Vom Ideal weit entfernt
Sieben bis acht Kinder pro Erzieherin sind laut einer Studie ideal für die Betreuung von Kindergartenkindern. Mecklenburg-Vorpommern hat sich in diesem Jahr gerade mal von 16 auf 15 Kinder pro Erzieherin vorgearbeitet. Damit ist das Bundesland Schlusslicht in der Republik.
Crivitz in Westmecklenburg zählt rund 4.500 Einwohner und zwei Kindertagesstätten, darunter "Uns Lütten". Der zweigeschossige Plattenbau war zu DDR-Zeiten für rund 160 Kinder gedacht. Derzeit sind 204 angemeldet, und die ersten Knirpse sind auch an diesem Dienstagmorgen schon seit sechs Uhr da.
Kurz nach 7.00 Uhr verabschiedet Christian Schröder aus dem Nachbardorf Zapel seine Tochter in die Gruppe. Ist er mit ihrer Betreuung zufrieden?
"Sie ist jetzt schon das dritte Jahr hier. Als Eltern wünscht man sich natürlich immer, dass es vielleicht noch mehr Erzieherinnen wären. Aber realistisch… wenn das finanzierbar ist, ist das in Ordnung. Ich glaube, dass sie gut betreut ist. Sie hat Spaß, sie spielt, sie machen was zusammen, sie lernen viel. Ich bin so zufrieden, wie es jetzt ist."
Die ersten Kinder sitzen an den niedrigen, selbstdeckten Frühstückstischen. Nach dem Pittiplatsch-Gedicht dürfen sie zugreifen. Wer erst im Laufe der nächsten Stunde gebracht wird, könnte auch noch essen. Wer nicht mag, spielt im Nebenraum. Im ganzen Haus steigt der Lärmpegel, liegt aber noch nicht bei den üblichen Höchstwerten, wie sie sonst durch einen Presslufthammer erreicht werden. Denn wenn der Tag normal verläuft, wird Kerstin Gruschinski spätestens ab 10.00 Uhr wieder mindestens 17 Kinder bei sich haben. So, wie ihre Kolleginnen auch.
"Also 17 Kinder im Moment sowieso in der Gruppe, und Maximalspitze ist dann wirklich, dass die Kinder aufgeteilt werden müssen, weil Personal fehlt. Und dann haben wir zu zweit 36 Kinder oder mehr."
Wunsch und Wirklichkeit
Das kommt häufig trotz vieler Überstunden häufig vor, denn von den 24 Erzieherinnen ist immer jemand krank oder im Urlaub. Schon liegt der tatsächliche Betreuungsschlüssel nicht bei 15 Kindergartenkindern pro Erzieherin wie gesetzlich vorgeschrieben, sondern bei 1:18 oder noch ungünstiger. Dabei versteht auch das Crivitzer "Uns Lütten"-Team unter "Betreuung" natürlich nicht, die Kinder nur warm, trocken und satt aufzubewahren, sagt Kerstin Gruschinski:
"Jedes Kind ist anders, kein Kind ist gleich. Betreuung heißt dann für mich, dass man guckt: Welchen Stand hat das Kind und wie kann ich es größtmöglich fördern? Dazu gehört nicht nur, dass ich mit dem Kind arbeite, sondern auch, dass ich die Räumlichkeiten gestalte, dass ich auf das Material gucke, das ich den Kindern zur Verfügung stelle. Dass ich gucke, welches Thema haben die Kinder, dass ich sie beobachte."
Zwölf bis maximal 15 Kinder pro Gruppe – aus ihrer Sicht ideal für eine gute Arbeit, aber illusorisch, sagen Frau Gruschinski und Kolleginnen. Viele von ihnen haben schon zu DDR-Zeiten als Kindergärtnerin gearbeitet – mitunter mit 20-22 Kindern pro Gruppe. Auch anstrengend, aber es war besser zu schaffen, denn die damaligen Kinder seien ausgeglichener gewesen als die Gleichaltrigen heute, erinnert sich Silvia Krienke. Zum anderen muss zwar auch in der kommunalen Kita von Crivitz längst niemand mehr sozialistische Persönlichkeiten formen. Aber:
"Der Eine ist eben im Malerischen besser, der Andere möchte lieber musikalische etwas machen. Da für jedes Kind das Richtige zu finden und es auch richtig zu unterstützen, das ist ja das Schwere heute. Damals wurde eine Beschäftigung gemacht. Da mussten alle an einen Tisch, und wir waren so eine Art Lehrer, sag ich mal. Heute sind wir ja nur Begleiter und wollen das Kind da auffangen, wo es sich befindet, und es fördern bei seinen eigenen Interessen. Und das sind so viele Anforderungen, also Traumwert wäre natürlich zwölf Kinder oder so. Aber ich weiß nicht, ob das realisierbar ist oder jemals passieren wird."
Vorerst jedenfalls nicht, sagt Landessozialministerin Birgit Hesse (SPD).
"Also es ist unbenommen, aber man muss auch sehen, dass das ein deutlicher finanzieller Mehraufwand wäre. Wenn wir eine Absenkung von jetzt 1:15 auf 1:14 nehmen würden, dann sind das nochmal zehn Millionen Euro fürs ganze Land."
Dabei hören die zuständigen Sozialpolitiker regelmäßig noch ganz andere Rufe. Die "Bertelsmann Stiftung" etwa, die regelmäßig die Ausstattung der Kindertagesstätten in den einzelnen Bundesländer vergleicht, empfiehlt maximal sieben bis acht Kinder pro Erzieherin im Kindergartenbereich. Das hätten Bremen und Baden-Württemberg schon erreicht, wie überhaupt der Westen besser dran sei als der traditionell kindergartenreiche Osten der Republik. Mecklenburg-Vorpommern hat sich in diesem Jahr von 16 auf 15 Kinder pro Erzieherin gehangelt, bleibt aber Schlusslicht. Damit ist die Sozialministerin natürlich unzufrieden, aber aus folgendem Grund:
"Worauf wir großen Wert legen, ist das Fachkraftgebot. Wir rechnen also nicht Praktikanten rein oder sonstige Hilfskräfte. / Was andere aber tun? / Genau. Und wir sagen eben, es zählt nur die Fachkraft. Und dadurch haben wir einen anderen Schlüssel auf dem Papier als manch´ andere Bundesländer."
Wenig Zeit für pädagogische Arbeit
Tatsächlich benutzt das Kindertagesförderungsgesetz von M-V nicht den unscharfen "Betreuungsschlüssel", sondern den Begriff "Fachkraft-Kind-Relation". Hilfskräfte könnten durchaus eingestellt werden und wären auch bei "Uns Lütten" im mecklenburgischen Crivitz sehr willkommen. Denn die Hilfe beim langwierige An- und Ausziehen der Jüngsten, beim Spazierengehen, Essen und Wickeln würde den Erzieherinnen mehr Zeit und Nerven für die pädagogische Arbeit lassen. Doch zusätzliche Kräfte polieren die Statistik nicht auf, sondern kosten "nur" Geld. Und das geben die Träger nicht aus.
Dabei werden die Kitas in M-V hervorragend angenommen. Ca. 44.000 Kindergartenplätze sind belegt; 95% des Angebotes. Dazu kommen 21.500-Krippenkinder unter drei Jahren. Auch im Crivitzer "Uns Lütten" gibt es zahlreiche Kleinstkinder-Gruppen. Aber, so Kita-Leiterin Petra Tugend:
"Wir würden uns das wünschen, dass der Erzieherschlüssel gerade im Krippenbereich gesenkt wird, denn da hat sich noch nichts getan. Im Krippenbereich liegen wir immer noch bei 1:6."
Doch heute wäre es schon schön, wenn sie dort landen würden. Doch zumindest bis die Kolleginnen der Mittel- und Spätschicht eintreffen, befassen sich die Krippenerzieherinnen mit je acht Kleinstkindern. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt, dass eine Erzieherin sich maximal um drei Unterdreijährigen kümmert. So weit will diese Erzieherin gar nicht gehen.
"Wenn es ideal laufen würde, aber das ist wahrscheinlich nicht umsetzbar: 1:4 bei Einjährigen. Ab zwei Jahren wäre 1:5 auch ok. Aber das ist halt Wunschdenken. Im Moment sieht´s ja ein bisschen anders aus."
Die Schweriner Sozialministerin Birgit Hesse (SPD) hat dieses Problem der frühkindlichen Bildung und Betreuung durchaus im Blick. Doch es scheint so, als wolle sie sich nicht vorzeitig verkämpfen.
"Wir haben im nächsten Jahr ja Wahlen, und selbstverständlich werden wir versuchen, dieses Thema auch wieder zu setzen. Letztlich wollen wir und sind wir ein Land, das gerade auch junge Familie anziehen soll. Und insofern ganz klar die Aussage: Es wird auch weiterhin politischer Schwerpunkt sein."