Claudia Gliemann/Regina Lukk-Toompere: "Rotkäppchen, wie geht es dir?"
Monterosa Verlag/Karlsruhe 2020
50 Seiten, 24 Euro
Erzählen kann heilen
06:43 Minuten
Märchen erzählen nicht nur Geschichten, sie machen auch Geschichte. "Rotkäppchen" wurde immer wieder neu interpretiert und gestaltet. Jetzt gibt Claudia Gliemann der Geschichte eine originell-pädagogische Wendung - als Traumabewältigung.
In diesem modernen Märchen "Rotkäppchen, wie geht es dir?" geht es überraschend traditionell los. Neben Rotkäppchen spielt der gute, große Bär die Hauptrolle. Er findet das trostlos weinende Kind im Schnee, baut ihm eine schützende Hütte, bringt ihm Essen und erzählt ihm Geschichten. Bis es die Hütte wieder gesund verlässt, seine schlimme Erfahrung scheinbar verarbeitet hat und nun seinerseits beginnt, Geschichten zu erzählen.
Die Macht der Erinnerungen
Eines Tages dann entdeckt Rotkäppchen im Wald ein zerfallenes Haus und plötzlich kommt die Erinnerung an den grausamen Mord an der Großmutter hoch. Wieder verfällt das Kind in Verzweiflung und wieder umsorgt der Bär es liebevoll. Dieses Mal mit Dingen aus der Vergangenheit – alte Fotos, Zeichnungen, Spielzeug, Schmuck – die helfen sollen, seine verdrängten Erinnerungen zu verarbeiten.
Viele innere und äußere Schritte muss Rotkäppchen machen, um endgültig bei sich anzukommen. Und es lernt durch andere Märchenfiguren, die von ähnlich schweren Schicksalen berichten, dass das Erzählen heilen kann. Bis es gesund genug ist, den Bären zu verlassen und sein eigenes Leben zu beginnen.
Pädagogisches Handbuch für traumatisierte Kinder
Das alles kommt – obwohl psychologisch hochmotiviert und seelisch einfühlsam – total pädagogisch rüber. Jede noch so poetisch erzählte Passage ist mit Bedeutung aufgeladen und könnte aus einem Handbuch für Eltern traumatisierter Kinder stammen.
Rotkäppchen wird vom liebevollen Bären mit so viel Verständnis und guten Ratschlägen versorgt, dass wirklich jeder begreift, worum es geht: um eine Schlüsselgeschichte über Verdrängung und Vertrauen, Schmerzen und Scheitern, Hinfallen und Aufstehen. Höher kann man den pädagogischen Zeigefinger nicht heben – zumal die Botschaft im Nachwort dann noch einmal mitgeteilt wird.
Präzise und nuancenreich illustriert
Die Bilder von Regina Lukk-Toompere dagegen sind eine Entdeckung! Sie sind präzise und nuancenreich, egal, ob es sich um Pflanzen und Tiere dreht oder den starken emotionalen Ausdruck in Mimik oder Bewegung der Figuren.
Die Künstlerin liebt Atmosphärisches: die Geborgenheit der Idylle oder die Kälte der Einsamkeit. Sie zelebriert die kleinen Dinge, das altmodische Interieur, die knallroten Mohnblumen – eine Art flammendes Leitmotiv des Buches.
Emotionen drücken sich auch in den Farben aus: Wie die grau-weiß-schwarzen Doppelseiten sich mit der Seele des Kindes langsam bunter färben, wie sie zarteste Zeichnung gegen harte Flächen setzt, wie sie in Farben schwelgt und dann wieder ins schmerzhaft triste Grau zurückkehrt, das ist einfühlsam, kindgerecht und künstlerisch gestaltet.
Regina Lukk-Toomperes Bilder wollen – im Gegensatz zum Text – nichts (be-)deuten oder erklären, sondern nur eine Geschichte erzählen. Und das macht sie so stark!