ist. Ich erinnere mich an meine relativ wenigen Besuche in den Vereinigten Staaten, wo ich von Anfang an den Eindruck hatte, es ist ein großer Unterschied, ob man in der Stadt oder auf dem Land da unterwegs ist, aber trotzdem, es gibt nur extrem dicke Menschen, und es gibt wahnsinnig dünne und meistens überwiegend sportliche. Das ist auch wirklich eine Klassenfrage. Und wir erleben das doch auch langsam bei uns. Für die einen ist gesunde Ernährung schon so eine Art Ersatzreligion, und die anderen stopfen alles in sich rein. Ist das auch eine soziale Frage?
Fischbach: Auf jeden Fall. Wir wissen ja auch aus Studienlagen, dass wir das Übergewicht insbesondere im sozial benachteiligten Raum finden, und eben nicht im Bildungsbürgertum. Natürlich gibt es da auch Übergewichtige, das ist völlig klar. Aber insgesamt gesehen hat das einen ganz deutlichen sozialen Aspekt. Was natürlich dann auch wieder zur Folge hat, dass wir uns mal überlegen müssen, ob wir nicht auch gerade eben – Stichwort Präventionsgesetz – da ansetzen müssen und gerade eben diese Familien empowern müssen, Gesundheit verantwortungsvoller wahrzunehmen.
Kassel: Thomas Fischbach, Kinderarzt in Solingen und Präsident des Verbands der Kinder- und Jugendärzte. Er übergibt zusammen mit Vertretern 14 weiterer Ärzteverbände sowie Vertretern von Krankenkassen und Fachorganisationen heute einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin, der zu politischen Maßnahmen gegen Fehlernährung aufruft.
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