Die unglücklichen Vogelmenschen
Die Vögel sehnen sich nach einem anderen Leben, doch dieses neue Leben macht sie faul und träge und einsam. Parallelen zur Menschenwelt sind durchaus beabsichtigt in dem herrlich illustrierten Kinderbuch "Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein".
Da sitzt er, der kleine weiße Vogel: Gelangweilt schaut er von seinen Baum, sein Gesicht wirkt menschlich, statt Flügel hat er Arme und Beine, er trägt eine Hose und Schuhe und er träumt "von einem anderen Leben".
Mit diesen Worten beginnt ein neues Zeitalter, eins, in dem die Vögel Kleider tragen, Fluggeräte entwickeln, Häuser bauen, und ihren Jungen erklären, "was es auf der Welt gibt". Es soll ein schönes Zeitalter sein, ein komfortables, fantasiereiches, eins, nach dem man sich sehnen könnte.
Wären da nicht der Wunsch, Dinge zu haben, die niemand haben kann, der Drang, zu weit zu gehen und andere beherrschen zu wollen und der unkontrollierte Umgang untereinander.
Und so ist kein Vogel glücklich in dieser schönen neuen Welt, sondern einsam und verloren. Man erkennt es in ihren Gesichtern, in ihren traurigen Augen, ihren fetten Bäuchen, ihrer gebückten Haltung und in dem Zwang, alles festzuhalten, mit geballten Fäusten etwa, wenn der Hahn die Pfauenfedern umklammert, die ihn schmücken und auszeichnen sollen, ihn schöner machen sollen als die anderen, in Wirklichkeit aber nur seine verzweifeltes Bedürfnis nach Anerkennung offenbart.
Und da sind die Häuser, die besser sein sollten als die alten Nester, es sind wunderschöne Käfige – aber eben Käfige, in denen jetzt jeder Vogel allein sitzt. Wie sie auch in ihren Flugvehikeln hocken, ballonähnliche Gefährte, die sie abheben lassen, ihnen aber die Bewegungsfreiheit rauben, die sie mal dank ihrer Flügel hatten.
Detailreiche Zeichnungen
Erzählt wird die Geschichte der Vogelmenschen in beeindruckenden schwarz-weißen Bleistiftzeichnungen, die detailreich jede noch so kleine Falte, jede Federspitze, jeden Vogelschnabel abbilden.
Nichts ist dem Mexikanischen Künstlerduo entgangen. Das gedrehte Seil des Ballons nicht, die Metallschrieben im Käfig, der Stoff des Regenschirms - alles wirkt so echt, dass man das Material, aus dem die Dinge bestehen, schon beim Anschauen meint spüren zu können.
Schön ist das. Kunstvoll ohnegleichen. Und es lädt zum Verweilen ein, zum Bewundern. Kein Wunder also, dass das Buch den "5. Internationalen Preis von Compostela für illustrierte Bücher" gewann und jetzt von der Stiftung Buchkunst auf die Shortlist "Die schönsten deutschen Bücher 2015" gewählt wurde.
Die Bilder bestechen durch ihre Bildsprache, wohl auch deshalb ist der Text minimal und nie länger als ein, zwei Zeilen pro Doppelseite. Die Illustrationen kämen auch ohne aus – so realistisch liegt ihnen die bedrückende, düstere Stimmung der Vogelmenschen inne. Jedes Bild zieht einen magisch in den Bann.
Parallelen zur Menschenwelt
Schnell wird auch klar, dass es um Parallelen zu uns Menschen geht – unsere ausufernde Bequemlichkeit, zunehmende Individualität und emotionale Kälte.
Genau das könnte dem Buch zum Verhängnis werden, tut es aber nicht: Denn auf der letzten Seite sieht man wieder einen kleinen Vogel. Freudig breitet er seine Arme aus und wünscht sich, fliegen zu lernen. Zwar hängt dieses Junge noch an einem Seil, aber seine Eltern sind bei ihm, lächelnd und frohgemut begleiten sie die Flugversuche ihres Kindes. Und so hält uns dieses Bilderbuch zwar einen Spiegel vor, aber es verzichtet durch sein wohlwollendes Ende auf einen allzu warnenden, moralinsauren Zeigefinger.
Denn ganz so schwarz und weiß ist das moderne Leben doch nicht. Es sind die Zwischentöne, die Nuancen, die es ausmachen. Und genau davon erzählt dieses wunderbare Bilderbuch eben auch.
Maria Julia Diaz Garrido/David Daniel Álvarez Hernández: Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein
Übersetzt von Lydia Thiessen
aracari Verlag, Zürich 2015
32 Seiten, EUR 14,90
Übersetzt von Lydia Thiessen
aracari Verlag, Zürich 2015
32 Seiten, EUR 14,90