Anne-Margot Ramstein und Matthias Aregui: "Vorher Nachher"
Jacoby & Stuart, Berlin 2016
166 Seiten, 19,95 Euro
(Ab 4 Jahren)
Vom Verrinnen der Zeit
Originelle Bilderpaare, die poetisch den Lauf der Zeit zeigen, bietet das französische Kinderbuch "Vorher Nachher". Beim Betrachten ist das Kopfkino gefragt.
Das Bild auf der linken Seite zeigt zwei Schwalben nebeneinander auf einer Hochspannungsleitung sitzend. Über ihnen erstreckt sich ein endloser blauer Himmel. Im Bild auf der rechten Seite sind der gleiche Strommast und die gleichen Leitungen zu sehen. Statt der Schwalben aber wirbeln braune Blätter durch die Luft. Und in dem diesmal zart rosafarbenen Himmel sind zwei kleine blaue Pünktchen zu erkennen: Vögel, schon in weiter Ferne. Es sind die Schwalben auf dem Weg nach Süden.
So einfach, so prägnant und auch so poetisch stellen Anne-Margot Ramstein und Matthias Aregui das Verrinnen von Zeit dar. Eben noch war Sommer, nun lauert schon der Winter.
"Vorher Nachher" ("Avant Après") haben die beiden französischen Illustratoren ihr originelles Kinderbuch genannt. Darin präsentieren sie mit vielen ideenreich zusammengestellten Bilderpaaren Situationen, die sich im Lauf der Zeitverändern.
Wie das eine auf das andere folgt
Da wird aus einem Eisblock eine Pfütze, aus einer knallig gelben Sonne ein weißlicher Mond, aus einer Knospe eine Blüte. So lernen Kinder ab vier Jahren eindrücklich, wie das eine auf das andere folgt. Doch geht es Ramstein und Aregui nicht nur um die Chronologie, sondern auch um kausale Zusammenhänge.
Etwa, wenn sie ein glücklich auf der Weide schmatzendes Schaf mit einem Wollknäuel paaren und zwei Seiten weiter Stricknadeln zeigen, denen ein spielendes Kind mit knallroter Mütze gegenübersteht. Das eine hat etwas mit dem anderen zu tun. Das wird hier unmissverständlich klar.
Es sind profane, alltägliche Situationen, die die beiden Zeichner in einfachen, mit dem Computer gestalteten Bildern inszenieren. Auf einen einfarbigen Hintergrund – oft in Pastelltönen gehalten – setzen sie ihre flächigen Szenerien, wenige Striche markieren den Umriss der Objekte, wenige Farben füllen die Flächen. So kann sich der Betrachter ganz auf die Geschichten konzentrieren.
Hier ist Kopfkino gefragt
Die allerdings muss er sich selber erzählen. Was bedeutet es wohl, wenn links im Bild ein Schaukelpferd steht und rechts stattdessen ein Schaukelstuhl? Und warum ist der Bauernhof einmal belebt und dann verfallen? Was mag da passiert sein?
Und wieso sehen wir hintereinander zunächst eine karge Vulkanlandschaft, dann einen Dschungel, dann einen Affen und schließlich ein Hochhaus, auf dem der Primat turnt?
Hier ist Kopfkino gefragt. Zumal sich im gesamten Buch kein einziger Text findet. Ramstein und Aregui vertrauen allein auf die Macht ihrer Bilder und damit auf die Kraft der Fantasie. Humor haben die mit dem Bologna Ragazzi Award 2015 ausgezeichneten Illustratoren auch. Da steht einer Steinschleuder ein zerbrochenes Fenster gegenüber und einem Ei ein Huhn und dem wiederum ein Ei.
Es macht große Freude, dieses Buch zu studieren und quasi nebenbei zu lernen, dass Dinge in Beziehung zueinander stehen und dass das Leben im Fluss ist. Nichts bleibt wie es ist, oder um es philosophisch mit den Worten der jungen Leserin zu sagen, die das Buch zusammen mit der Rezensentin betrachtete: "Nichts ist, wie es bleibt".